BSG, Urteil vom 18.11.2008 - B 2 U 14/07 R
Fundstelle
openJur 2011, 96299
  • Rkr:
Tatbestand

Umstritten ist die Feststellung einer Berufskrankheit (BK) und die Zahlung einer Verletztenrente.

Der im Jahre 1943 geborene Kläger ist von Beruf Kfz-Meister. Er war in diesem Beruf seit 1966 selbstständig tätig, hauptsächlich befasste er sich mit dem Verkauf, der Kfz-Instandhaltung, einem Abschleppdienst und bis 1992 mit einem Tankstellenbetrieb. In der Werkstatt seien Getriebe von erheblichem Gewicht von Hand ein- und ausgebaut worden. Saisonbedingt habe er Reifen von zum Teil mehr als 25 kg an ca 15 Fahrzeugen täglich gewechselt. Am 30.4.1995 übergab der Kläger die Firma an seine Tochter. Er bezog ab Mai 1995 eine Berufsunfähigkeitsrente sowie ab Dezember 1997 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.

Der Kläger beantragte am 30.1.1995 bei der beklagten Berufsgenossenschaft für Handel und Warendistribution die Anerkennung einer BK wegen Bandscheibenerkrankung der Lendenwirbelsäule (LWS). Der Technische Aufsichtsdienst (TAD) der Beklagten erachtete in einer Stellungnahme die berufliche Belastung des Klägers als geeignet, eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS zu verursachen. Nach Einholung mehrerer medizinischer Stellungnahmen und Gutachten lehnte die Beklagte die Anerkennung und Entschädigung der Krankheit des Klägers als BK nach Nr 2108 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV; im Folgenden: BK 2108) ab (Bescheid vom 26.6.1996; Widerspruchsbescheid vom 23.12.1996). Nach den fachärztlichen Gutachten entspreche der Verschleiß im Bereich der LWS dem Alter des Klägers. Auch zeigten sich altersentsprechende Veränderungen im Bereich der unteren Hals- und ausgeprägter im Bereich der Brustwirbelsäule. Ein Zusammenhang der Beschwerden des Klägers an der LWS mit dessen beruflicher Tätigkeit könne nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit festgestellt werden.

