OLG Köln, Urteil vom 26.10.1995 - 7 U 52/95
Fundstelle
openJur 2012, 74983
  • Rkr:
Tenor

1. Das am 30. Januar 1995 verkündete Urteil der 1. Zivilkammer des Landgerichts Bonn - 1 O 377/94 - wird teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefaßt: Die Beklagte zu 1) wird verurteilt, an die Klägerin 3.276,57 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 1. August 1994 zu zahlen. Die weitergehende Klage gegen die Beklagte zu 1) wird abgewiesen. Die Klage gegen den Beklagten zu 2) ist zurückgenommen. 2. Die Kosten des Rechtsstreits werden wie folgt verteilt: I. Instanz:Die Klägerin trägt die außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 2). Von den außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 1) trägt die Klägerin 6,5 %, die Beklagte zu 1) 93,5 % selbst. Von den bis zur Rücknahme der Klage gegen den Beklagten zu 2) am 9. Januar 1995 (vor Eintritt in die mündliche Verhandlung) entstandenen Gerichtskosten und außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt diese 53 %, die Beklagte zu 1) 47 %. Von den danach entstandenen Gerichtskosten und außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt diese 6,5 %, die Beklagte zu 1) 93,5 %. II. Instanz:Die Klägerin trägt 6,5 %, die Beklagte zu 1) 93,5 % der Kosten. Hiervon ausgenommen ist die Urteilsgebühr, die der Beklagten zu 1) zur Last fällt, die jedoch insoweit Kostenfreiheit genießt. 3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

1.

Die Berufung ist entgegen der Ansicht

der Beklagten nur gegen die Beklagte zu 1) eingelegt. Zwar ist in

der Berufungsschrift auch der Beklagte zu 2) als

Berufungsbeklagter genannt. Dabei handelte es sich aber um ein

offensichtliches Versehen, wie die Beklagten unschwer erkennen

konnten. Die Klägerin hatte schon in I. Instanz ihre Klage gegen

den Beklagten zu 2) zurückgenommen. Das angefochtene Urteil

enthält dementsprechend insoweit nur die deklaratorische

Feststellung, daß die Klage gegen den Beklagten zu 2)

zurückgenommen ist. Daß die Klägerin diese Feststellung nicht mit

der Berufung anfechten wollte, verstand sich von selbst.

2.

Die mithin nur gegen die Beklagte zu 1)

geführte Berufung ist zulässig und, nachdem die Klägerin im Termin

vom 21.9.1995 ihren Klageanspruch ermäßigt hat, in vollem Umfang

begründet. Die Beklagte zu 1) hat den der Klägerin durch den Unfall

vom 3.5.1994 entstandene Schaden auch dann in vollem Umfang zu

ersetzen, wenn zu ihren Gunsten davon ausgegangen wird, daß für den

Beklagten zu 2) als Fahrer des in den Unfall verwickelten

Rettungswagens die sachlichen Voraussetzungen für die

Inanspruchnahme von Sonderrechten nach § 35 Abs. 1 bzw. Abs. 5 a

StVO vorlagen.

a)

Unstreitig fuhr der Rettungswagen nur

mit Blaulicht; das Einsatzhorn war nicht in Betrieb.

Das Landgericht ist Seite 6 des

angefochtenen Urteils zu Unrecht davon ausgegangen, gemäß § 38 Abs.

1 StVO ordne das Blaulicht auch ohne gleichzeitige Betätigung des

Einsatzhorns an, "daß alle übrigen Verkehrsteilnehmer sofort freie

Bahn zu schaffen haben, also ohne Rücksicht auf die übliche

Verkehrsregelung dem Einsatzfahrzeug Vorfahrt gewähren müssen". §

38 Abs. 1 StVO - auch dessen hier in Rede stehender Satz 2 -

betrifft die Verwendung von blauem Blinklicht zusammen mit dem

Einsatzhorn. Die Verwendung von blauem Blinklicht allein ist in §

38 Abs. 2 StVO geregelt. Diese Vorschrift sieht gerade nicht vor,

daß alle übrigen Verkehrsteilnehmer dem (nur) mit Blaulicht im

Einsatz befindlichen Fahrzeug sofort freie Bahn zu schaffen haben.

