BSG, Urteil vom 18.03.2008 - B 2 U 1/07 R
Fundstelle
openJur 2011, 96124
  • Rkr:

1. Die Versagung von Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung setzt einen Ursachenzusammenhang zwischen der strafbaren Handlung und dem Versicherungsfall voraus. 2. Bei der Ermessensausübung sind zu berücksichtigen: die Handlung als solche, das berufliche Umfeld, die Auswirkungen der Entscheidung auf die persönlichen Verhältnisse des Versicherten und eine Gesamtbetrachtung der gewährten und versagten Leistungen.

Tatbestand

Umstritten ist die Versagung von Leistungen nach § 101 Abs 2 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) für einen anerkannten Arbeitsunfall.

Der im Jahr 1958 geborene Kläger absolvierte als berufsfördernde Maßnahme ein Praktikum. Auf der Fahrt von seiner Wohnung zur Praktikumsstelle kollidierte er am 31. Januar 1997 gegen 6:50 Uhr mit einem entgegenkommenden Pkw, dessen Fahrerin verletzt wurde, als der Kläger vor einer Bergkuppe und einer Rechtskurve mit seinem Pkw eine Fahrzeugkolonne überholte. Arbeitsunfähig war er bis zum 30. Juni 1997, die verbliebenen Unfallfolgen an seinem linken Bein wurden zunächst mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 vH und ab 31. Januar 2000 mit 20 vH auf Dauer in ärztlichen Gutachten eingeschätzt. Vom Amtsgericht H. (Urteil vom 19. Januar 1998 - 11 Js 4797.4/97-54 Ds) wurde der Kläger rechtskräftig aufgrund des Geschehens wegen vorsätzlicher Straßenverkehrsgefährdung in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen verurteilt und ihm für drei Monate die Fahrerlaubnis entzogen (§ 315c Abs 1 Nr 2, Abs 3 Nr 1, §§ 230, 52, 44 Strafgesetzbuch <StGB>). Die beklagte Berufsgenossenschaft lehnte zunächst die Gewährung von Entschädigungsleistungen aufgrund des Unfalls ab, weil der Versicherungsschutz wegen rücksichtslosen Verhaltens im Straßenverkehr zu versagen sei (Bescheid vom 14. Juli 1998). Nachdem der Senat in dem sich anschließenden Klageverfahren die Beklagte verurteilt hatte, den Kläger für die Folgen des am 31. Januar 1997 erlittenen Arbeitsunfalls zu entschädigen (Urteil vom 4. Juni 2002 - B 2 U 11/01 R - SozR 3-2700 § 8 Nr 10), erkannte sie den Unfall als Wegeunfall an. Sie versagte jedoch unter Hinweis auf das Unfallgeschehen und das Urteil des Amtsgerichts H. teilweise die Leistungen nach § 101 Abs 2 SGB VII, der Anspruch auf Heilbehandlung bleibe bestehen, die Gewährung von Geldleistungen werde abgelehnt (Bescheid vom 23. April 2003, Widerspruchsbescheid vom 1. Juli 2003).