Das Sozialgericht (SG) Nürnberg hat die Beklagte nach Durchführung weiterer medizinischer Ermittlungen verurteilt, das Bandscheibenleiden der LWS als BK 2108 anzuerkennen und dem Kläger ab 1.6.1995 Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 vH zu zahlen (Urteil vom 4.5.1999 - S 6 U 18/97). Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 5.12.2006 - L 17 U 245/99). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe zwar eine beruflich belastende Tätigkeit im Kfz-Gewerbe ausgeübt. Ob die medizinischen Voraussetzungen für das Vorliegen einer BK 2108 erfüllt seien, könne dahingestellt bleiben, denn jedenfalls seien beim Kläger die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK 2108 nicht erfüllt. Ausgehend von den Beurteilungen des Dipl.-Ing. R. (R) vom 31.8.2003, 28.7.2004, 1.8.2005, 3.4.2006 und 30.10.2006 seien die nach dem Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD) zu fordernden beruflichen Einwirkungen iS der BK 2108 nicht gegeben. Nach diesem Modell errechne sich für den Kläger eine Gesamtdosis im Beurteilungszeitraum von 15,9 MNh. Weil damit der Richtwert von 25 MNh nach dem MDD deutlich unterschritten sei, sei ein erhöhtes Risiko für eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS nicht anzunehmen. Die Berechnungen der anderen arbeitstechnischen Sachverständigen seien mit den Grundsätzen des MDD einerseits und den tatsächlichen Verhältnissen andererseits nicht in Einklang zu bringen.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht der Kläger geltend, in einem Revisionsverfahren sei nicht der Hauptgeschäftsführer, sondern der Vorstand gesetzlicher Vertreter der Beklagten (unter Hinweis auf §§ 35, 36 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch <SGB IV>). Das Urteil des LSG verletze den Grundsatz eines fairen Verfahrens (Art 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention <EMRK>), weil das Verfahren vor dem LSG eine nicht mehr akzeptable Dauer beansprucht habe. Auf Grund der überlangen Dauer des Verwaltungs- und Gerichtsverfahrens sei es geboten, dass das Bundessozialgericht (BSG) durchentscheide, indem es das Urteil des SG wiederherstelle, ohne die Sache an das LSG zurückzuverweisen. Trotz der langen Verfahrensdauer habe das LSG kein unabhängiges arbeitstechnisches Sachverständigengutachten eingeholt. Das Urteil dürfe nicht auf das MDD gestützt werden, bei dem es sich um ein unter Federführung des Verbandes der Berufsgenossenschaften, also eines Beklagtenverbandes, erstelltes kartellartiges Regelwerk handele. Art 6 EMRK sei auch dadurch verletzt, dass das LSG ein solches Regelwerk zur Voraussetzung der Entschädigung mache. Die Anwendung des MDD sei auf Grund des neuen Merkblatts zur BK Nr 2108 rechtswidrig, weil die durch das Merkblatt verursachte weitgehende Einschränkung der Voraussetzungen für die Feststellung einer BK 2108 dem Normgeber selbst vorbehalten sei. Das LSG habe sein Urteil nicht auf die Expertise des "Parteibeamten der Beklagten" Dipl.-Ing. R. stützen dürfen. In einem Gerichtsverfahren sei es unzulässig, dass das Gutachten eines Beamten der Beklagten den Ausschlag gebe. Denke man das MDD hinweg, bewende es bei der zutreffenden Feststellung der Beklagten vom 24.1.1996, wonach im Falle des Klägers die arbeitstechnischen Voraussetzungen gegeben seien.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 5.12.2006 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 4. Mai 1999 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuweisen.

Die Beklagte führt aus, sie werde durch den Geschäftsführer - auch - im gerichtlichen Verfahren vertreten (unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 13.10.1993 - 2 RU 53/92). Dies gelte auch, wenn die zu entscheidende Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung habe. Der vom Kläger gerügte Mangel der überlangen Verfahrensdauer könne im Revisionsverfahren nicht behoben werden, die Rüge führe nicht zu einem anderen Ergebnis in der Sache. Soweit der Kläger die Beurteilung der arbeitstechnischen Voraussetzungen nach Maßgabe des MDD rüge, habe sich das BSG bereits mehrfach mit dem MDD auseinandergesetzt. Das MDD sei zumindest derzeit ein geeignetes Modell zur Beschreibung der versicherten Einwirkung iS der BK 2108. Da das LSG die Orientierungswerte des MDD nicht nach der Maßgabe der Entscheidung des BSG vom 30.10.2007 angewendet habe, fehle es jedoch an hinreichenden Feststellungen, um das Vorliegen einer BK 2108 feststellen zu können, insbesondere seien weitere medizinische Ermittlungen geboten.

Gründe

Die Revision des Klägers ist zulässig.

Das BSG war nicht etwa deshalb gehindert, über die Revision zu verhandeln und zu entscheiden, weil die selbst nicht prozessfähige Revisionsbeklagte nicht ordnungsgemäß vertreten gewesen wäre. Der Kläger hat insoweit gerügt, gesetzlicher Vertreter der Beklagten sei "im Grundsatzfall" nicht der Geschäftsführer der Beklagten, sondern deren Vorstand. Die Beklagte war jedoch ordnungsgemäß vertreten (§ 73 Abs 3 Satz 1 und 3 Sozialgerichtsgesetz <SGG>) .

