BVerfG, Beschluss vom 10.12.2001 - 1 BvR 1803/97
Fundstelle
openJur 2011, 119651
  • Rkr:
Tenor

Der Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in Schleswig vom 4. August 1997 - 10 UF 173/96 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihren Rechten aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes). Die Entscheidung wird aufgehoben. Die Sache wird an das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht zurückverwiesen.

Das Land Schleswig-Holstein hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft ein Prozesskostenhilfeverfahren.

I.

1. Am 30. April 1996 reichte der damalige Ehemann der Beschwerdeführerin beim Amtsgericht Niebüll den Scheidungsantrag ein. Mit Schreiben vom 9. Mai 1996 beantragte die Beschwerdeführerin die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die Durchführung des Scheidungsverfahrens; mit Schreiben vom 8. Oktober 1996 beantragte sie die Bewilligung von Prozesskostenhilfe auch für eine Stufenklage bezüglich des nachehelichen Unterhalts sowie für eine Feststellungsklage im Hinblick auf den Zugewinn - jeweils als Folgesache.

In Anschluss an die mündliche Verhandlung am 16. Oktober 1996 lehnte das Amtsgericht die beiden Anträge der Beschwerdeführerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe mit Beschluss vom 16. Oktober 1996 (wahrscheinlich fehlerhaft auf den 15. Oktober 1996 datiert) ab. Am 23. Oktober 1996 erging das Scheidungsurteil.

Die Beschwerdeführerin beantragte daraufhin die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren. Mit dem angegriffenen Beschluss vom 4. August 1997 wies das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht diesen Antrag zurück. Die Bewilligung sei mangels Erfolgsaussicht der Berufung zu versagen. Das Familiengericht habe das Scheidungsurteil erlassen dürfen, da ein Unterhalts- und ein güterrechtlicher Anspruch der Beschwerdeführerin nicht bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung anhängig und damit auch nicht Gegenstand des Scheidungsverbundes geworden sei (§ 623 Abs. 2 ZPO). Die Anhängigkeit einer Sache werde nur durch die Einreichung einer Klage oder Antragsschrift begründet; die Einreichung eines Prozesskostenhilfegesuchs für eine beabsichtigte Klage reiche - entgegen der Ansicht des Oberlandesgerichts Karlsruhe (FamRZ 1994, 971, 972) und des 3. Familiensenats des gleichen Oberlandesgerichts (vgl. Beschluss vom 1. März 1995; 12 UF 195/94) - nicht aus.

2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihres Grundrechts aus Art. 3 Abs. 1 GG. Das Oberlandesgericht habe mit seinem Beschluss zumindest gegen zwei Familiensenate des gleichen Gerichts sowie gegen die allgemeine Rechtsprechung entschieden. Das Gebot einer weitgehenden Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes sei verletzt. Das Gericht habe seinen Entscheidungsspielraum im Prozesskostenhilfeverfahren überschritten und die Anforderungen an die Erfolgsaussichten überspannt. Es nehme damit den Parteien die Möglichkeit, das Gericht in der Hauptsache von der richtigen Auffassung der allgemeinen Rechtsprechung zu überzeugen. Selbst bei Aufrechterhaltung seiner Rechtsauffassung in der Hauptsache hätte das Oberlandesgericht den Parteien auch die Möglichkeit eröffnen können, wegen der allgemeinen Bedeutung der Rechtsfrage den Bundesgerichtshof anzurufen (vgl. § 621 d Abs. 1 ZPO).

3. Die Landesregierung von Schleswig-Holstein, der Bundesgerichtshof sowie der Gegner des Ausgangsverfahrens haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. Der Bundesgerichtshof hat mit Schreiben vom 7. November 2001 mitgeteilt, dass er mit der Frage, ob die Stellung eines Prozesskostenhilfeantrags bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung ausreicht, um eine Folgesache anhängig zu machen, bisher nicht befasst war und dass diese Frage auch nicht zur Entscheidung anstehe.

II.