Das angerufene Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 7. März 2005). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 21. November 2006) und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Die Voraussetzungen des § 101 Abs 2 Satz 1 SGB VII seien erfüllt. Der Versicherungsfall sei bei einer vom Kläger begangenen Handlung eingetreten, wegen der er vom Amtsgericht H. rechtskräftig wegen eines vorsätzlichen Vergehens der Straßenverkehrsgefährdung verurteilt worden sei. Der Versicherungsfall sei auch bei Begehung der Straftat eingetreten, denn die vorsätzliche Straßenverkehrsgefährdung habe den Unfall wesentlich mitverursacht. Die Beklagte habe von dem ihr eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht. § 101 Abs 2 SGB VII selbst enthalte keine Angaben zu den anzustellenden Ermessenserwägungen. Sein Sinn sei es jedoch, einen Ausgleich zu schaffen zwischen dem Grundsatz, dass das Sozialrecht keine strafrechtlichen Funktionen wahrzunehmen habe einerseits, und dem sozialethisch kaum tolerierbaren Ergebnis andererseits, dass schwere Strafverstöße durch Sozialleistungen "belohnt" würden. Dies folge auch aus der Zusammenschau von § 101 Abs 2 SGB VII und § 7 Abs 2 SGB VII, nach dem verbotswidriges Handeln einen Versicherungsfall nicht ausschließe. Bei der Ausübung des Ermessens seien die Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, die Art und Ausführung der Tat, die Handlungssituation (zB Druck des Arbeitgebers), der Verschuldensgrad, ob die Straftat auf eine bewusste Schädigung anderer angelegt gewesen sei, ob der Versicherte nur sich selbst in Gefahr gebracht habe, ob die strafbare Handlung vom Standpunkt des Versicherten im Interesse der versicherten Tätigkeit lag, ebenso die individuellen, einschließlich wirtschaftlichen Verhältnisse des Versicherten. Im Rahmen der seitens des Gerichts nur zulässigen Rechtskontrolle sei die Ermessensentscheidung der Beklagten vorliegend nicht zu beanstanden. Es liege keine Ermessensreduzierung auf Null vor, denn dafür seien keine Anhaltspunkte, wie zB bei einem Kurierfahrer mit sehr engen Zeitvorgaben des Arbeitgebers, zu erkennen. Es liege auch keine fehlerhafte Ermessensbetätigung vor. Die Beklagte habe ihren Bescheid mit dem anzustrebenden Ausgleich zwischen dem Grundsatz "keine strafrechtliche Funktion des Sozialrechts" und dem kaum tolerierbaren Ergebnis "keine 'Belohnung' schwerer Strafverstöße" begründet. Sie habe berücksichtigt, dass der Kläger andere in Gefahr gebracht und erhebliche Kosten verursacht habe, ebenso den Grad des Verschuldens, die Bedeutung der verletzten Straftatbestände, den Missbrauch der Risikogemeinschaft, die wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers, nicht aber seinen Sachschaden. Hinsichtlich der Einkommensverhältnisse sei zu berücksichtigen, dass der Kläger während seiner Arbeitsunfähigkeit aufgrund des Unfalls Verletztengeld erhalten habe und anschließend kurzfristig arbeitslos gewesen sei. Die spätere wiederholte Arbeitslosigkeit des Klägers habe sie nicht berücksichtigen müssen. Im Übrigen habe die Beklagte die Übernahme der Heilbehandlungskosten nicht abgelehnt.

Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung formellen und materiellen Rechts und macht geltend: Es fehle der Kausalzusammenhang zwischen der strafbaren Handlung und dem Versicherungsfall, denn der Unfall sei nicht "bei" der Verletzung der Straßenverkehrspflichten eingetreten. Es sei ihm nicht um eine Verkehrsgefährdung gegangen, sondern um die rechtzeitige Aufnahme der Arbeit. Die von ihm begehrte Verletztenrente diene nicht der "Belohnung" eines strafbaren Verhaltens, sondern dem Ausgleich immateriellen Schadens und einem abstrakten errechneten Verdienstausfall. Dass er keine Sozialhilfe in Anspruch genommen habe, rechtfertige nicht die Leistungsverweigerung. Die Beklagte habe sich mit seiner finanziellen Situation nicht auseinander gesetzt. Sie habe die Folgen des Unfalls und der anschließenden Arbeitsunfähigkeit für seine berufliche Situation nicht ausreichend berücksichtigt. Dass er andere in Gefahr gebracht und erhebliche Kosten verursacht habe, sei für ihn nicht vorhersehbar gewesen und als Kriterium für die anzustellende Ermessensbeurteilung ungeeignet. Soweit die Beklagte darauf abgestellt habe, habe sie ermessensfehlerhaft gehandelt. Das LSG habe eine Art "Gesamtbilanz" aufgestellt, wenn es ausführe, dass ein Teil der Leistungen - nämlich die Heilbehandlungskosten - nicht versagt worden seien. Deren Versagung würde jedoch gegen den Sinn und Zweck der gesetzlichen Unfallversicherung (Hinweis auf § 1 Nr 2 SGB VII) sowie § 11 Abs 5 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) verstoßen. Im Übrigen sei dann wohl die gesetzliche Krankenversicherung leistungspflichtig. Auch seine spätere wiederholte Arbeitslosigkeit müsse berücksichtigt werden, da er pünktlich zur Arbeit habe kommen wollen, um zu erreichen, dass sein Praktikum in eine Dauerstelle umgewandelt werde. Es liege eine willkürliche Ungleichbehandlung gegenüber anderen Unfallopfern vor. Der Senat habe durch Urteil vom 12. April 2005 - B 2 U 11/04 R - trotz einer von dem Versicherten selbst verschuldeten Explosion, die zu seinem Tode geführt habe und als Verbrechen in Form einer Brandstiftung strafbar sei, den Hinterbliebenen ungekürzte Leistungen zugesprochen. Dann habe er erst recht Anspruch auf ungekürzte Leistung, weil seine strafbare Handlung nicht auf eine Befriedigung eigenwirtschaftlicher Interessen - Rauchen einer Zigarette -, sondern das pünktliche Erreichen der Arbeitsstelle gerichtet gewesen sei.

