OLG Hamm, Beschluss vom 06.11.2017 - 1 RVs 88/17 + 1 Ws 491/17
Fundstelle
openJur 2019, 10051
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. 17 Cs 80/16

1. Hat das Revisionsgericht eine nach allgemeinem Strafrecht erfolgte Verurteilung wegen einer der von einer Heranwachsenden begangenen Taten und daher auch den Gesamtstrafenausspruch des ursprünglichen Urteils aufgehoben, ist in diesem Umfang auch dann eine neue Entscheidung über die eventuelle Anwendung des Jugendrechts gemäß § 105 JGG erforderlich, wenn die im Übrigen - nach allgemeinem Strafrecht - verhängten Einzelstrafen rechtskräftig und die diesbezüglichen Feststellungen bindend geworden sind (vgl. BGH, Beschluss vom 15.03.2005 - 4 StR 67/05 -, juris).

2. Strafzumessungserwägungen, nach denen die Angeklagte "keine irgendwie geartete Einsicht in das Unrecht ihres Tuns" habe erkennen lassen und "an keiner Stelle irgendwie auch nur das geringste Bedauern gegenüber dem geschädigten Zeugen geäußert" habe, lassen besorgen, dass dem Fehlen von Strafmilderungsgründen eine strafschärfende Bedeutung beigemessen worden ist.

3. In Fällen, in denen dem Tatgericht bei der Bildung der Gesamtfreiheitsstrafe "echte Zumessungsfehler" unterlaufen sind (vgl. BGH, Beschluss vom 17.08.2005 - 2 StR 6/05 -, juris) bzw. eine tatrichterliche Neubewertung der Zumessungsgesichtspunkte erforderlich ist, ist eine Verweisung gemäß § 354 Abs. 1b S. 1 StPO auf eine Entscheidung im Beschlusswege gemäß §§ 460, 462 StPO auch nach Auffassung des Senats in der Regel ungeeignet.

Tenor

Das angefochtene Urteil wird im Ausspruch über die Gesamtstrafe aufgehoben.

Die weitergehende Revision wird verworfen; jedoch wird der Tenor des angefochtenen Urteils klarstellend dahin berichtigt, dass die Angeklagte der tätlichen Beleidigung (statt: "tätlicher Beleidigung als Heranwachsende") in drei Fällen schuldig ist.

Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts - Jugendrichter - Lünen zurückverwiesen.

Die sofortige Beschwerde der Angeklagten ist gegenstandslos.

Gründe

I.

Die Angeklagte ist am 20.06.2016 durch das Amtsgericht - Jugendrichter - Lünen wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung - geahndet mit einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen - sowie zweifacher Beleidigung - geahndet jeweils mit einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen - zu einer Gesamtgeldstrafe von 65 Tagessätzen zu je 10,00 Euro verurteilt worden.

Auf die hiergegen gerichtete Revision der Angeklagten hat der Senat mit Beschluss vom 10.11.2016 (III-1 RVs 82/16) das angefochtene Urteil im Schuldspruch und im Rechtsfolgenausspruch bezüglich der Verurteilung wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung unter Aufrechterhaltung der Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen sowie im Ausspruch über die Gesamtstrafe mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben. Die weitergehende Revision ist mit der klarstellenden Berichtigung verworfen worden, dass die Angeklagte der zweifachen tätlichen Beleidigung schuldig ist.

Sodann hat das Amtsgericht Lünen, an das die Sache im Umfang der Aufhebung zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen worden war, die Angeklagte am 21.06.2017 wegen "tätlicher Beleidigung als Heranwachsende in 3 Fällen" zu einer Gesamtgeldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 10,00 Euro verurteilt, wobei für die nunmehr erstmals als solche abgeurteilte dritte tätliche Beleidigung ebenfalls eine Einzelgeldstrafe von

15 Tagessätzen verhängt worden ist und der Angeklagten die gesamten Kosten des Verfahrens auferlegt worden sind.

Gegen dieses Urteil wendet sich die Angeklagte mit einem rechtzeitig eingelegten Rechtsmittel, das sie nach Zustellung des Urteils innerhalb der Revisionsbegründungsfrist als Sprungrevision bezeichnet und mit den Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts begründet hat. Überdies wendet sie sich mit einer zugleich eingelegten sofortigen Beschwerde gegen die Kostenentscheidung des angefochtenen Urteils.