Die Verfassungsbeschwerde wird zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Rechte der Beschwerdeführerin aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93 c BVerfGG). Die für die Entscheidung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergibt sich aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsgrundsatz, der in Art. 20 Abs. 3 GG allgemein niedergelegt ist, das Gebot einer weitgehenden Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes (vgl. u.a. BVerfGE 78, 104 <117 f.>; 81, 347 <356, 357> m.w.N.). Es ist zwar verfassungsrechtlich unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint (§ 114 ZPO). Die Prüfung der Erfolgsaussichten einer Klage darf jedoch nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den grundrechtlich garantierten Rechtsschutz nicht selbst bieten, sondern zugänglich machen (vgl. BVerfGE 81, 347 <357>).

Die Fachgerichte überschreiten den Entscheidungsspielraum, der ihnen bei der Auslegung des gesetzlichen Tatbestandsmerkmals der hinreichenden Erfolgsaussicht zukommt, wenn sie einen Auslegungsmaßstab verwenden, durch den unbemittelten Parteien im Vergleich zu bemittelten die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung unverhältnismäßig erschwert wird. Das ist namentlich dann der Fall, wenn die Anforderungen an die Aussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung und Rechtsverteidigung weit überspannt werden und dadurch der Zweck der Prozesskostenhilfe deutlich verfehlt wird (vgl. BVerfGE 81, 347 <358>). Prozesskostenhilfe darf daher insbesondere dann nicht versagt werden, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von der Beantwortung einer schwierigen, bislang ungeklärten Rechtsfrage abhängt (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. Februar 1997, NJW 1997, 2102 <2103>; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 30. Oktober 1991, NJW 1992, 889; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 2. März 2000, NJW 2000, 2098; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 10. August 2001, 2 BvR 569/00, Umdruck S. 10, 11). Denn dadurch würde der unbemittelten Partei im Gegensatz zu der bemittelten die Möglichkeit genommen, ihren Rechtsstandpunkt im Hauptsacheverfahren darzustellen und von dort aus in die höhere Instanz zu bringen.

2. Diese Grundsätze werden durch die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts verletzt.

Die Entscheidung über die Frage, ob für die Anhängigkeit eines Verbundsantrages im Scheidungsverfahren die Beantragung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe ausreichend ist, wirft schwierige, bislang nicht hinreichend geklärte Rechts-, aber auch gegebenenfalls Tatsachenfragen auf, die in Literatur und Rechtsprechung umstritten (vgl. u.a. für die Anhängigkeit: OLG Karlsruhe, FamRZ 1994, 971 <972>; OLG Schleswig 3. Senat, SchlHA 1995, 157 <158>; OLG Frankfurt, MDR 1989, 272; Baumbach/Lauterbach/Albers, ZPO, 59. Aufl., § 623 Rn. 9; Rolland/ Brudermüller, FamK, § 623 ZPO Rn. 36; Sedemund-Treiber in: Johannson/Henrich, Eherecht, § 623 ZPO Rn. 10 (jeweils mit Verweis auf OLG Karlsruhe); dagegen: OLG Naumburg, Beschluss vom 8. März 2000, 8 WF 37/00, juris Rechtsprechung; vermittelnd: Zöller/Philippi, 22. Aufl., § 623 ZPO Rn. 23 c) und höchstrichterlich bisher nicht geklärt sind (vgl. Stellungnahme des Bundesgerichtshofs).

Die vorliegende Rechtsfrage ist also weder durch die eigene Rechtsprechung des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts noch durch die Rechtsprechung im Übrigen bereits hinlänglich geklärt. Sie ist aufgrund einer fehlenden gesetzlichen Regelung auch nicht ohne weiteres zu beantworten und bedarf der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Argumenten. Das Prozesskostenhilfeverfahren ist für die Klärung einer solch schwierigen Frage nicht geeignet. Dies hat das Oberlandesgericht in der angegriffenen Entscheidung verkannt. Daran ändert auch nichts, dass das Oberlandesgericht seine Auffassung durchaus begründet dargestellt hat.

3. Die angegriffene Entscheidung beruht auch auf dem festgestellten Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Es lässt sich nicht ausschließen, dass das Oberlandesgericht bei einer der grundrechtlichen Gewährleistung genügenden Auslegung von § 114 ZPO im Ergebnis zu einer anderen Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag gekommen wäre.

4. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.

5. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.