OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 31.10.2016 - 19 B 1188/15
Fundstelle
openJur 2019, 8488
  • Rkr:
Verfahrensgang

In den Fällen des nach § 25 Abs. 4 Satz 1 JuSchG gesetzlich angeordneten Sofortvollzugs im Sinn des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers nur, wenn die angefochtene Indizierung offensichtlich rechtswidrig ist oder seinem Aussetzungsinteresse aus sonstigen besonderen und gewichtigen Gründen ausnahmsweise der Vorrang vor dem öffentlichen Vollzugsinteresse einzuräumen ist.

Tenor

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,00 Euro festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde ist gemäß § 146 Abs. 1 und 4 VwGO zulässig, aber unbegründet. Der Senat prüft nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO nur die fristgerecht dargelegten Gründe. Diese rechtfertigen keine Änderung des angefochtenen Beschlusses, mit dem das Verwaltungsgericht den Aussetzungsantrag des Antragstellers nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen die Indizierung seiner CD "T. " mit Entscheidung Nr. 6055 der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) vom 9. April 2015 abgelehnt hat.

Im Ausgangspunkt folgt der Senat zunächst dem Maßstab, den das Verwaltungsgericht für die hier vorzunehmende Interessenabwägung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO angelegt hat. Wegen des in § 25 Abs. 4 Satz 1 JuSchG gesetzlich angeordneten Sofortvollzugs hat es zutreffend geprüft, ob die angefochtene Entscheidung offensichtlich rechtswidrig ist oder ob dem privaten Aussetzungsinteresse des Antragstellers aus sonstigen besonderen und gewichtigen Gründen ausnahmsweise der Vorrang vor dem öffentlichen Vollzugsinteresse einzuräumen ist. Dieser Maßstab entspricht demjenigen der höchstrichterlichen und obergerichtlichen Rechtsprechung, die in den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO ebenfalls darauf abstellt, ob im konkreten Einzelfall besondere individuelle Umstände vorliegen, die eine diesen Vorrang ausnahmsweise überwindende Eilentscheidung rechtfertigen.

BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2003 - 1 BvR 2025/03 -, NVwZ 2004, 93, juris, Rdn. 21 (Finanzdienstleistungsaufsicht); BVerwG, Beschluss vom 14. April 2005 - 4 VR 1005/04 -, BVerwGE 123, 241, juris, Rdn. 12 (Flughafen Berlin-Schönefeld); OVG NRW, Beschlüsse vom 17. September 2014 - 19 B 985/14 -, NVwZ-RR 2015, 34, juris, Rdn. 3 m. w. N. (Schulordnungsmaßnahme), und vom 22. August 2013 - 12 B 794/13 -, juris, Rdn. 7 (§ 88 Abs. 4 SGB IX).

In seiner Beschwerdeschrift erhebt der Antragsteller keine konkreten Einwände gegen diesen Eilentscheidungsmaßstab des Verwaltungsgerichts, sondern wirft ihm lediglich pauschal vor, es habe "grundlegend falsch" entschieden und den "Eilrechtsschutz für Fälle besonders fehlerhaften Behördenhandelns faktisch abgeschafft". Diese These stützt er auf eine Reihe ganz offensichtlicher Fehlinterpretationen des angefochtenen Beschlusses, insbesondere diejenigen, das Verwaltungsgericht habe "seine Entscheidung im Wesentlichen damit [begründet], dass ... eine Anhörung des Antragstellers ... nicht erfolgt sei", und sich "nicht in der Lage [gesehen], über die offensichtliche Rechtswidrigkeit zu entscheiden." Tatsächlich hat das Verwaltungsgericht eine offensichtliche Rechtswidrigkeit am Maßstab der vorzitierten Grundsätze verneint und ausdrücklich ausgeführt, dass der Antragsteller hinreichende Gelegenheit zur Stellungnahme im Sinn des § 21 Abs. 7 JuSchG hatte, weil er alleiniger Geschäftsführer derjenigen GmbH ist, an welche die BPjM den Indizierungsantrag und ihre Terminsnachricht vom 2. März 2015 gerichtet hat (S. 3 des Beschlussabdrucks).

