FG Düsseldorf, Urteil vom 13.03.2018 - 13 K 3024/17 E
Fundstelle
openJur 2019, 5936
  • Rkr:
Tenor

Die Einkommensteuer für 2014 wird unter Änderung des Einkommensteuerbescheids vom 13.07.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 23.10.2017 auf den Betrag festgesetzt, der sich unter Berücksichtigung von Aufwendungen i. H. von 20.649 Euro als weitere außergewöhnliche Belastung ergibt. Die Berechnung wird dem Beklagten übertragen.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Die Revision wird zugelassen.

Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht der Kläger zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leistet

Tatbestand

Streitig ist die Abzugsfähigkeit von Prozesskosten als außergewöhnliche Belastung.

Der Kläger ist Vater einer am 23.01.2012 geborenen Tochter. Seit dem 21.06.2012 leben er und seine frühere Ehefrau, die Mutter seiner Tochter, dauernd getrennt. Im Jahr 2014 (Streitjahr) erzielte er einen Bruttoarbeitslohn i.H. von 56.586 Euro. In seiner Einkommensteuererklärung gab er u.a. Aufwendungen i.H. von 21.461 Euro als außergewöhnliche Belastung an. Dabei handelte es sich um Krankheitskosten, Aufwendungen für Fahrten zu Ärzten sowie Prozesskosten.

Der Beklagte (das Finanzamt - FA -) berücksichtigte im Einkommensteuerbescheid vom 28.04.2017 lediglich die Krankheitskosten als außergewöhnliche Belastung und erläuterte, die Prozesskosten könnten gemäß § 33 Abs. 2 Satz 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) nicht berücksichtigt werden, da der Kläger nicht nachgewiesen habe, inwieweit die Existenzgrundlage gefährdet gewesen sei.

Gegen diesen Bescheid legte der Kläger Einspruch ein und führte u.a. aus, es handele sich um Prozesskosten, die im Rahmen von Verfahren zum Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ) entstanden seien. Er führe diese Verfahren seit Mitte 2012, nachdem seine frühere Ehefrau die gemeinsame Tochter nach einer Urlaubsreise nicht nach Deutschland zurückgebracht, sondern in Südamerika behalten habe. Da er sehr an seiner Tochter hänge und den Kindesentzug nicht habe akzeptieren können, habe er den Rechtsweg beschreiten müssen. Dies sei unausweichlich gewesen, um seine Tochter nach Deutschland zurückholen zu können. Die Zivilprozesskosten seien weder mutwillig noch leichtfertig entstanden und hätten auch hinreichende Aussicht auf Erfolg geboten, da die Widerrechtlichkeit des Kindesentzugs vom Gericht festgestellt worden sei. Die Prozesskosten bezifferte der Kläger im Einspruchsverfahren auf 20.648,73 Euro, die sich nach seinen unwidersprochenen Angaben aus Rechtsanwaltskosten (9.218,95 Euro), Gerichtskosten (333,61 Euro), Übersetzungskosten (178,50 Euro) sowie prozessbedingten Reisekosten (10.917,67 Euro) zusammensetzten.

Das FA gab dem Einspruch mit Bescheid vom 13.07.2017 bezüglich eines anderen Streitpunktes statt, wies ihn hinsichtlich der Prozesskosten jedoch mit Einspruchsentscheidung vom 23.10.2017 als unbegründet zurück.