Der Kläger beantragt,

die Urteile des Hessischen Landessozialgerichts vom 21. November 2006 und des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 7. März 2005 sowie den Bescheid der Beklagten vom 23. April 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Juli 2003 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 vH für die Zeit vom 1. Juli 1997 bis zum 31. Januar 2000 und nach einer MdE von 20 vH für die Zeit ab 1. Februar 2000 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Gründe

Die Revision des Klägers ist unbegründet. Das LSG hat zu Recht seine Berufung gegen das klageabweisende Urteil des SG zurückgewiesen. Denn die Beklagte hat die Gewährung von weiteren Geldleistungen aufgrund des Arbeitsunfalls vom 31. Januar 1997 ermessensfehlerfrei abgelehnt.

Gemäß § 101 Abs 2 Satz 1 SGB VII können Leistungen ganz oder teilweise versagt oder entzogen werden, wenn der Versicherungsfall bei einer vom Versicherten begangenen Handlung eingetreten ist, die nach rechtskräftigem strafgerichtlichen Urteil ein Verbrechen oder vorsätzliches Vergehen ist. Diesen Voraussetzungen wird der angefochtene Bescheid der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheides gerecht, weil der Arbeitsunfall des Klägers vom 31. Januar 1997 bei einer von ihm begangenen Handlung eingetreten ist, die nach rechtskräftigem strafgerichtlichen Urteil des Amtsgerichts H. ein vorsätzliches Vergehen ist (dazu 1.) und die teilweise Versagung der Leistungen, einschließlich der Verletztenrente, durch die Beklagte rechtlich, insbesondere im Hinblick auf die Ermessensausübung, nicht zu beanstanden ist (dazu 2.).

1. Der Versicherungsfall ist "bei" einer strafbaren Handlung in diesem Sinne eingetreten. Der Revision ist zuzugeben, dass dieses "bei" einen Ursachenzusammenhang zwischen der Handlung und dem Arbeitsunfall erfordert und es nicht genügt, dass "bei Gelegenheit" einer solchen strafbaren Handlung sich gleichzeitig ein Versicherungsfall ereignet, ohne dass ein Ursachenzusammenhang zwischen der strafbaren Handlung und dem Versicherungsfall besteht (so schon Urteil des Senats vom 24. August 1966 - 2 RU 176/65 - BSGE 25, 161, 163 = SozR Nr 1 zu § 557 RVO aF zum insofern ähnlich formulierten, damals anzuwendenden § 557 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung <RVO>; vgl im Übrigen zur heutigen Rechtslage nur Burchardt in Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd 3, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand Juli 2007, § 101 RdNr 20 mwN).

Zu dem Arbeitsunfall ist es gekommen, als der Kläger morgens auf dem Weg von seiner Wohnung zu seiner Praktikumsstelle vor einer Bergkuppe und einer Rechtskurve mit seinem Pkw eine Fahrzeugkolonne überholte und mit einem entgegenkommenden Pkw, dessen Fahrerin verletzt wurde, kollidierte. Ursache für den Unfall war die Handlung "Überholen des Klägers". Diese Handlung "Überholen" und der sich dabei ereignende Unfall haben zu der rechtskräftigen Verurteilung des Klägers durch das Amtsgericht H. wegen vorsätzlicher Straßenverkehrsgefährdung in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung nach § 315c Abs 1 Nr 2b, Abs 3 Nr 1, §§ 230, 52, 44 StGB geführt (Urteil vom 19. Januar 1998 - 11 Js 4797.4/97-54 Ds). Dies ergibt sich aus den nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen angegriffenen und daher für den Senat bindenden (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes <SGG>) tatsächlichen Feststellungen des LSG. Die vom Kläger in der Revisionsbegründung geäußerte Absicht, rechtzeitig zu seiner Praktikumsstelle zu kommen, ändert an diesem Kausalzusammenhang zwischen der Straftat als Handlung zur Verursachung des Arbeitsunfalls nichts.

2. Das durch die Erfüllung des Tatbestandes des § 101 Abs 2 Satz 1 SGB VII eingeräumte Ermessen, die Leistungen ganz oder teilweise zu versagen oder zu entziehen, hat die Beklagte in rechtlich nicht zu beanstandender Weise ausgeübt.