Dementsprechend ist - soweit ersichtlich - allgemein anerkannt,

daß das Vorrecht (nicht im eigentlichen Sinne: Vorfahrtsrecht, vgl.

BGH NJW 1975, 648, 649) des § 38 Abs. 1 Satz 2 StVO nur dem mit

Blaulicht und Einsatzhorn in Betrieb befindlichen Einsatzfahrzeug

zusteht (KG VM 1981, 95; VersR 1987, 822 und 1989, 268; LG

Düsseldorf VersR 1980, 148; Jagusch-Hentschel,

Straßenverkehrsrecht 33. Aufl. § 38 StVO Rdnr. 9, 12;

Drees-Kukkuck-Werry, Straßenverkehrsrecht 7. Aufl. § 38 StVO Rdnr.

1, 2; Kullik NZV 1994, 58, 60 ff.).

b)

Stand dem Beklagten zu 2) mithin nicht

das sogenannte Wegerecht des § 38 Abs. 1 Satz 2 StVO zu, so war er,

sofern die hier unterstellten Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 bzw.

Abs. 5 a StVO vorlagen, dennoch von der Einhaltung der Vorschriften

der StVO befreit, durfte dieses Sonderrecht allerdings nur unter

gebührender Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und

Ordnung ausüben (§ 35 Abs. 8 StVO). Die Inanspruchnahme von

Sonderrechten nach § 35 StVO hängt nämlich nach der eindeutigen

gesetzlichen Regelung nicht von der Betätigung des Einsatzhorns,

übrigens auch nicht des Blaulichts, ab.

Die Einhaltung der durch § 35 Abs. 8

StVO gezogenen Grenze bei der Inanspruchnahme von Sonderrechten ist

eine Amtspflicht, die der Fahrer eines Einsatzwagens gegenüber den

anderen Verkehrsteilnehmern zu erfüllen hat. Sie hat, was zum

Beispiel die hier in Rede stehende Vorfahrtregel betrifft, die

Wirkung, daß der Einsatzfahrer durch sie nicht ein unbedingtes

Vorfahrtsrecht verliehen erhält, sondern lediglich die Befugnis,

grundsätzlich weiterbestehende Vorrechte eines nach den allgemeinen

Regeln Vorfahrtberechtigten unter bestimmten Voraussetzungen zu

"mißachten" (BGH NJW 1971, 616). § 35 StVO gewährt nur Befreiungen

von Pflichten, die den Verkehrsteilnehmern auferlegt sind. Der nach

der allgemeinen Regelung Vorfahrtberechtigte behält deshalb

grundsätzlich sein Vorfahrtsrecht. Es wird nur zugunsten der

Sonderrechtsfahrer beschränkt, so daß diese nur unter Anwendung

größtmöglicher Sorgfalt - soweit möglich auch nur nach

Einschaltung von Blaulicht und Einsatzhorn (Verwaltungsvorschrift

zu § 35 Abs. 1, 5 StVO, abgedruckt z.B. bei Jagusch-Hentschel

a.a.O. § 35 StVO Rdnr. 2 b) - dieses Recht "mißachten" dürfen (BGH

NJW 1975, 648, vgl. ferner Jagusch-Hentschel a.a.O. Rdnr. 4;

Drees-Kuckuck-Werry a.a.O. § 35 StVO Rdnr. 4, 4 a, 5 c, 6 a; Haag

in Geigel, Haftpflichtprozeß 21. Aufl. 27. Kapitel Rdnr. 705).

Der Beklagte zu 2) hat seiner aus § 35

Abs. 8 StVO folgenden Sorgfaltspflicht nicht genügt. Durch die

Betätigung allein des Blaulichts schuf er gerade nicht die

Verpflichtung anderer Verkehrsteilnehmer, ihm gemäß § 38 Abs. 1

Satz 2 StVO sofort freie Bahn zu schaffen (siehe oben unter 2. a)).