Mit seiner Klage trägt der Kläger vor, die ihm durch das Führen eines Prozesses im Rahmen des HKÜ entstandenen Aufwendungen würden anderen Steuerpflichtigen in der Regel nicht erwachsen und seien auch als größere Aufwendungen anzusehen. Damit fielen sie eindeutig unter § 33 Abs. 1 EStG. § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG stehe einem Abzug als außergewöhnliche Belastung nicht entgegen. Die Einfügung von Satz 4 in § 33 Abs. 2 EStG stelle nur die Aufnahme der ursprünglichen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) dar und dürfe auch nur in diesem Sinne verwendet werden. Keinesfalls seien sämtliche Prozesskosten unter diese Regelung zu subsumieren. Die Prozesskosten auf Grund der Streitigkeiten über das Umgangsrecht mit seiner Tochter fielen nicht unter § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG, sondern beträfen einen Kernbereich des menschlichen Lebens, wie er im Urteil des BFH vom 04.12.2001 III R 31/00 (Bundessteuerblatt - BStBl - II 2002, 382) dargestellt worden sei. Das vom FA zitierte BFH-Urteil vom 18.05.2017 VI R 9/16 stehe im Widerspruch zum Beschluss des Großen Senats des BFH vom 27.07.2015 GrS 1/14 (BStBl II 2016, 265). Sollte in der neueren Rechtsprechung des BFH eine Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung zur Abzugsfähigkeit von Ehescheidungskosten zu sehen sein, wäre der Streitfall noch nicht höchstrichterlich geklärt, weil es sich im vorliegenden Fall nicht um Prozesskosten für eine Ehescheidung handele.

Selbst wenn der Gesetzgeber, wie das FA meine, durch das Amtshilferichtlinie-Umsetzungsgesetz (AmtshilfeRLUmsG) die Abziehbarkeit von Zivilprozesskosten habe gesetzlich regeln wollen, müsse er dies korrekt umsetzen. Eine wörtliche Übernahme der bisherigen BFH-Rechtsprechung in ein Gesetz regele lediglich die von der ursprünglichen BFH-Rechtsprechung erfassten Fälle. Darunter fielen seine Aufwendungen jedoch nicht. Einen Fall wie den vorliegenden könne der Gesetzgeber unmöglich von § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG erfasst sehen wollen, selbst wenn man der Ansicht sei, dass der vorliegende Sachverhalt unter diese Vorschrift zu subsumieren sei.

Hilfsweise werde ausgeführt, dass, falls das Gericht die Prozesskosten unter § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG fassen wolle, geprüft werden müsse, ob er - der Kläger - ohne den geführten Prozess Gefahr liefe, seine Lebensgrundlage zu verlieren und seine lebensnotwendigen Bedürfnisse in dem üblichen Rahmen nicht mehr befrieden zu können. Dies sei hier der Fall. Insbesondere seien durch die verschiedenen Prozessorte in Südamerika und Deutschland Kosten entstanden, die seine Ersparnisse nahezu vollständig aufgezehrt hätten. Als Reaktion auf den Prozess wegen der Rückführung des Kindes habe die Kindesmutter in Südamerika einen Titel auf Kindesunterhalt erwirkt, der seine laufenden finanziellen Mittel bei Weitem übersteige. Er befinde sich mittlerweile in der Zwangslage, dass er den Kindesunterhalt nicht zahlen könne und damit die Einreise nach Südamerika faktisch unmöglich sei, da er als säumiger Unterhaltszahler in Südamerika verhaftet werden würde. Die Erfüllung seiner lebensnotwendigen Bedürfnisse sei demnach im üblichen Rahmen nicht mehr möglich.

Der Kläger beantragt,

unter Änderung des Einkommensteuerbescheids für 2014 vom 13.07.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 23.10.2017 die Einkommensteuer für 2014 in der Weise festzusetzen, dass Aufwendungen i.H. von 20.649 Euro als weitere außergewöhnliche Belastungen berücksichtigt werden.

Das FA beantragt,

die Klage abzuweisen.

Eine Berücksichtigung der geltend gemachten Prozesskosten i.H. von 20.649 Euro als außergewöhnliche Belastung komme nicht in Betracht. Die Abziehbarkeit von Prozesskosten sei ab dem Veranlagungszeitraum 2013 durch § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG geregelt worden. Eine Heranziehung der früheren BFH-Rechtsprechung werde dadurch entbehrlich. Dies werde auch durch die vier BFH-Urteile vom 18.05.2017 VI R 66/14, VI R 81/14, VI R 19/15 und VI R 9/16 deutlich. Der BFH habe klargestellt, dass es sich bei Scheidungskosten um Prozesskosten handele, die unter die Abzugsbeschränkung fielen. Ferner habe er entschieden, dass unter dem Begriff Existenzgrundlage die materielle Lebensgrundlage zu verstehen sei und eine Scheidung nicht dazu diene, eine Gefährdung der materiellen Lebensgrundlage abzuwehren.

Entsprechend verhalte es sich mit den Kosten für Streitigkeiten über das Umgangsrecht der Eltern mit ihren Kindern. Insofern werde die Vermutung des Klägers widerlegt, dass der Gesetzgeber den neu eingeführten § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG in Anlehnung an die frühere BFH-Rechtsprechung habe auslegen wollen.

Gründe

Die Klage ist begründet.

1. Das FA hat die vom Kläger geltend gemachten Prozesskosten zu Unrecht nicht als außergewöhnliche Belastung berücksichtigt, denn die Aufwendungen sind nach § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG nicht vom Abzug ausgeschlossen.

a) Erwachsen einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrheit der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstands (außergewöhnliche Belastung), so wird auf Antrag die Einkommensteuer dadurch ermäßigt, dass der Teil der Aufwendungen, der die dem Steuerpflichtigen zumutbare Belastung übersteigt, vom Gesamtbetrag der Einkünfte abgezogen wird (§ 33 Abs. 1 EStG). Nach § 33 Abs. 2 EStG erwachsen Aufwendungen dem Steuerpflichtigen zwangsläufig, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann und soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen (§ 33 Abs. 2 Satz 1 EStG).

Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt, was auch das FA nicht in Zweifel zieht. Bei den Aufwendungen des Klägers im Zusammenhang mit der Entführung des Kindes durch die Mutter ins Ausland handelt es sich um größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrheit der Steuerpflichtigen entstehen. Sie erwuchsen dem Kläger auch zwangsläufig, da er sich ihnen aus tatsächlichen Gründen nicht entziehen konnte, um seine Tochter wieder zurück nach Deutschland holen zu können.

Zwar fehlt es nach der Rechtsprechung des BFH im Allgemeinen bei einem Zivilprozess an der Zwangsläufigkeit des die Zahlungspflicht der Prozesskosten auslösenden Ereignisses. Der BFH hat jedoch Ausnahmen von der mangelnden Zwangsläufigkeit erkannt, etwa wenn der Rechtsstreit einen für den Steuerpflichtigen existenziell wichtigen Bereich berührt und der Steuerpflichtige ohne den Rechtsstreit Gefahr liefe, seine Existenzgrundlage zu verlieren und seine lebensnotwendigen Bedürfnisse in dem üblichen Rahmen nicht mehr befriedigen zu können (z.B. BFH-Urteil vom 09.05.1996 III R 224/94, BStBl II 1996, 596, unter 2.b). Eine weitere Ausnahme - neben Aufwendungen für eine Ehescheidung und bestimmte Scheidungsfolgesachen (z.B. BFH-Urteil vom 21.02.1992 III R 88/90, BStBl II 1992, 795, m.w.N.) - hielt der BFH für gerechtfertigt, wenn die Streitigkeit einen Kernbereich menschlichen Lebens berührt, wie es beim Umgangsrecht der Eltern mit ihren Kindern der Fall ist. Die Verweigerung des Umgangs mit den eigenen Kindern könne - so der BFH - zu einer tatsächlichen Zwangslage führen, die die Anrufung eines Gerichts unabweisbar mache (BFH-Urteil vom 04.12.2001 III R 31/00, BStBl II 2002, 382, unter II.3.). Um einen solchen Fall, in dem der Kernbereich menschlichen Lebens berührt ist, handelt es sich vorliegend bei dem Rechtsstreit, den der Kläger nach der Entführung seiner Tochter durch die Kindesmutter in Südamerika wegen seines Umgangsrechts und der Rückführung der Tochter nach Deutschland führte.

b) Die Aufwendungen des Klägers sind auch nicht gemäß § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG vom Abzug als außergewöhnliche Belastung ausgeschlossen.

aa) Nach § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG sind Aufwendungen für die Führung eines Rechtsstreits (Prozesskosten) vom Abzug ausgeschlossen, es sei denn, es handelt sich um Aufwendungen, ohne die der Steuerpflichtige Gefahr liefe, seine Existenzgrundlage zu verlieren und seine lebensnotwendigen Bedürfnisse in dem üblichen Rahmen nicht mehr befriedigen zu können.

bb) § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG i.d.F. des AmtshilfeRLUmsG trat mit Wirkung vom 30.06.2013 in Kraft (Bundesgesetzblatt I 2013, 1809) und ist erstmals für den Veranlagungszeitraum 2013 und damit auch für das Streitjahr anzuwenden (§ 52 Abs. 1 Satz 1 EStG i.d.F. des AmtshilfeRLUmsG).

cc) Bei den in Rede stehenden Aufwendungen des Klägers für das Verfahren nach dem HKÜ handelt es sich - anders als der Kläger meint - auch um Aufwendungen für die Führung eines Rechtsstreits.

(1) Der Begriff des Rechtsstreits bezeichnet nach der Rechtsprechung des BFH im Allgemeinen die Auseinandersetzung zwischen zwei Parteien oder Beteiligten über ein Rechtsverhältnis in einem gerichtlichen Verfahren (BFH-Urteil vom 18.05.2017 VI R 9/16, BStBl II 2017, 988, unter II.2.b aa). Zu den Aufwendungen für die Führung eines Rechtsstreits gehören in allen gerichtlichen Verfahren die Gerichtskosten sowie die außergerichtlichen Kosten, wie Anwaltskosten, Auslagen der Parteien und Reisekosten für die Wahrnehmung von Terminen (Kanzler, Finanz-Rundschau - FR - 2014, 209, 214).

(2) Bei den vom Kläger angeführten Aufwendungen handelt es sich um solche Prozesskosten, da sie Gerichtskosten, Rechtsanwaltskosten, Übersetzungskosten sowie prozessbedingte Reisekosten betreffen.

dd) Nach § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG greift das grundsätzliche Abzugsverbot für Prozesskosten allerdings dann nicht ein, wenn der Steuerpflichtige ohne die Aufwendungen Gefahr liefe, seine Existenzgrundlage zu verlieren und seine notwendigen Bedürfnisse in dem üblichen Rahmen nicht mehr befriedigen zu können.

Nach Auffassung des Senats gehören in Folge verfassungskonformer Auslegung des Begriffs der Existenzgrundlage hierzu auch Prozesskosten im Zusammenhang mit einem Rechtsstreit über das Umgangsrecht eines Vaters mit seinem Kind und der Rückkehr des bei der Mutter im Ausland lebenden Kindes nach Deutschland (so im Ergebnis wohl auch: Endert in Frotscher, EStG, § 33 Rz. 8a; Stöcker in Lademann, EStG, § 33 Rz. 496).

(1) Der Begriff der Existenzgrundlage in § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG ist nicht gesetzlich definiert. Nach den Ausführungen des BFH im Urteil vom 18.05.2017 VI R 9/16 (BStBl II 2017, 988, unter II.2.c aa) kann "Existenzgrundlage" in einem immateriellen Sinn gedeutet werden, etwa als Summe der Überzeugungen und Wertvorstellungen einer Person oder als die Eingebundenheit einer Person in eine Familie. Der BFH hat sich in dem genannten Urteil, das den Abzug von Scheidungskosten als außergewöhnliche Belastung zum Gegenstand hatte, jedoch für eine Auslegung als materielle Lebensgrundlage des Steuerpflichtigen entschieden, weil im Hinblick auf den Zusatz in § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG "in dem üblichen Rahmen" ein Bezug auf die wirtschaftlichen Verhältnisse naheliege und im Gegensatz zu seelischen und sozialen Bedürfnissen wirtschaftliche Umstände messbar und quantifizierbar seien. Dazu hat er auch auf sein bisheriges Verständnis des Begriffs der Existenzgrundlage im Zusammenhang mit dem Abzug von Prozesskosten als außergewöhnliche Belastung Bezug genommen und darauf hingewiesen, dass nach seiner Rechtsprechung Streitigkeiten über das Umgangsrecht der Eltern mit ihren Kindern regelmäßig nicht die Existenzgrundlage des Steuerpflichtigen beträfen (BFH in BStBl II 2017, 988, unter II.2. c cc (2)). Er - der BFH - habe im Urteil in BStBl II 2002, 382, für diesen Fall explizit eine weitere Ausnahme (Kernbereich des menschlichen Lebens) für einen möglichen Abzug von Prozesskosten als außergewöhnliche Belastung geschaffen.