Soweit ein Leistungsträger ermächtigt ist, nach seinem Ermessen zu handeln, ist sein Handeln rechtswidrig, wenn die gesetzlichen Grundlagen dieses Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck des Ermessens nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist (§ 54 Abs 2 Satz 2 SGG sowie § 39 Abs 1 Satz 1 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil <SGB I> zur Ermessensausübung bei Ermessensleistungen). Umgekehrt hat der Versicherte Anspruch auf eine pflichtgemäße Ausübung des Ermessens (§ 39 Abs 1 Satz 2 SGB I), nicht aber einen Rechtsanspruch auf einen bestimmten Betrag - bei einem Leistungsbegehren - oder den Verzicht auf jegliche Leistungsbegrenzung - bei einem Streit wie dem vorliegenden -, sofern nicht eine "Ermessensreduzierung auf Null" eingetreten ist. Derartiges hat der Kläger jedenfalls im Revisionsverfahren nicht behauptet. Er hat sich neben Angriffen gegen das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen (s dazu 1.) vor allem gegen die Ermessensausübung der Beklagten gewandt.

Abgesehen von dem hier nicht gegebenen Fall der Ermessensreduzierung auf Null, in dem es nur ein ermessensgerechtes Ergebnis gibt, hat der Gesetzgeber dem Leistungsträger mit Einräumung von Ermessen eine Auswahlbefugnis hinsichtlich mehrerer gleichermaßen rechtmäßiger Entscheidungsmöglichkeiten auf der Rechtsfolgenseite eröffnet, einschließlich der Möglichkeit von einer Leistungsversagung oder -entziehung abzusehen. Zur Absicherung dieser Entscheidungsfreiheit des Leistungsträgers ist die Überprüfung seiner Ermessensentscheidung durch die Gerichte nur eingeschränkt dahingehend zulässig, ob die gesetzlichen Grundlagen des Ermessens überschritten wurden oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wurde (§ 54 Abs 2 Satz 2 SGG; Meyer-Ladewig, SGG, 8. Aufl 2005, § 54 RdNr 29: Rechtmäßigkeits-, aber keine Zweckmäßigkeitskontrolle). Wenn der Bescheid rechtswidrig ist, darf das Gericht daher auch nur den Bescheid aufheben und den Träger zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts verurteilen, nicht aber eigene Ermessenserwägungen anstellen und sein Ermessen an die Stelle des Ermessens des Leistungsträgers setzen.

Ausgangspunkte bei der Prüfung der Ermessensausübung des Leistungsträgers sind neben dieser allgemeinen Grundregel einerseits die jeweilige Norm, die zur Ermessensausübung ermächtigt, hier also § 101 Abs 2 Satz 1 SGB VII, sowie andererseits der Bescheid des Leistungsträgers in der Gestalt des Widerspruchsbescheides (vgl § 95 SGG), weil dieser die Gesichtspunkte erkennen lassen muss, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist (§ 35 Abs 1 Satz 3 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren <SGB X>), von dem hier nicht einschlägigen Fall des Nachschiebens von Gründen abgesehen (vgl dazu Beschluss des Großen Senats des Bundessozialgerichts <BSG> vom 6. Oktober 1994 - BSGE 75, 159, 167 = SozR 3-1300 § 41 Nr 7).

Keiner der in der Literatur und Rechtsprechung (vgl - auch zu der nicht ganz einheitlichen Begriffswahl und Systematik - nur: Seewald in Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, Stand September 2007, SGB I, § 39 RdNr 9 ff; Wagner in Juris-Praxiskommentar SGB I, 2005, § 39 RdNr 16 ff; Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl 2007, die Literaturzusammenstellung zu § 114; BSG SozR 3-4427 § 5 Nr 1 S 14 f) erörterten möglichen Fehler bei der Ermessensausübung in Form einer Ermessensüberschreitung (dazu a), eines Ermessensnichtgebrauchs (dazu b) sowie einer Ermessensunterschreitung, eines Ermessensmangels, eines Ermessensfehlgebrauchs oder eines Ermessensmissbrauchs (dazu c) ist vorliegend gegeben:

a) Eine Ermessensüberschreitung, bei der eine Rechtsfolge gesetzt wird, die in der gesetzlichen Regelung nicht vorgesehen ist, scheidet aus. Denn zur teilweisen Leistungsversagung wird die Beklagte in § 101 Abs 2 Satz 1 SGB VII gerade ermächtigt, und bei der von der Beklagten in dem angefochtenen Bescheid abgelehnten Gewährung von Geldleistungen handelt es sich um Leistungen nach §§ 26 ff SGB VII, zu denen insbesondere die vom Kläger begehrte Verletztenrente nach §§ 56 ff SGB VII gehört. Die von der Revision aufgeworfene Frage, ob die Beklagte im Hinblick auf § 1 Nr 2 SGB VII, § 11 Abs 5 SGB V auch die Leistungen zur Heilbehandlung nach §§ 27 ff versagen könnte, ist in diesem Zusammenhang nicht erheblich, weil die Beklagte diese Leistungen nicht versagt hat.

b) Ebenso wenig ist ein Ermessensnichtgebrauch, bei dem überhaupt keine Ermessenserwägungen angestellt werden und so gehandelt wird, als ob eine gebundene Entscheidung zu treffen ist, festzustellen, weil die Beklagte umfangreiche Ermessenserwägungen angestellt hat.

c) Aber auch die Voraussetzungen für eine Ermessensunterschreitung oder einen Ermessensmangel, bei denen zwar Ermessenserwägungen angestellt werden, diese aber unzureichend sind, weil sie zB nur aus formelhaften Wendungen bestehen oder relevante Ermessensgesichtspunkte nicht berücksichtigt werden, oder für einen Ermessensfehlgebrauch oder Ermessensmissbrauch, bei denen sachfremde Erwägungen angestellt werden, sind nicht erfüllt. Denn die Beklagte hat die sich aus dem Zweck des § 101 Abs 2 Satz 1 SGB VII ergebenden Ermessensüberlegungen angestellt und die relevanten Gesichtspunkte berücksichtigt, ohne sich von sachfremden Gesichtspunkten leiten zu lassen.

Der Normzweck des § 101 Abs 2 Satz 1 SGB VII ergibt sich aus der Zusammenschau mit § 7 Abs 2 SGB VII, nach dem verbotswidriges Verhalten einen Versicherungsfall nicht ausschließt, und dem Begriff des Arbeitsunfalls nach § 8 Abs 1 SGB VII, nach dem kein Arbeitsunfall wegen fehlenden inneren Zusammenhangs mit der versicherten Tätigkeit gegeben ist, wenn die Verrichtung zur Zeit des Unfalls nicht mit einer auf die versicherte Tätigkeit gerichteten Handlungstendenz ausgeübt wird, zB bei einer Wettfahrt (Urteil des Senats vom 19. Dezember 2000 - B 2 U 45/99 R - SozR 3-2200 § 550 Nr 21 = SGb 2001, 513, 516 mit zustimmender Anmerkung von Benz zu den Vorläufervorschriften in der RVO; Urteil vom 4. Juni 2002 - B 2 U 11/01 R - SozR 3-2700 § 8 Nr 10; vgl zum Begriff des Arbeitsunfalls allgemein die zusammenfassende Darstellung der Rechtsprechung des Senats bei P. Becker, SGb 2007, 721 ff). § 101 Abs 2 Satz 1 SGB VII will nach allgemeiner Ansicht einen Ausgleich schaffen zwischen dem Grundsatz, dass Sozialrecht keine strafrechtlichen Funktionen wahrzunehmen hat, und dem sozialethisch kaum tolerierbaren Ergebnis, dass schwere Strafverstöße auch noch durch Sozialversicherungsleistungen "belohnt" werden (so schon Schulin in Handbuch der Sozialversicherung, Bd 3, Gesetzliche Unfallversicherung, 1996, § 30 RdNr 70 zur Vorläufervorschrift in § 554 Abs 1 RVO; Fröde in Lauterbach, Unfallversicherung SGB VII, Stand April 2007, § 101 RdNr 19; vgl auch BSG SozR 4-3200 § 81 Nr 2 RdNr 12).

Der Revision ist zuzugeben, dass die Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung keine "Belohnung" im ursprünglichen Sinn des Wortes für die Verletzten sind, sondern ein Ausgleich für die Folgen des Versicherungsfalles in Form von Verletztengeld bei entgangenem Entgelt während einer Arbeitsunfähigkeit oder in Form von Verletztenrente für eine dauerhafte Minderung ihrer Erwerbsfähigkeit. Dies wird jedoch an den Anführungszeichen des Wortes Belohnung bei seinem Gebrauch in diesem Zusammenhang deutlich. Letztlich zielt § 101 Abs 2 Satz 1 SGB VII ähnlich wie die vergleichbaren Vorschriften zur gesetzlichen Krankenversicherung (§ 52 Abs 1 SGB V) und zur gesetzlichen Rentenversicherung (§ 104 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Rentenversicherung) auf die Versagung von sozialem Schutz bzw sozialer Sicherheit ab, weil der Betreffende durch sein strafrechtlich als Verbrechen oder vorsätzliches Vergehen zu bewertendes Verhalten sozialethische Mindeststandards verletzt hat (vgl Hänlein, Moral Hazard und Sozialversicherung - Versichertenverhalten und Versicherungsfall im Sozialversicherungsrecht, ZVersWiss 2002, 579 ff; Voelzke, Die Herbeiführung des Versicherungsfalls im Sozialversicherungsrecht, 2004). Dies ist auch die zutreffende rechtliche Grundhaltung der Beklagten, wie sie von ihr in ihrem Widerspruchsbescheid wiedergegeben wurde.

Da diese Art von Versicherungsfällen in der Praxis sehr selten auftritt, hat jeder Fall den Charakter einer Einzelfallentscheidung. Trotz der jeweils zu berücksichtigenden Besonderheiten des Einzelfalles sind durch den Unfallversicherungsträger als Gesichtspunkte für die Ermessensausübung neben der allgemeinen Bindung an die Grundrechte und elementaren Prinzipien (dazu 5) zu beachten: Die Handlung als solche (dazu 1), das berufliche Umfeld (dazu 2), die Auswirkungen der Entscheidung auf die persönlichen Verhältnisse des Versicherten (dazu 3), eine Gesamtbetrachtung der gewährten und versagten bzw entzogenen Leistungen (dazu 4) (vgl Burchardt in Brackmann, aaO, § 101 RdNr 22; Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand Oktober 2007, § 101 SGB VII, RdNr 6; Kater/Leube, Gesetzliche Unfallversicherung, SGB VII, 1997, § 101 RdNr 11). Der Unfallversicherungsträger muss und kann nicht bei jedem dieser Gesichtspunkte auf alle Einzelheiten eingehen, vielmehr genügt es, wenn er die maßgebenden und tragenden Gesichtspunkte in der Begründung des Bescheides mitteilt (vgl § 35 Abs 1 Satz 3 SGB X; BSG SozR 3-1300 § 50 Nr 16 S 41 f; ebenso schon BVerwGE 22, 215 mwN).

(1) Die Handlung, das Verbrechen oder vorsätzliche Vergehen, ist als tatbestandlicher Ausgangspunkt für die Ermessensausübung nach § 101 Abs 2 Satz 1 SGB VII nach Art, Ausführung, Ausmaß des Verschuldens, Gefährdungspotential usw zu beachten. Wenn diese Handlung nicht nur den Versicherten (= Täter) betrifft, sondern auch weitere Personen (= Opfer), sind diese, einschließlich der Art und der Höhe eines möglichen Schadens in die Ermessensabwägung mit einzubeziehen, weil es anderenfalls eine unvollständige Betrachtung wäre. Von daher vermag das Vorbringen der Revision nicht zu überzeugen, die Folgen der Handlung seien nicht vorhersehbar gewesen und dürften daher kein Kriterium zur Beurteilung sein. Abgesehen davon, dass vorliegend die Folgen - Zusammenstoß mit einem entgegenkommenden Pkw plus der eigenen Körperverletzungen und der der Fahrerin des anderen Pkws beim Überholen einer Fahrzeugkolonne an einer unübersichtlichen Stelle - sehr wohl vorhersehbar waren, ist das Ergebnis einer Handlung typischerweise ein Beurteilungskriterium für die Handlung.

Dem wird der Bescheid der Beklagten nach den Feststellungen des LSG gerecht: Die Beklagte hat berücksichtigt, dass der Kläger andere in Gefahr gebracht und erhebliche Kosten verursacht hat. Außerdem hat sie den Grad des Verschuldens und die Bedeutung der betroffenen Straftatbestände gewürdigt.

(2) Das berufliche Umfeld des Versicherten, insbesondere inwieweit von Seiten des Arbeitgebers "Druck" auf ihn ausgeübt wurde - zu denken ist zB bei Verkehrsverstößen ähnlich dem vorliegenden an Termindruck und zu enge Zeitpläne von Kurierfahrern oder sogar entsprechende Anordnungen von Arbeitgebern (vgl Kater/Leube, