BVerfG, Beschluss vom 02.07.1998 - 1 BvR 810/90
Fundstelle
openJur 2011, 118928
  • Rkr:
Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Anrechnung

von Zeiten der Kindererziehung in der gesetzlichen

Rentenversicherung für solche Personen, die sich während

der Zeit der Kinderziehung im Ausland - im vorliegenden Fall in

einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union - aufgehalten

haben.

Die am 11. März 1926 geborene

Beschwerdeführerin war bis 1948 im Gebiet der damaligen

sowjetischen Besatzungszone versicherungspflichtig

beschäftigt. Danach lebte sie mit ihrem Ehemann in Belgien.

Dort gingen aus der Ehe drei in der Zeit von 1949 bis 1952 geborene

Kinder hervor. 1957 siedelte die Familie in die Bundesrepublik um,

wo die Beschwerdeführerin in der Zeit von 1962 bis 1977 einer

versicherungspflichtigen Beschäftigung nachging.

Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte

als Beklagte des Ausgangsverfahrens lehnte 1986 bei der

Gewährung von Altersruhegeld die Anerkennung von

Kindererziehungszeiten nach § 28 a des

Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) mit der Begründung ab,

die Beschwerdeführerin habe weder während der

Kindererziehung in Belgien noch unmittelbar vor den Geburten

Beiträge nach dem Angestelltenversicherungsgesetz geleistet.

Im nachfolgenden Klageverfahren hat das Bundessozialgericht mit

Urteil vom 25. April 1990 - 4 RA 48/89 - einen Anspruch der

Beschwerdeführerin auf Anerkennung von Kindererziehungszeiten

verneint. Hiergegen richtet sich die Verfassungsbeschwerde.

II.

Annahmegründe nach § 93 a Abs. 2 BVerfGG

liegen nicht vor. Der Verfassungsbeschwerde kommt weder

grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu noch ist

ihre Annahme zur Durchsetzung von Grundrechten oder

grundrechtsgleichen Rechten angezeigt. Die Verfassungsbeschwerde

bietet, ihre Zulässigkeit unterstellt, keine hinreichende

Aussicht auf Erfolg.

Die der Entscheidung des Bundessozialgerichts

zugrunde liegende Vorschrift des § 28 a AVG in der Fassung des

Art. 7 des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung

(Rentenreformgesetz 1992 - RRG 1992) vom 18. Dezember 1989 (BGBl I S. 2261), die mit der Verfassungsbeschwerde

mittelbar angegriffen wird, verstieß, soweit sie die

rentenrechtliche Anrechnung von Zeiten der Kindererziehung im

Ausland ausschloß, nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG.

1. Es entspricht der Eigenart eines auf

Pflichtbeiträgen der Versicherten aufbauenden

Sozialversicherungssystems, daß es grundsätzlich an

inländische Beschäftigungsverhältnisse

anknüpft, weil die mit einem derartigen System verbundene

zwangsweise Einziehung von Pflichtbeiträgen lediglich

innerhalb der Reichweite der nationalen Hoheitsgewalt erfolgen

kann. Es ist ein verfassungsrechtlich grundsätzlich nicht zu

beanstandendes Ziel nationaler Sozialpolitik, sozial relevante

Tatbestände im eigenen Staatsgebiet zu formen und zu regeln;

dies geschieht ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit

dessen, der den Tatbestand verwirklicht. Systemgerechter

Anknüpfungspunkt für die mitgliedschaftliche Einbeziehung

in nationale Sozialversicherungssysteme ist daher der

gewöhnliche Aufenthalt einer Person im jeweiligen Staatsgebiet

und nicht die Staatsangehörigkeit. Soweit ersichtlich hat sich

dieses System in allen nationalen Sozialversicherungssystemen

durchgesetzt. Davon kennt das deutsche Sozialversicherungsrecht

Ausnahmen (vgl. §§ 4, 5 SGB IV), die aber im vorliegenden

Fall nicht einschlägig sind.

2. An diesem historisch gewachsenen Schutzbereich

der Sozialversicherung und insbesondere der gesetzlichen

Rentenversicherung hat sich der Gesetzgeber bei der territorialen

Begrenzung der Anrechnung von Kindererziehungszeiten in

sachgerechter Weise orientiert. Nur wer sich danach noch im

sozialen Verantwortungsbereich der Bundesrepublik Deutschland

aufhält, soll auch im Falle der Kindererziehung rentenwirksam

abgesichert werden.

Wer sich dagegen, wie die Beschwerdeführerin es

getan hat, in ein ausländisches Rechts-, Wirtschafts- und

Sozialsystem integriert, befindet sich für die Dauer dieser

Integration nicht mehr im Verantwortungsbereich der bundesdeutschen

Rentenversicherung. Er partizipiert vielmehr regelmäßig

an den dort im Falle der Kindererziehung gewährten

Sozialleistungen. Bereits die Vermeidung des Bezugs von

Doppelleistungen rechtfertigt daher den Staatsgebietsbezug bei der

Anerkennung von Kindererziehungszeiten.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.