(2) Der Senat gelangt für den Fall der dem Kläger entstandenen Aufwendungen im Zusammenhang mit dem Umgangsrecht für seine von der Kindesmutter nach Südamerika entführte im Streitjahr rund zwei Jahre alte Tochter und deren Rückkehr nach Deutschland auf Grund einer gebotenen verfassungskonformen Auslegung des Begriffs der Existenzgrundlage jedoch zu der Erkenntnis, dass ohne ein Umgangsrecht mit der Tochter und deren Rückführung nach Deutschland die (immaterielle) Existenzgrundlage des Klägers gefährdet wäre. Er folgt damit im Ergebnis den Stimmen in der Literatur, die die Betroffenheit des Kernbereichs menschlichen Lebens als Bedrohung der Existenzgrundlage begreifen (Mellinghoff in Kirchhof, EStG, 17. Aufl., § 33 Rz. 47b; Nacke in Littmann, EStG, § 33 Rz. 136b; a.A.: Heger in Blümich, EStG/KStG/GewStG, § 33 EStG Rz. 220; Schmieszek in Bordewin/Brandt, EStG, § 33 Rz. 97a).

(a) Lassen der Wortlaut, die Entstehungsgeschichte, der Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelung und deren Sinn und Zweck mehrere Deutungen zu, von denen eine zu einem verfassungsmäßigen Ergebnis führt, so ist diese geboten (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 31.10.2016 1 BvR 871/13, 1 BvR 1833/13, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 2017, 172, unter IV.1.b dd (2), m.w.N.). Der bei einem Kind wie bei den Eltern vorhandene Wunsch nach gegenseitiger Liebe und Nähe ist ein elementares menschliches Bedürfnis. Die Rechtsordnung trägt dem sowohl hinsichtlich des Anspruchs des Kindes auf Kontakt zu seinen leiblichen Eltern als auch umgekehrt durch Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) Rechnung, in dessen Schutzbereich auch der Kläger als Vater der Tochter, für die er ein Umgangsrecht und eine Rückkehr zu ihm nach der Entführung durch die Mutter erreichen möchte, fällt.

(b) Der Wortlaut des § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG, die Entstehungsgeschichte, der Gesamtzusammenhang dieser Regelung und ihr Sinn und Zweck lassen, neben dem Verständnis der Existenzgrundlage als materielle Lebensgrundlage, auch eine Deutung als immaterielle Lebensgrundlage des Steuerpflichtigen in Form der Eingebundenheit einer Person in eine Familie zu.

(aa) Hinsichtlich dieser möglichen Deutung des Wortlauts nimmt der Senat Bezug auf die Ausführungen des BFH im Urteil in BStBl II 2017, 988 (dort unter II.2.c aa, s.o. unter 1.b dd (1)).

(bb) Die Entstehungsgeschichte des § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG lässt ebenfalls eine solche Auslegung zu.

Der Gesetzesänderung des § 33 Abs. 2 EStG gingen mehrere Schritte voraus. Zunächst hatte der Bundesrat, auf dessen Initiative § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG zurückgeht, in einer Stellungnahme vom 06.07.2012 (BT-Drucksache 17/10604, Seite 12) zu einem Entwurf eines Jahressteuergesetzes (JStG) 2013 der Bundesregierung gefordert, die Anwendbarkeit des § 33 EStG bei Prozesskosten, die durch das BFH-Urteil vom 12.05.2011 VI R 42/10 (BStBl II 2011, 1015) stark ausgedehnt worden war, auf den "bisherigen engen Rahmen" zu beschränken. Dazu schlug er die Einfügung eines neuen § 33 Abs. 3a EStG vor, wonach Prozesskosten grundsätzlich nicht als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen seien. Abweichend von diesem Grundsatz könnten die notwendigen und angemessenen Prozesskosten berücksichtigt werden, wenn der Steuerpflichtige "ohne den Rechtsstreit Gefahr liefe, seine Existenzgrundlage zu verlieren und seine lebensnotwendigen Bedürfnisse in dem üblichen Rahmen nicht mehr befriedigen zu können". Dies sollte für die "unmittelbaren und unvermeidbaren Scheidungskosten" entsprechend gelten (BT-Drucksache 17/10604, Seite 11). Die Bundesregierung lehnte die vorgeschlagene Änderung des § 33 EStG seinerzeit ab.

Am 10.04.2013 legte der Bundesrat selbst einen Entwurf eines JStG 2013 vor (BT-Drucksache 17/13033, Seite 14), der die später durch das AmtshilfeRLUmsG in § 33 EStG eingefügte Formulierung des § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG enthielt. Der Bundesrat führte zur Begründung seines Entwurfs aus, die generelle steuermindernde Berücksichtigung von Prozesskosten entspreche nicht den sonst bei außergewöhnlichen Belastungen geltenden Grundsätzen der Zwangsläufigkeit und Außergewöhnlichkeit. Es sei daher angezeigt, die Anwendbarkeit auf "einen engen Rahmen" zu beschränken (BT-Drucksache 17/13003, Seite 67). Das spätere AmtshilfeRLUmsG enthielt keine Begründung zur Einfügung von § 33 Abs. 4 Satz 2 EStG, da diese Regelung erst auf Grund einer Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses vom 05.06.2013 in das AmtshilfeRLUmsG aufgenommen wurde (BT-Drucksache 17/13722, Seite 9).

Aus der Entstehungsgeschichte der heute gültigen Fassung des § 33 Abs. 2 EStG ist der Wille des Gesetzgebers erkennbar, Scheidungskosten nicht mehr als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen, weil die vom Bundesrat in seiner Stellungnahme vom 06.07.2012 zum Entwurf eines JStG 2013 der Bundesregierung noch vorgeschlagene Fassung eines § 33 Abs. 3a EStG nicht Gesetz geworden ist. Darüber hinaus kann ihr entnommen werden, dass der Bundesrat mit seiner ersten Formulierung den "bisherigen engen Rahmen" der Berücksichtigung von Prozesskosten als außergewöhnliche Belastung wiederherstellen und den Abzug im späteren Entwurf eines JStG 2013 vom 10.04.2013 auf einen "engen Rahmen" beschränken wollte, da in diesem Entwurf Prozesskosten für Scheidungsverfahren nicht mehr erfasst wurden. Daraus lässt sich der zumindest mögliche Schluss ziehen, dass der Gesetzgeber mit der Formulierung, die § 33 Abs. 2 EStG durch das AmtshilfeRLUmsG erhalten hat, alle vom BFH ursprünglich anerkannten Zwangslagen für den Abzug von Prozesskosten, mit Ausnahme der Scheidung, bei den außergewöhnlichen Belastungen erfassen wollte.

(cc) Des Weiteren lassen auch der Gesetzeszusammenhang der Regelungen in § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG und ihr Sinn und Zweck jedenfalls neben einer Deutung des Begriffs der Existenzgrundlage als materielle Lebensgrundlage des Steuerpflichtigen auch eine solche als immaterielle Lebensgrundlage zu.

