BGH, Urteil vom 13.09.2017 - 2 StR 188/17
Fundstelle
openJur 2018, 3965
  • Rkr:
Tenor

Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Erfurt vom 19. Dezember 2016 wird verworfen.

Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Von Rechts wegen.

Gründe

I.

Das Landgericht hatte den Angeklagten in einem ersten Urteil wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Nach Aufhebung dieses Urteils aufgrund einer Revision des Angeklagten hat es diesen nunmehr wegen unterlassener Hilfeleistung zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich die zuungunsten des Angeklagten eingelegte und auf die Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft. Das Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts trafen der Angeklagte und der Geschädigte, die beide in ihrer Freizeit der Jagd nachgingen, in den frühen Abendstunden des 23. Oktober 2012 auf einem Feldweg aufeinander. Der Angeklagte, der sich in einer depressiven Phase befand und alkoholisiert war, saß, nachdem er in suizidaler Absicht unter Mitführung einer mit sieben Patronen geladenen halbautomatischen Pistole Kal. 9 mm in den Wald gegangen war, auf einem Feldweg und schlief, was den später getöteten H. , der gerade von der Jagd zurückkam, an der Weiterfahrt hinderte. Dieser weckte den Angeklagten mit einem Tritt und forderte ihn mit unfreundlichen Worten auf, sich zu entfernen. Der darüber verärgerte Angeklagte trat daraufhin dem Geschädigten in das Gesäß und beschimpfte ihn. H. , nun seinerseits erbost, rief "Na warte du mal" und schickte sich an, seine auf der Rücksitzbank liegende Jagdflinte aus dem Inneren des Fahrzeugs zu holen. Die Flinte war zwar nicht geladen, konnte aber vom Geschädigten durch Einlegen der von ihm in seiner Jackentasche mitgeführten Munition jederzeit in einen schussbereiten Zustand gebracht werden.

Der Angeklagte, der Angst vor einem Angriff hatte, folgte H. und sprühte ihm aus einer Entfernung von etwa einem Meter Pfefferspray ins Gesicht. Dieser zeigte sich jedoch unbeeindruckt, ergriff die Jagdflinte und drehte sich - das Gewehr in Hüfthöhe haltend - in Richtung des Angeklagten. Aus Angst vor einem Angriff schoss der Angeklagte nun zwei Mal aus einer Entfernung von etwa vier Metern in Richtung des Geschädigten, wobei er ihn mit einem Schuss am Oberarm traf. H. hantierte gleichwohl weiter an seiner doppelläufigen Flinte, um sie zu laden und schussbereit zu machen. Der Angeklagte gab nunmehr einen Warnschuss in die Luft ab, ohne dass der Geschädigte hierauf eine Reaktion zeigte. Er war nun "kurz vor dem Durchdrehen" und wusste nicht mehr, was er noch machen sollte. Da er befürchtete, dass es dem weiter an der Flinte hantierenden H. alsbald gelänge, die Waffe zu laden und schussfertig zu machen, gab er nunmehr einen gezielten Schuss auf den Oberkörper des Geschädigten ab. Obwohl in der Brust getroffen, zeigte sich dieser immer noch unbeeindruckt, weshalb der Angeklagte auch noch in dessen Bein schoss. Nunmehr hielt H. infolge der Trefferwir- kung inne und ließ das Gewehr sinken. Der Angeklagte, der erkannte, dass der Geschädigte infolge der Schüsse handlungsunfähig war, nahm diesem das Gewehr ab und entfernte sich, ohne Hilfe zu leisten oder Hilfskräfte zu verständigen. H. verstarb an den Folgen der Rumpfverletzung; bei zeitnaher medizinischer Versorgung hätte er gerettet werden können.

Sachverständig beraten ist das Landgericht zum Ergebnis gekommen, dass der Angeklagte zum Tatzeitpunkt uneingeschränkt schuldfähig war.

2. Das Landgericht hat das Verhalten des Angeklagten als unterlassene Hilfeleistung gewürdigt. Es ist davon ausgegangen, dass die Schussabgabe durch den Angeklagten wegen Notwehr gerechtfertigt, insbesondere die in einer Notwehrlage vorgenommene Notwehrhandlung auch erforderlich gewesen sei. Im Übrigen habe der Angeklagte auch nach § 33 StGB schuldlos gehandelt, da er "vor der Abgabe des letztlich tödlichen Rumpfschusses der Situation nicht mehr psychisch gewachsen" gewesen sei.

II.

Die Revision der Staatsanwaltschaft ist unbegründet.

Die Verurteilung des Angeklagten wegen unterlassener Hilfeleistung lässt keinen Rechtsfehler erkennen. Die Erwägungen des Landgerichts, dass sich der Angeklagte keines Tötungs- oder Körperverletzungsdelikts schuldig gemacht habe, halten sachlichrechtlicher Nachprüfung stand.