Die Generalstaatsanwaltschaft Hamm hat beantragt, beide Rechtsbehelfe als unbegründet zu verwerfen.

II.

Die Revision der Angeklagten ist zulässig und hat teilweise - zumindest vorläufig - Erfolg. Im Umfang der Aufhebung war die Sache nach § 354 Abs. 2 StPO zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Lünen zurückzuverweisen. Die weitergehende Revision war

- neben der Berichtigung des Tenors des angefochtenen Urteils - nach § 349 Abs. 2 StPO als offensichtlich unbegründet zu verwerfen.

1.

Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat - wie bereits die Generalstaatsanwaltschaft Hamm in ihrer Zuschrift vom 06.10.2017 zutreffend ausgeführt hat - auch unter Berücksichtigung der Rüge eines vermeintlich fehlenden Hinweises gemäß § 265 Abs. 1 StPO hinsichtlich des Schuldspruchs keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben.

Allerdings war der Tenor des angefochtenen Urteils zu berichtigen, insofern der Umstand, dass die Angeklagte die verfahrensgegenständlichen Taten als Heranwachsende (§ 1 Abs. 2 JGG) begangen hat, weder zu der rechtlichen Bezeichnung dieser Taten gemäß § 260 Abs. 4 S. 1 StPO noch zu den nach § 260 Abs. 4 S. 3, S. 4 StPO in die Urteilsformel aufzunehmenden Rechtsfolgen gehört (allg. vgl. Meyer-Goßner in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl.,

§ 260 Rn. 20 ff., m.w.N.).

2.

Auch der Rechtsfolgenausspruch hält rechtlicher Überprüfung noch stand, soweit es die Zumessung der Einzelgeldstrafe für die dritte, nunmehr erstmals abgeurteilte tätliche Beleidigung betrifft.

a. Zwar beanstandet die Revision zutreffend, dass - was hier schon auf die Sachrüge zu beachten war - die Anwendung von Erwachsenenrecht für diese von der Angeklagten als Heranwachsende begangene Tat insofern nicht hinreichend nachvollziehbar begründet worden ist, als auf den in der Hauptverhandlung gewonnenen Eindruck von der Angeklagten sowie eine Stellungnahme der Jugendgerichtshilfe abgestellt worden ist, ohne diesen Eindruck oder den Inhalt dieser Stellungnahme zumindest ansatzweise wiederzugeben, wozu schon deshalb Anlass bestanden hätte, da sich die Angeklagte in der erneuten Hauptverhandlung weder zur Person noch zur Sache überhaupt eingelassen hat. Einer eigenständigen Prüfung des § 105 Abs. 1 JGG sowie der diesbezüglichen Darstellung war das Amtsgericht hinsichtlich der dritten Tat auch nicht deshalb enthoben, weil die (auch) den Schuld- und Strafausspruch hinsichtlich der beiden übrigen Taten tragenden Feststellungen bereits bindend geworden waren. Denn die Annahme oder Nichtannahme der Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 JGG ist selbst keine Feststellung, sondern das Ergebnis eines Wertungsakts und nimmt deshalb an dieser Bindungswirkung nicht teil (vgl. BGH, Beschluss vom 15.03.2005 - 4 StR 67/05 -, juris, m.w.N.).