Zwar ist die gerichtliche Vertretung des Versicherungsträgers nach § 35 Abs 1 Satz 1 SGB IV seinem Vorstand zugewiesen, dies aber nur, soweit ua das Gesetz nichts Abweichendes bestimmt. Dies ist in § 36 Abs 1 SGB IV insoweit geschehen, als dem Geschäftsführer, also einem anderen Organ des Trägers, die gerichtliche Vertretung in laufenden Verwaltungsgeschäften zugewiesen ist. Grundsätzlich und faktisch in aller Regel fällt auch die gerichtliche Vertretung des Unfallversicherungsträgers vor dem BSG jedenfalls in Streitigkeiten aus einem behaupteten Leistungsrechtsverhältnis (Versicherteneigenschaft, Versicherungsfall, Ansprüche auf Versicherungsleistungen etc) in die Organzuständigkeit des Geschäftsführers, weil es sich dabei nahezu stets um Geschäfte der laufenden Verwaltung handelt. Hingegen steht der Rechtsbegriff der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 1 Nr 1 SGG) im Sinne des gerichtlichen Prozessrechts in keinem sachlichen Zusammenhang mit dem in § 36 Abs 1 SGB IV verwendeten verwaltungsorganisationsrechtlichen Begriff der laufenden Geschäfte eines Versicherungsträgers. Das zeigt sich auch daran, dass die Entscheidung des BSG über die Revision nur den Einzelfall betrifft und nur die Beteiligten bindet (§ 141 Abs 1 SGG), die Verwaltung im Einzelfall aber zum täglichen Geschäft des Versicherungsträgers gehört.

Ferner war das zur gerichtlichen Vertretung der Beklagten vor dem BSG zuständige Organ der Beklagten, der Geschäftsführer, durch den dazu berufenen und prozessfähigen Organwalter Dr. H. vertreten. Dieser hat sich durch einen von ihm bevollmächtigten und bei der Beklagten beschäftigten Volljuristen vertreten lassen, der sich durch eine entsprechende Vollmachtsurkunde des Geschäftsführers legitimiert hat.

1. Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG), da die vom LSG festgestellten Tatsachen für eine abschließende Entscheidung durch den Senat nicht ausreichen.

Gegenstand der Revision ist die vom Kläger erstrebte Zurückweisung der Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG, durch das sie zur Anerkennung der BK 2108 und zur Zahlung einer Verletztenrente verurteilt worden ist. Die erhobenen Klagen sind als Anfechtungsklage, gegen die ablehnenden Entscheidungen im Bescheid vom 26.6.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23.12.1996, verbunden mit der auf Feststellung einer BK gerichteten Feststellungsklage und der auf die Verurteilung zu der abgelehnten Rentenzahlung gerichteten unechten Leistungsklage zulässig.

Die erhobenen Ansprüche beurteilen sich nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO), weil die von dem Kläger im Januar 1995 geltend gemachte BK spätestens vor diesem Zeitpunkt und damit vor Inkrafttreten des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) am 1.1.1997 aufgetreten sein soll (Art 36 des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes, § 212 SGB VII). Das Begehren des Klägers kann danach nur Erfolg haben, wenn er als Versicherter einen Versicherungsfall erlitten hat.

a) Ob ein Versicherungsfall eingetreten ist, den die Beklagte gegenüber dem Kläger festzustellen hat und auf Grund dessen dem Kläger Ansprüche gegen die Beklagte zustehen könnten, kann der Senat mangels ausreichender Feststellungen des LSG nicht beurteilen.

Als Versicherungsfall macht der Kläger eine Berufskrankheit geltend. Nach § 551 Abs 1 Satz 1 RVO gilt als Arbeitsunfall auch eine Berufskrankheit. Das sind Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats bezeichnet hat (aa) und die ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten (bb) erleidet (§ 551 Abs 1 Satz 2 RVO; jetzt § 9 Abs 1 Satz 1 SGB VII) .

aa) Der Kläger macht eine in der Anlage zur BKV bezeichnete BK geltend.