Nachdem der BFH mit Urteil in BStBl II 2011, 1015 unter Änderung seiner bisherigen Rechtsprechung entschieden hatte, dass Zivilprozesskosten unabhängig vom Gegenstand des Prozesses aus rechtlichen Gründen zwangsläufig erwachsen würden, wurde mit § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG eine Regelung geschaffen, durch die zum einen deutlich wird, dass Prozesskosten einem Steuerpflichtigen nicht aus rechtlichen Gründen zwangsläufig entstehen, und zum anderen zum Ausdruck kommt, dass die Gefahr des Verlustes der Existenzgrundlage und die Notwendigkeit, die lebensnotwendigen Bedürfnisse zu sichern, Umstände sind, die ausnahmsweise für eine Zwangsläufigkeit der Aufwendungen aus tatsächlichen Gründen sprechen (vgl. auch Kanzler, FR 2014, 209, 214). Es ist nicht erkennbar, dass von dieser Regelung ein für den Steuerpflichtigen (ideell) existenziell wichtiger Bereich wie das Umgangsrecht und die Rückkehr seiner ins Ausland entführten Tochter nicht erfasst werden könnte.

(c) Eine Auslegung des Begriffs Existenzgrundlage als immaterielle Lebensgrundlage des Steuerpflichtigen, die den Kernbereich menschlichen Lebens berührt, ist nach Auffassung des Senats aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten.

(aa) Die für die Lastengleichheit im Einkommensteuerrecht maßgebliche finanzielle Leistungsfähigkeit bemisst der einfache Gesetzgeber nach dem objektiven und dem subjektiven Nettoprinzip. Danach unterliegt der Einkommensteuer grundsätzlich nur das Nettoeinkommen, nämlich der Saldo aus den Erwerbseinnahmen einerseits und den (betrieblichen/beruflichen) Erwerbsaufwendungen sowie den (privaten) existenzsichernden Aufwendungen andererseits (BVerfG-Urteil vom 09.12.2008 2 BvL 1/07, Entscheidungen des BVerfG - BVerfGE - 122, 210, unter C.I.3.). Das subjektive Nettoprinzip wird durch § 33 EStG konkretisiert. Diese Vorschrift regelt den verfassungsrechtlich gebotenen Abzug indisponibler privater Aufwendungen, die nicht bereits durch den Grundfreibetrag und den Sonderausgabenabzug abgegolten sind (Arndt in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 33 Rz. A 6). Ziel des § 33 EStG ist es, zwangsläufige Mehraufwendungen für den existenznotwendigen Grundbedarf zu berücksichtigen, die sich wegen ihrer Außergewöhnlichkeit einer pauschalen Erfassung in allgemeinen Entlastungsbeträgen entziehen (BFH-Urteil vom 18.03.2004 III R 31/02, BStBl II 2004, 867, unter II.1.). Hierbei kann es sich auch um immateriellen Grundbedarf handeln, etwa für die Erhaltung der Gesundheit (vgl. zur Berücksichtigung von Krankheitskosten Loschelder in Schmidt, EStG, 37. Auflage, § 33 Rz. 40 ff.), die Abwehr von Gefahren für Leib und Leben (vgl. zur Beauftragung eines Sicherheitsdienstes Urteil des Finanzgerichts Münster vom 11.12.2017 13 K 1045/15 E, JURIS) oder die Wiederherstellung der persönlichen Freiheit (vgl. Loschelder, a.a.O., § 33 Rz. 90 Stichwort "Lösegeld").

Wie das BVerfG mehrfach entschieden hat, steht die Berücksichtigung privat veranlassten Aufwands - auch jenseits der Grenze des zu verschonenden Existenzminimums - nicht ohne weiteres zur Disposition des Gesetzgebers. Dieser hat vielmehr die unterschiedlichen Gründe, die den Aufwand veranlassen, auch dann im Lichte betroffener Grundrechte differenzierend zu würdigen, wenn solche Gründe ganz oder teilweise der Sphäre der allgemeinen (privaten) Lebensführung zuzuordnen sind (BVerfG-Beschluss vom 16.03.2005 2 BvL 7/00, BVerfGE 112, 268, unter C.I.2.a).

(bb) Vor diesem Hintergrund hält der Senat im Streitfall eine verfassungskonforme Auslegung des § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG für erforderlich. Eine gesetzliche Regelung der Zwangsläufigkeit von Prozesskosten aus tatsächlichen Gründen dahingehend, dass eine solche bejaht wird, wenn die materielle Lebensgrundlage des Steuerpflichtigen ohne den Rechtsstreit gefährdet wäre, nicht aber wenn der Steuerpflichtige Gefahr liefe, seine immaterielle Lebensgrundlage zu verlieren, indem er seine ins Ausland entführte Tochter nicht wiedersehen würde, wäre im Hinblick darauf, dass Art. 6 Abs. 1 GG Ehe und Familie unter einem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stehen, nicht gerechtfertigt. Der Senat sieht sich zur Vermeidung eines Verstoßes gegen Art. 6 GG berechtigt und verpflichtet, § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG im Wege einer verfassungskonformen Auslegung dahingehend zu deuten, dass die Existenzgrundlage eines Steuerpflichtigen auch dann gefährdet ist, wenn er ohne den Prozess keine (legale) Möglichkeit hat, seine von der Kindesmutter ins Ausland entführte Tochter nach Deutschland zurückzuholen.

(cc) Zudem kann nach Ansicht des Senats nur durch eine solche Auslegung ein Wertungswiderspruch zwischen der Grundnorm des § 33 EStG, die auch den Schutz der immateriellen Güter umfasst, und der Einschränkung des § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG für Prozesskosten vermieden werden. Ein auf materielle Existenzgrundlagen beschränktes Normenverständnis könnte zum Ausschluss des verfassungsrechtlich gebotenen Abzugs indisponibler privater Aufwendungen und damit zur Verfassungswidrigkeit der Vorschrift führen.

(3) Ferner sind die weiteren Tatbestandsmerkmale des § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG, die einen Abzug von Prozesskosten als außergewöhnliche Belastung zulassen, erfüllt. Ohne den vom Kläger geführten Rechtsstreit nach den HKÜ und die damit verbundenen Aufwendungen liefe er nämlich auch Gefahr, seine lebensnotwendigen Bedürfnisse in dem üblichen Rahmen nicht mehr befriedigen zu können.

(a) Der Begriff der lebensnotwendigen Bedürfnisse ist gesetzlich ebenfalls nicht geregelt und von der bisherigen Rechtsprechung auch nicht konkretisiert worden. In der Literatur wird dazu die Auffassung vertreten, es handele sich um (nicht materielle) Grundbedürfnisse, die in physiologische Bedürfnisse, Sicherheitsbedürfnisse und soziale Bedürfnisse einzuteilen und nach dringlichen und weniger dringlichen Grundbedürfnissen zu unterscheiden seien (Kanzler, FR 2014, 209, 217; derselbe in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 33 EStG Rz. 214). Der Senat schließt sich dieser Auffassung an. Ebenso ist das Tatbestandsmerkmal "im üblichen Rahmen" nicht gesetzlich definiert und von der Rechtsprechung bislang auch nicht ausgelegt worden. Der Senat versteht dieses Tatbestandsmerkmal in dem Sinne, dass der Rahmen gemeint ist, wie er bei der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstands (vgl. § 33 Abs. 1 EStG) üblich ist.

(b) Vorliegend führte der Kläger den Rechtsstreit nach dem HKÜ, um ein dringendes soziales Bedürfnis nach Liebe zu seinem Kind und Fürsorge für das Kind befriedigen zu können und zwar in einem "üblichen Rahmen", so wie es bei der überwiegenden Mehrzahl von Eltern üblich ist. Mit dem Rechtsstreit wollte der Kläger als Vater das Umgangsrecht für seine nach Südamerika entführte Tochter sowie deren Rückkehr nach Deutschland erreichen. Dieses dringende soziale Bedürfnis des Klägers als Vater eines minderjährigen Kindes war ohne den geführten Rechtsstreit und die dadurch bedingten Aufwendungen gefährdet.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO).

3. Die Revision wird gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Frage zugelassen, ob Aufwendungen für die Führung eines den Kernbereich des menschlichen Lebens berührenden Rechtsstreits über das Umgangsrecht eines Vaters mit seinem Kind und die Rückkehr des von der Mutter ins Ausland entführte Kind nach Deutschland als außergewöhnliche Belastung nach § 33 Abs. 2 Satz 4 EStG abzugsfähig sind.

4. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.

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