Der Senat schließt jedoch entsprechend der auch insofern zutreffenden Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft aus, dass das angefochtene Urteil auf diesem Rechtsfehler beruht (§ 337 StPO). Denn nach der im ersten Urteil - wie der Senat durch seine Entscheidung vom 10.11.2016 bestätigt hat - hinsichtlich der beiden übrigen tätlichen Beleidigungen rechtsfehlerfrei getroffenen Wertung, dass insoweit allgemeines Strafrecht zur Anwendung gelangt, hätte dem neu zur Entscheidung berufenen Jugendrichter auch dann, wenn er hinsichtlich der dritten Tat Jugendrecht angewandt hätte, nur noch die Prüfung offen gestanden, ob das Schwergewicht aller Taten bei dieser einen (möglicherweise) nach Jugendrecht beurteilten Tat liegt (§ 32 S. 1 JGG). Da das Amtsgericht ausdrücklich und rechtsfehlerfrei im Rahmen der konkreten Strafzumessung ausgeführt hat, dass hinsichtlich der dritten, durch den Wurf mit einer brennenden Zigarette aus einer Entfernung von 7 bis 10 Metern begangenen tätlichen Beleidigung kein messbar größerer Unrechtsgehalt zu erkennen ist als bei den beiden kurz zuvor durch den Wurf von halbgefüllten Plastikbechern aus gleicher Entfernung verübten Taten, kann es der Senat als fernliegend ausschließen, dass das Amtsgericht bei einer entsprechenden Prüfung gleichwohl das Schwergewicht bei der dritten Tat gesehen hätte, zumal nach dem in § 32 S. 2 JGG zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzes bei verbleibenden Zweifeln allgemeines Strafrecht zur Anwendung gelangen soll (vgl. BGH, a.a.O., m.w.N.).

b. Des Weiteren bestehen zwar durchgreifende rechtliche Bedenken gegen die im Rahmen der Gesamtstrafenbildung erfolgten, grundsätzlich aber auch schon für die Bemessung der dritten Einzelstrafe relevanten Erwägungen, dass die Angeklagte "keine irgendwie geartete Einsicht in das Unrecht ihres Tuns" habe erkennen lassen und "an keiner Stelle irgendwie auch nur das geringste Bedauern gegenüber dem geschädigten Zeugen geäußert" habe, insofern diese Formulierungen Anlass zu der Besorgnis geben, dass dem Fehlen von Strafmilderungsgründen eine strafschärfende Bedeutung beigemessen worden ist (vgl. BGH, Beschluss vom 10.01.2017 - 4 StR 521/16 -, juris, m.w.N.).

Doch auch dieser Rechtsfehler führt hier nicht zur Aufhebung der dritten Einzelstrafe, weil der Senat auch insofern ein Beruhen ausschließen kann. Denn im Rahmen der konkreten Zumessung dieser Einzelstrafe hat das Amtsgericht als wesentlichen Gesichtspunkt einzig und insofern - wie bereits ausgeführt - rechtsfehlerfrei hervorgehoben, dass hinsichtlich der dritten tätlichen Beleidigung kein messbar größerer Unrechtsgehalt zu erkennen ist als bei den beiden zuvor verübten Taten (bei deren Ahndung ebenfalls kein Geständnis hatte strafmildernd in Ansatz gebracht werden können), und daher folgerichtig auch die dritte Tat mit einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen zu je 10,00 Euro belegt. Der Senat kann daher mit der erforderlichen Sicherheit ausschließen, dass sich die vorgenannten fehlerhaften Erwägungen zur Gesamtstrafenbildung im Ergebnis schon auf die Bemessung der dritten, ohnehin moderat aus dem unteren Bereich des gesetzlichen Strafrahmens geschöpften Einzelgeldstrafe ausgewirkt haben.

3.

Letzteres gilt hingegen nicht für den daher aufzuhebenden Ausspruch über die Gesamtstrafe, bei deren Begründung das Amtsgericht die vorbezeichneten fehlerhaften Zumessungserwägungen ausdrücklich angestellt hat. Da sich die ausgeurteilte Gesamtstrafe bereits im obersten Bereich des überhaupt zur Verfügung stehenden Gesamtstrafenrahmens bewegt, kann der Senat nicht ausschließen, dass die Kammer bei rechtsfehlerfreier Prüfung eine niedrigere Gesamtgeldstrafe verhängt hätte.