1. Die Annahme der Strafkammer, dass bei sämtlichen Schüssen eine Notwehrlage vorgelegen habe, ist frei von Rechtsfehlern.

a) Ein Angriff ist gegenwärtig, wenn das Verhalten des Angreifers unmittelbar in eine Rechtsgutsverletzung umschlagen kann, so dass durch das Hinausschieben einer Abwehrhandlung entweder deren Erfolg in Frage gestellt wäre oder der Verteidiger das Wagnis erheblicher eigener Verletzungen auf sich nehmen müsste (st. Rspr., vgl. BGH, Urteil vom 26. August 1987 - 3 StR 303/87, BGHR StGB § 32 Abs. 2 Angriff 1; Urteil vom 31. Januar 2007 - 5 StR 404/06, BeckRS 2007, 03210 Rn. 16). Der Angriff beginnt, wenn der Angreifer unmittelbar zu diesem ansetzt, also mit einem Verhalten, das unmittelbar in die eigentliche Verletzungshandlung umschlagen soll; bei einem vorsätzlichen Angriff ist dies die Handlung, die dem Versuchsbeginn unmittelbar vorgelagert ist (Schönke/Schröder/Perron, StGB, 29. Aufl., § 32 Rn. 14 mwN). Entscheidend für die Beurteilung ist dabei die objektive Sachlage, nicht die Befürchtungen des Angegriffenen (vgl. BGH, Urteil vom 21. März 2017 - 1 StR 486/16, juris Rn. 28 mwN).

b) Nach diesen Grundsätzen steht der Umstand, dass die Flinte des Geschädigten ungeladen war, der Annahme eines gegenwärtigen Angriffs nicht entgegen. Ausweislich der Urteilsfeststellungen hatte dieser die Waffe ergriffen und hantierte daran, um auf den Angeklagten zu schießen (UA S. 7 f.), wobei die Schussbereitschaft innerhalb weniger Sekunden hätte hergestellt werden können (UA S. 6). Angesichts dieser kurzen Zeitspanne lag trotz der noch notwendigen Zwischenschritte eine schon unmittelbare und akute Bedrohung des Angeklagten vor.

2. Auch die Annahme des Landgerichts, die Verteidigungshandlungen des Angeklagten seien erforderlich gewesen, ist frei von Rechtsfehlern.

a) Eine in einer Notwehrlage verübte Tat ist gemäß § 32 Abs. 2 StGB gerechtfertigt, wenn sie zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs führt und es sich bei ihr um das mildeste Abwehrmittel handelt, das dem Angegriffenen in der konkreten Situation zur Verfügung steht (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Juni 2016 - 5 StR 138/16, NStZ 2016, 593, 594). Ob dies der Fall ist, muss auf der Grundlage einer objektiven Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Verteidigungshandlung beurteilt werden. Danach kann auch der sofortige, das Leben des Angreifers gefährdende Einsatz einer Waffe durch Notwehr gerechtfertigt sein. Der Angegriffene muss auf weniger gefährliche Verteidigungsmittel nur zurückgreifen, wenn deren Abwehrwirkung unzweifelhaft ist und ihm genügend Zeit zur Abschätzung der Lage zur Verfügung steht. Die mildere Einsatzform muss im konkreten Fall eine so hohe Erfolgsaussicht haben, dass dem Angegriffenen das Risiko eines Fehlschlags und der damit verbundenen Verkürzung seiner Verteidigungsmöglichkeiten zugemutet werden kann. Angesichts der geringen Kalkulierbarkeit des Fehlschlagrisikos dürfen an die in einer zugespitzten Situation zu treffende Entscheidung für oder gegen eine weniger gefährliche Verteidigungshandlung keine überhöhten Anforderungen gestellt werden. Können keine sicheren Feststellungen zu Einzelheiten des Geschehens getroffen werden, darf sich dies nicht zu Lasten des Angeklagten auswirken (BGH, Beschluss vom 22. Juni 2016 - 5 StR 138/16, aaO).

Diese Grundsätze hat die Rechtsprechung für den lebensgefährlichen Einsatz einer Schusswaffe in Notwehrsituationen dahin konkretisiert, dass ein solcher zwar nicht von vornherein unzulässig ist, aber nur das letzte Mittel der Verteidigung sein kann. In der Regel ist der Angegriffene gehalten, den Gebrauch der Waffe zunächst anzudrohen. Reicht dies nicht aus, so muss er, wenn möglich, vor dem tödlichen Schuss einen weniger gefährlichen Waffeneinsatz versuchen. In Frage kommen ungezielte Warnschüsse oder, wenn diese nicht ausreichen, Schüsse in die Beine, um den Angreifer kampfunfähig zu machen, also solche Abwehrmittel, die einerseits für die Wirkung der Abwehr nicht zweifelhaft sind und andererseits die Intensität und Gefährlichkeit des Angriffs nicht unnötig überbieten (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Juli 2015 - 3 StR 84/15, juris Rn. 7 mwN). Dabei wird der Rahmen der erforderlichen Verteidigung durch die Stärke und die Gefährlichkeit des Angreifers und durch die Verteidigungsmöglichkeiten des Angegriffenen bestimmt (BGH, Beschluss vom 21. Juli 2015 - 3 StR 84/15, aaO).

b) Daran gemessen ist die Würdigung des Landgerichts, der Angeklagte habe angesichts der zum Zeitpunkt der ersten beiden Schüsse festgestellten "konkreten Kampflage" auf den Geschädigten schießen dürfen, ohne Rechtsfehler.