Die Bundesregierung ist ermächtigt, in einer Rechtsverordnung solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht worden sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind (§ 551 Abs 1 Satz 3 RVO; jetzt § 9 Abs 1 Satz 2 SGB VII; sog Listenprinzip). Von der Ermächtigung hat die Bundesregierung durch Erlass der BKV Gebrauch gemacht. Sie hat in der Anlage zur BKV unter Nr 2108 folgende Berufskrankheit bezeichnet: "Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können".

bb) Ob der Kläger den Anforderungen des § 551 Abs 1 Satz 2 RVO (jetzt: § 9 Abs 1 Satz 1 SGB VII) entsprechend "Versicherter" war und als solcher bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten die geltend gemachte BK erlitten hat, lässt sich dem Urteil des LSG nicht entnehmen.

Das LSG hat nicht festgestellt, ob der Kläger bei der Ausübung der Tätigkeit als selbstständiger Kfz-Meister "Versicherter" war. Dies erscheint möglich (§ 3 Abs 1 Nr 1, § 6 Abs 1 Nr 1 SGB VII), bedarf aber insbesondere für selbstständig erwerbstätige Personen der Feststellung durch die Tatsachengerichte.

b) Der Senat kann auch nicht beurteilen, ob bei dem Kläger die tatbestandlichen Voraussetzungen der BK 2108 erfüllt sind.

Nach dem Tatbestand der oben bezeichneten BK 2108 muss der Versicherte auf Grund einer versicherten Tätigkeit langjährig schwer gehoben und getragen bzw in extremer Rumpfbeugehaltung gearbeitet haben. Durch die spezifischen der versicherten Tätigkeit zuzurechnenden besonderen Einwirkungen muss eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS entstanden sein und noch bestehen. Zwischen der versicherten Tätigkeit und den schädigenden Einwirkungen muss ein sachlicher Zusammenhang und zwischen diesen Einwirkungen und der Erkrankung muss ein (wesentlicher) Ursachenzusammenhang bestehen. Der Versicherte muss darüber hinaus gezwungen gewesen sein, alle gefährdenden Tätigkeiten aufzugeben. Als Folge dieses Zwangs muss die Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit tatsächlich erfolgt sein. Fehlt eine dieser Voraussetzungen, liegt eine BK 2108 nicht vor (BSG, Urteil vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - RdNr 16 f) .

Das LSG hat die von ihm als "arbeitstechnische Voraussetzungen" bezeichneten hinreichenden beruflichen Einwirkungen auf den Kläger durch langjähriges schweres Heben und Tragen bzw Arbeit in Rumpfbeugehaltung zu Unrecht verneint. Zwar war zum Zeitpunkt der Entscheidung durch das LSG auf der Grundlage der damaligen Rechtsprechung des BSG nicht zu beanstanden, dass das LSG ausgehend von dem MDD bei dem Kläger eine Gesamtbelastungsdosis deutlich unterhalb des Orientierungswertes von 25 MNh festgestellt hat. Nach Maßgabe der im Urteil des Senats vom 30.10.2007 (B 2 U 4/06 R) aufgestellten Kriterien zur Bestimmung des Ausmaßes der erforderlichen Einwirkung bei der BK 2108 unter Berücksichtigung der Erkenntnisse der Deutschen Wirbelsäulenstudie kann die vom LSG vorgenommene Berechnung der individuellen Belastungsdosis des Klägers allerdings keinen Bestand mehr haben.

Das MDD ist, in den Grenzen seiner Thematik, weiterhin eine geeignete Grundlage zur Konkretisierung der im Text der BK 2108 mit den unbestimmten Rechtsbegriffen "langjähriges" Heben und Tragen "schwerer" Lasten oder "langjährige" Tätigkeit in "extremer Rumpfbeugehaltung" nur richtungweisend umschriebenen Einwirkungen (BSG, Urteil vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - RdNr 22) .

Allerdings legt das MDD selbst für die Belastung durch Heben und Tragen keine Mindestwerte fest, die erreicht werden müssen, damit von einem erhöhten Risiko von Bandscheibenschäden durch die berufliche Tätigkeit ausgegangen werden kann. Die auf Grund einer retrospektiven Belastungsermittlung für risikobehaftete Tätigkeitsfelder ermittelten Werte, insbesondere die Richtwerte für die Gesamtbelastungsdosis sind nicht als Grenzwerte, sondern als Orientierungswerte oder -vorschläge zu verstehen. Von diesem Verständnis geht auch das aktuelle Merkblatt des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung zur BK 2108 aus, das für eine zusammenfassende Bewertung der Wirbelsäulenbelastung auf das MDD verweist (BArbBl 2006, Heft 10 S 30 ff). Danach sind zwar die arbeitstechnischen Voraussetzungen für eine BK 2108 zu bejahen, wenn die Richtwerte im Einzelfall erreicht oder überschritten werden (ASUMed 1999, 112, 119) ; umgekehrt schließt aber ein Unterschreiten dieser Werte das Vorliegen der BK nicht von vornherein aus (dazu BSG, Urteil vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - RdNr 18) .

Orientierungswerte sind andererseits keine unverbindlichen Größen, die beliebig unterschritten werden können. Ihre Funktion besteht in dem hier interessierenden Zusammenhang darin, zumindest die Größenordnung festzulegen, ab der die Wirbelsäule belastende Tätigkeiten als potentiell gesundheitsschädlich einzustufen sind. Die Mindestbelastungswerte müssen naturgemäß niedriger angesetzt werden, weil sie ihrer Funktion als Ausschlusskriterium auch noch in besonders gelagerten Fällen, etwa beim Zusammenwirken des Hebens und Tragens mit anderen schädlichen Einwirkungen, gerecht werden müssen. Werden die Orientierungswerte jedoch so deutlich unterschritten, dass das Gefährdungsniveau nicht annähernd erreicht wird, so ist das Vorliegen einer BK 2108 zu verneinen, ohne dass es weiterer Feststellungen zum Krankheitsbild und zum medizinischen Kausalzusammenhang im Einzelfall bedarf (BSG, Urteil vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - RdNr 19) .

Der Senat hat deshalb in der genannten Entscheidung seine frühere Rechtsprechung auf der Grundlage der Erkenntnisse der "Deutsche Wirbelsäulenstudie" (www.dguv.de/inhalt/ leistungen/versschutz/bk/wirbelsaeule/index.html) weiterentwickelt und entschieden, dass das MDD in seiner Funktion als Konkretisierung des Ausmaßes der für die BK 2108 erforderlichen beruflichen Einwirkung derzeit nicht durch ein anderes gleichermaßen geeignetes Modell ersetzt werden kann. Entgegen der Auffassung des Klägers ist dabei unerheblich, welche Personen oder Institutionen das MDD erarbeitet haben, wenn sich - wie hier - die Ergebnisse des Modells als wissenschaftlich gut bestätigt erweisen. Das MDD bedarf aber auf Grund der neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse der Modifikation in folgender Hinsicht:

(1) Die dem MDD zu Grunde liegende Mindestdruckkraft pro Arbeitsvorgang ist bei Männern mit dem Wert 2.700 N pro Arbeitsvorgang anzusetzen.

(2) Auf eine Mindesttagesdosis ist nach dem Ergebnis der Deutschen Wirbelsäulenstudie zu verzichten. Alle Hebe- und Tragebelastungen, die die aufgezeigte Mindestbelastung von 2.700 N bei Männern erreichen, sind entsprechend dem quadratischen Ansatz (Kraft mal Kraft mal Zeit) zu berechnen und aufzuaddieren (BSG, Urteil vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - RdNr 23 f) .