Da die Gesamtstrafe lediglich wegen eines Wertungsfehlers aufgehoben wird, können - auch im Blick auf die rechtskräftigen Einzelstrafaussprüche - die zugehörigen Feststellungen bestehen bleiben. Ergänzende, nicht widersprechende Feststellungen durch den neuen Tatrichter sind möglich.

4.

Der Senat hat nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, nach § 354 Abs. 1b S. 1 StPO den neuen Tatrichter auf eine Entscheidung im Beschlusswege gemäß §§ 460, 462 StPO zu verweisen. In Fällen, in denen - wie hier - dem Tatgericht bei der Bildung der Gesamtfreiheitsstrafe "echte Zumessungsfehler" unterlaufen sind (so BGH, Beschluss vom 17.08.2005 - 2 StR 6/05 -, juris; Franke in: LR-StPO, 26. Aufl., § 354 Rn. 59; Gericke in: KK-StPO, 7. Aufl.,

§ 354 Rn. 21i; Meyer-Goßner in: Meyer-Goßner, a.a.O., § 354 Rn. 31; Wohlers in: SK-StPO) bzw. eine tatrichterliche Neubewertung der Zumessungsgesichtspunkte erforderlich ist (vgl. Temming in: HK-StPO, 5. Aufl., § 354 Rn. 25; Wiedner in Graf (Hrsg.), StPO, 2. Aufl., § 354 Rn. 84; weitergehend wohl Momsen in: Satzger/Schluckebier/Widmaier (Hrsg.), StPO, 2. Aufl., § 354 Rn. 51: bei der Notwendigkeit neuer Feststellungen), ist dieses Beschlussverfahren auch nach Auffassung des Senats in der Regel ungeeignet. Auch waren die Voraussetzungen einer hier nach § 354 Abs. 1b S. 2, Abs. 1, Abs. 1a StPO möglichen eigenen Sachentscheidung des Senats nicht erfüllt.

Bei dem daher veranlassten Vorgehen gemäß § 354 Abs. 2 S. 1 StPO bestand kein Grund für die von der Angeklagten beantragte Verweisung an ein anderes Gericht. Insbesondere enthält die Geschäftsverteilung des Amtsgerichts Lünen entgegen der Darstellung der Angeklagten mit der Bestimmung der jeweiligen Vertreter zu den bei einer Zurückverweisung zur Entscheidung berufenen Richtern und mit der vorherigen Benennung auch von Ersatzvertretern eine Regelung, die auch bei zweimaliger Zurückverweisung entsprechend dem Sinn des § 354 Abs. 2 S. 1 StPO grundsätzlich geeignet ist, eine erneute Entscheidung durch einen der Richter zu vermeiden, die schon an den teilweise aufgehobenen Urteilen mitgewirkt haben (vgl. Gericke in: KK-StPO, a.a.O.,

§ 354 Rn. 29), wobei die Zurückverweisung an einen anderen Spruchkörper desselben Gerichts ohnehin nicht ausschließt, dass etwa wegen besonderer Bestimmungen eines Geschäftsverteilungsplans oder infolge einer Änderung der Geschäftsverteilung im Einzelfall doch wiederum dieselben Richter bei einer neuen Entscheidung mitwirken (vgl. Gericke in: KK-StPO, a.a.O., Rn. 30, m.w.N.).

III.

Die grundsätzlich gemäß § 464 Abs. 3 S. 1 StPO statthafte sofortige Beschwerde der Angeklagten gegen die Kostenentscheidung des Urteils des Amtsgerichts Lünen vom 21.06.2017 ist gegenstandslos, da mit der teilweisen Aufhebung der Hauptentscheidung der angefochtenen Kostenentscheidung als bloßem Annex hier ohnehin die Grundlage entzogen ist (vgl. Gieg in: KK-StPO, a.a.O., § 464 Rn. 14; Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 464 Rn. 20, jew. m.w.N.).