Innerhalb der mit dem 9. November 2015 abgelaufenen Beschwerdebegründungsfrist hat der Antragsteller keine direkt gegen die vorläufige materiellrechtliche Würdigung des Verwaltungsgerichts gerichtete Rüge erhoben, die BPjM habe die indizierte CD nachvollziehbar als jugendgefährdend im Sinn des § 18 Abs. 1 Satz 1 JuSchG eingestuft, weil in den Liedtexten gewaltbereite, kriminelle und diskriminierende Verhaltensweisen als nachahmenswerte Verhaltensmuster geschildert würden (S. 4 und 5 des Beschlussabdrucks). Seine materiellrechtlichen Rügen in seiner am 10. Oktober 2015 eingegangenen Beschwerdeschrift erschöpfen sich in Angriffen gegen die Abwägung zwischen Jugendschutz und Kunstfreiheit ("3.3 Kontrollkompetenz und Abwägungsdefizit"). Die vorläufige Bejahung des Tatbestandsmerkmals der Jugendgefährdung in § 18 Abs. 1 Satz 1 JuSchG, die den Kern der Beschlussbegründung des Verwaltungsgerichts ausmacht, kritisiert der Antragsteller allenfalls indirekt und abstrakt, indem er den Maßstab des gefährdungsgeneigten Jugendlichen als unzutreffend bezeichnet und verlangt, man müsse auf den "gefährdungsgewöhnten" Jugendlichen abstellen ("3.5 Gefährdungsgeneigter Jugendlicher"). Diese Kritik ist unbegründet, denn es entspricht der ständigen Rechtsprechung, die Eignung zur Jugendgefährdung im Sinn des § 18 Abs. 1 Satz 1 JuSchG am Empfängerhorizont eines sog. "gefährdungsgeneigten Minderjährigen" zu beurteilen.

BVerfG, Beschluss vom 27. November 1990 - 1 BvR 402/87 -, BVerfGE 83, 130, juris, Rdn. 51 (Mutzenbacher); BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 1971 - I C 31.68 -, BVerwGE 39, 197, juris, Rdn. 25; VG Köln, Urteil vom 2. September 2016 - 19 K 3287/15 -, juris, Rdn. 52; Roll, in: Nikles, Roll, Spürck, Erdemir, Gutknecht, Jugendschutzrecht, 2011, § 18 JuSchG, Rdn. 4; ebenso zu § 5 Abs. 1 JMStV BayVGH, Urteil vom 23. März 2011 - 7 BV 09.2512 u. a. -, NJW 2011, 2678, juris, Rdn. 50.

Auch die vom Antragsteller angeführte erstinstanzliche Rechtsprechung stützt nicht seine Forderung, man müsse auf den "gefährdungsgewöhnten" Jugendlichen abstellen.

VG Köln, Urteil vom 17. Februar 2006 - 27 K 6557/05 -, juris.

In diesem Urteil hat das Verwaltungsgericht vielmehr ebenfalls den vorgenannten Maßstab des gefährdungsgeneigten Jugendlichen angewendet (Rdn. 46).

Ohne Erfolg bleibt weiter die materielle Rüge des Antragstellers, "mit der gefestigten Rechtsprechung" sei "mangels Ermittlung der maßgeblichen Sachlage" "von einem Abwägungsdefizit auszugehen", insbesondere habe das Verwaltungsgericht die Jugendgefährdung maßgeblich auf eine Textzeile eines Drittkünstlers auf der indizierten CD gestützt, ohne diesen zum Termin geladen oder sonst angehört zu haben. Hierin hat das Verwaltungsgericht für das Eilverfahren zu Recht kein offensichtliches Ermittlungsdefizit gesehen, weil die BPjM den Antragsteller zumindest in seiner Eigenschaft als Geschäftsführer der C. mbH angehört und ihm Gelegenheit gegeben hat, sowohl am Termin des Zwölfergremiums teilzunehmen als auch rechtzeitig die ladungsfähigen Anschriften weiterer beteiligter Künstler mitzuteilen. Da der Antragsteller von beiden Möglichkeiten keinen Gebrauch gemacht hat, durfte das Verwaltungsgericht die abschließende Klärung des Vorliegens eines Ermittlungs- und Abwägungsdefizits dem Hauptsacheverfahren vorbehalten. Für das Eilverfahren hat es dessen Vorliegen unterstellt, hierin aber keinen offensichtlichen Rechtsfehler im eingangs beschriebenen Sinn gesehen, weil es das unterstellte Defizit als im Hauptsacheverfahren behebbar angesehen hat. Insofern hat es im vorliegenden Eilrechtsstreit mit vertretbaren Gründen eine andere Abwägung der widerstreitenden Vollziehungsinteressen vorgenommen als der Senat in dem Einzelfall, der seinem Beschluss 19 B 463/14 vom 3. Juni 2015 zugrunde lag. Die Beantwortung der Rechtsfrage nach der gerichtlichen Kontrolldichte behält der Senat ebenfalls dem Hauptsacheverfahren vor.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus §§ 47, 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG. Die Bedeutung der Aufnahme in die Liste jugendgefährdender Medien für den Antragsteller, auf die es nach diesen Vorschriften für die Streitwertfestsetzung ankommt, bemisst der Senat mit dem Auffangwert nach § 52 Abs. 2 GKG.

OVG NRW, Beschlüsse vom 24. Oktober 2016 - 19 A 1467/15 -, juris, vom 1. April 2015 - 19 A 3039/11 -, juris, Rdn. 20.

In Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes setzt der Senat im Anschluss an Nr. 1.5 Satz 1 des Streitwertkataloges in der Regel die Hälfte des Streitwertes des Hauptsacheverfahrens fest.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 66 Abs. 3 Satz 3, 68 Abs. 1 Satz 5 GKG).