Vor den beiden auf die Schulter des Geschädigten zielenden Schüssen hatte der Angeklagte nach den Feststellungen ohne Erfolg aus etwa einem Meter Entfernung Pfefferspray eingesetzt. Danach hatte sich der Geschädigte mit dem in Hüfthöhe gehaltenen Gewehr zum Angeklagten gedreht, der erkannte, dass es sich um eine doppelläufige Flinte handelte. Der Abstand zwischen dem Angeklagten und dem Geschädigten betrug zu diesem Zeitpunkt "allenfalls vier Meter" (UA S. 7). Angesichts seiner begründeten Befürchtung, der Geschädigte werde auf ihn schießen, blieb dem Angeklagten keine Zeit zur ausreichenden Abschätzung des schwer kalkulierbaren Risikos. Bei dieser zugespitzten Situation der unmittelbar gegen ihn gerichteten Waffe ist nicht ersichtlich, dass die Abgabe eines Warnschusses die Beendigung des Angriffs hätte erwarten lassen (vgl. Senat, Urteil vom 2. November 2011 - 2 StR 375/11, NStZ 2012, 272, 274). Vielmehr bot nur die sofortige Schussabgabe durch den Angeklagten die sichere Gewähr, einen potenziell tödlichen Schuss des Geschädigten zu unterbinden. Unter diesen Umständen ist es aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, dass das Landgericht zu der Auffassung gelangt ist, dem Angeklagten hätten in der konkreten Situation zur Abwehr der drohenden Gefahr weniger gefährliche, aber gleichermaßen zuverlässige Verteidigungsmittel nicht zur Verfügung gestanden.

c) Im Hinblick auf das sich in der Folge weiter zuspitzende Geschehen ist auch die Wertung der Strafkammer, der letztlich todesursächliche vierte Schuss auf den Rumpf des Geschädigten sei erforderlich gewesen, rechtlich nicht zu beanstanden. Wie der Umstand zeigt, dass der Geschädigte erst infolge des danach abgegebenen Beinschusses das Gewehr senkte, war selbst der vierte Schuss zunächst noch nicht ausreichend, den Angriff sofort und endgültig zu beenden.

Darüber hinaus lässt die zusätzliche Erwägung des Landgerichts, der Angeklagte sei jedenfalls nach § 33 StGB entschuldigt, keinen Rechtsfehler erkennen. Die sachverständig beratene Strafkammer hat die Annahme einer auf Furcht und Schrecken beruhenden asthenischen Affektlage des Angeklagten rechtsfehlerfrei auf dessen Einlassung, er sei vor der Schussabgabe "kurz vor dem Durchdrehen" gewesen, seine mit der Erfolglosigkeit der vorangegangenen Abwehrversuche verbundene Ratlosigkeit sowie auf eine ohnehin bestehende psychische Ausnahmesituation zur Tatzeit gestützt (UA S. 37 f.). Da die Anwendung von § 33 StGB nicht voraussetzt, dass die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Täters zugleich im Sinne des § 21 StGB erheblich vermindert ist (SK-StGB/Rogall, 9. Aufl., § 33 Rn. 18), steht diese Wertung des Landgerichts auch nicht in Widerspruch zu dessen Annahme, die Voraussetzungen des § 21 StGB hätten nicht vorgelegen.

3. Eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen Aussetzung gemäß § 221 StGB besteht - wie das Landgericht im Ergebnis zutreffend angenommen hat - nicht. Zwar hat der Angeklagte den Geschädigten durch die Abgabe der Schüsse im Sinne des § 221 Abs. 1 Nr. 1 StGB in eine hilflose Lage versetzt; er war insoweit aber gerechtfertigt. Dadurch, dass der Angeklagte den tödlich getroffenen Geschädigten am Tatort zurückließ, hat er sich auch nicht nach § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB strafbar gemacht, da keine Obhutspflicht bestand und - wegen der Rechtfertigung der Schüsse - durch die Verursachung der Verletzungen keine Garantenstellung begründet worden war.

Appl Krehl RiBGH Zeng ist wegen Urlaubs an der Unterschrift gehindert.

Appl Grube Schmidt