Die Betätigung auch des Einsatzhorns vor Óberfahren der für ihn rot

zeigenden Ampel wäre zulässig und möglich gewesen. Offenbar ist sie

nur deshalb unterblieben, weil es sich um eine Einsatzfahrt in der

Nacht handelte. Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob es im

Einzelfall - in Abweichung von der zu § 35 Abs. 1, 5 StVO

erlassenen Verwaltungsvorschrift - vertretbar ist, bei nächtlichen

Einsatzfahrten von der Betätigung des Einsatzhorns abzusehen, wenn

der Einsatzfahrer von seinem Sonderrecht Gebrauch machen will,

insbesondere wenn er eine Ampel bei rot überqueren will - ein

üblicherweise besonders gefährlicher Verkehrsvorgang. Wenn man

diese Frage zugunsten der Beklagten bejaht, so ist doch jedenfalls

unabdingbar, daß sich der Einsatzfahrer vorher besonders

sorgfältig darüber vergewissert, daß vorfahrtberechtigte

Verkehrsteilnehmer entweder nicht vorhanden sind oder ihm den

Vortritt gewähren wollen. (Zum Umfang der Sorgfaltspflicht eines

Einsatzfahrers, auch wenn ihm - anders als hier - das sogenannte

Wegerecht des § 38 Abs. 1 Satz 2 StVO zusteht, vgl. z.B. BGH NJW

1971, 616; KG VM 1982, 37 und VersR 1989, 268; Jagusch-Hentschel

a.a.O. § 35 StVO Rdnr. 8 und § 38 StVO Rdnr. 10;

Drees-Kuckuck-Werry a.a.O. § 35 StVO Rdnr. 4 a und 6 a). Dieser

Pflicht hat der Beklagte zu 2) ersichtlich nicht genügt. Obwohl

nach den Feststellungen des Landgerichts, die die Beklagte zu 1)

nicht in Zweifel zieht, in der Annäherungsphase der beiden

Fahrzeuge beste Sichtmöglichkeit bestand, hat der Beklagte zu 2)

den Pkw der Klägerin, wie er als Zeuge bekundet hat, "praktisch

erst unmittelbar vor dem Zusammenstoß wahrgenommen" (Seite 2 in

Verbindung mit Seite 6 des Sitzungsprotokolls vom 9.1.1995, Bl.

73, 77 GA).

c)

Ein Mitverschulden der Klägerin ist

nicht bewiesen. Da der Beklagte zu 2) nicht das Einsatzhorn

eingeschaltet hatte, oblag ihr nicht die Pflicht, dem

Einsatzfahrzeug sofort freie Bahn zu schaffen. Allerdings muß ein

Verkehrsteilnehmer, der ein Fahrzeug mit blauem Blinklicht

wahrnimmt, dieses in der Regel sorgfältig beobachten, um notfalls

sofort bremsen und anhalten zu können (Drees-Kuckuck-Werry a.a.O. §

38 StVO Rdnr. 1; Jagusch-Hentschel a.a.O. § 38 StVO Rdnr. 9, 12:

Mahnung zu erhöhter Vorsicht). Erhebliche Zweifel bestehen aber

daran, ob die Klägerin, hätte sie das Einsatzfahrzeug rechtzeitig

bemerkt, damit hätte rechnen müssen, daß dieses bei rot in die

Kreuzung einfahren würde (verneinend für eine Fallgestaltung, wie

sie hier in Rede steht, Jagusch-Hentschel a.a.O. Rdnr. 12); denn

das Óberfahren einer roten Ampel trotz bevorrechtigten Verkehrs,

der dem Einsatzfahrzeug nicht erkennbar freie Bahn schafft, ist ein

derart gefährlicher Verkehrsvorgang, daß er grundsätzlich ohne

Betätigung des Einsatzhorns nicht vorgenommen werden darf und

üblicherweise auch nicht vorgenommen wird.

Die Frage kann letztlich unentschieden

bleiben, weil nicht bewiesen ist, daß die Klägerin das mit

Blaulicht herankommende Einsatzfahrzeug vor der Kollision bemerkt

hat. Gegenteiliges ergibt sich entgegen der Ansicht der Beklagten

zu 1) weder aus der Klageschrift - die dortigen Ausführungen Seite

3 betreffen jedenfalls nicht ausdrücklich die Frage, wann die

Klägerin das Einsatzfahrzeug wahrgenommen hat, sondern konnten

durchaus auch in dem Sinn verstanden werden, daß es auf die

Verwendung von Blaulicht rechtlich nicht ankomme (so die

Interpretation ihres erstinstanzlichen Prozeßbevollmächtigten in

der Verhandlung vom 9.1.1995, Seite 2 des Protokolls, Bl. 73 GA) -

noch aus den Angaben der Klä-gerin im genannten Termin (Seite 1-3

des Sitzungsprotokolls): Vor der Kollision habe sie das

Einsatzfahrzeug nicht gesehen; sie könne nicht sagen, ob das

Blaulicht erst kurz vor oder nach dem Zusammenstoß eingeschaltet

worden sei.

Der Klägerin kann ferner kein Vorwurf

daraus gemacht werden, daß sie das Einsatzfahrzeug zu spät bemerkt

hat. Daß sie es, hätte sie nach rechts geschaut, rechtzeitig

bemerkt hätte, ist belanglos. Während der Beklagte zu 2)

verpflichtet war, sorgfältig nach vorfahrtberechtigten

Verkehrsteilnehmern Ausschau zu halten, bevor er sich anschickte,

bei rot in die Kreuzung einzufahren, durfte die Klägerin im

Grundsatz darauf vertrauen, daß sie, als die Ampel für sie grün

zeigte, freie Fahrt hatte, und sie durfte sich auf ihr

beabsichtigtes Fahrverhalten - Abbiegen nach links -

konzentrieren. Sogenannte Nachzügler befanden sich nicht im

Kreuzungsbereich. Blickte die Klägerin geradeaus, so konnte sie das

von rechts herannahende Einsatzfahrzeug nicht bzw. erst zu spät

sehen. Es wäre eine Óberspannung der an einen Fahrzeugführer zu

stellenden Anforderungen, wollte man verlangen, er müsse bei für

ihn grüner Ampel und ersichtlich freiem Kreuzungsbereich

vorsorglich die Fahrtrichtung beobachten, aus der sich nur

Fahrzeuge nähern können, für die die Ampel rot zeigt. Nach dem

Vertrauensgrundsatz kann sich ein Verkehrsteilnehmer in der Regel

darauf verlassen, daß er bei Grünlicht gegen seitlichen Verkehr

abgeschirmt ist (BGH NJW 1971, 1407, 1408; 1977, 1394, 1395). Es

liegen keine Umstände vor, die ein Abweichen von dieser Regel

rechtfertigen, da nicht bewiesen ist, daß die Klägerin das

Blaulicht des Einsatzfahrzeugs rechtzeitig vor der Kollision

bemerkt hat.

d)

Daß möglicherweise die vom Fahrzeug der

Klägerin ausgehende Betriebsgefahr nicht ausgeräumt ist, fällt

angesichts des erheblichen Verschuldens des Beklagten zu 2) und der

hohen Betriebsgefahr, die von einem die Kreuzung bei Rotlicht

passierenden Fahrzeug ausgeht, nicht ins Gewicht.

3.

Die Höhe des der Klägerin entstandenen

Schadens ist außer Streit, nachdem die Klägerin im Termin vom

21.9.1995 ihre Forderung bezüglich Mietwagenkosten auf den von der

Beklagten zu 1) angesetzten Betrag von 1.362,75 DM ermäßigt und die

Position Zinsschaden (6,56 DM) fallengelassen hat.

Der Ersatzbetrag ist mit 4 % ab

1.8.1994 zu verzinsen; auf diesen Zinsbeginn haben sich die

Parteien im Termin vom 21.9.1995 geeinigt (Seite 2 des Protokolls,

Bl. 145 GA).

4.

Die Entscheidung über die Kosten beruht

auf §§ 92 Abs. 1, 269 Abs. 3 Satz 2, 515 Abs. 3 Satz 1 ZPO, die

Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr.

10, 713 ZPO.

Es besteht kein Anlaß, die Revision

zuzulassen.

Streitwert II. Instanz: 3.001,-- DM bis

4.000,-- DM. Die Beschwer der Beklagten zu 1) beträgt 3.276,57

DM.