(3) Der untere Grenzwert, bei dessen Unterschreitung nach gegenwärtigem Wissensstand ein Kausalzusammenhang zwischen beruflichen Einwirkungen und bandscheibenbedingter Erkrankung der LWS ausgeschlossen und deshalb auf einzelfallbezogene medizinische Ermittlungen verzichtet werden kann, ist auf die Hälfte des im MDD vorgeschlagenen Orientierungswertes für die Gesamtbelastungsdosis von 25 MNh, also auf 12,5 MNh, herabzusetzen (BSG, Urteil vom 30.10.2007 - B 2 U 4/06 R - RdNr 25) .

Auf Grund der neuen Maßstäbe für die Ermittlung der beruflichen Einwirkung, bei der weitere Belastungen berücksichtigt und die Grenzwerte abgesenkt werden, gehören weit mehr Versicherte als bisher zu dem Personenkreis, bei dem eine Anerkennung von Wirbelsäulenschäden als BK in Betracht kommt. Das bedeutet aber nicht, dass der (wesentliche) Ursachenzusammenhang zwischen den beruflichen Einwirkungen und der festgestellten Wirbelsäulenerkrankung beim Erreichen der Mindestdosis gleichsam "automatisch", dh ohne genaue (ua medizinische) Prüfung der Umstände des Einzelfalls anzunehmen ist. Vielmehr sind Art, Umfang und Dauer der beruflichen Exposition nur der Ausgangspunkt der Beurteilung des Ursachenzusammenhangs (BSG vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291, 294 RdNr 19 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7) .

Das LSG hat die maßgeblichen beruflichen Einwirkungen in beiden genannten Punkten (Mindestdruckkraft, Grenzwert) nicht nach Maßgabe der neueren Rechtsprechung des BSG ermittelt. Die im Urteil des LSG getroffenen Feststellungen reichen daher nicht aus, um abschließend über die Anfechtungs-, Feststellungs- und Leistungsklage des Klägers entscheiden zu können. Da das BSG solche Einzelfalltatsachen nicht selbst ermitteln darf (§ 163 SGG), ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG), damit die noch notwendigen Feststellungen nachgeholt werden können. Art 6 Abs 1 Satz 1 EMRK steht der Zurückverweisung entgegen der Ansicht des Klägers nicht entgegen, weil ohne sie kein Sachverhalt festgestellt werden kann, der eine abschließende Entscheidung über den Rechtsstreit erlaubt.

Das LSG wird neben der Ermittlung der beruflichen Einwirkungen auf den Kläger nach den oben genannten Maßstäben auch die Frage zu beantworten haben, ob der Kläger bei Ausübung seiner selbstständigen Tätigkeit als Kfz-Meister "Versicherter" iS des § 551 Abs 1 Satz 2 RVO (jetzt: § 9 Abs 1 Satz 1 SGB VII) war. Darüber hinaus dürfte es angezeigt sein, zu ermitteln, ob der Kläger die gefährdenden Tätigkeiten endgültig aufgegeben hat. Das LSG hat insoweit festgestellt, der Kläger habe den Betrieb, in dem die angeschuldigte Tätigkeit ausgeübt worden ist, 1995 an seine Tochter übergeben. Erforderlich ist nach dem Tatbestand der BK 2108 aber die endgültige Aufgabe aller gefährdenden Tätigkeiten.

Nach Durchführung der gebotenen Ermittlungen ist es dem LSG im Rahmen der richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) allerdings unbenommen, sich sowohl auf Aussagen des Klägers als auch auf verwertbare Gutachten oder Stellungnahmen eines "Beklagtenbeamten" zu stützen. Entgegen der Ansicht des Revisionsklägers ist sowohl das Verwaltungs- als auch das Gerichtsverfahren auf die Mitwirkung der Beteiligten angelegt (vgl § 103 Satz 1, § 106 Abs 1 und Abs 2 Nr 7 SGG). Auch ist zu würdigen, dass sich der Kläger gegen die Berücksichtigung der ihm ungünstigen Stellungnahmen der Beklagten verwahrt, den Anspruch aber zugleich auf die ihm günstige Expertise der Beklagten vom 24.1.1996 stützen will.

Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.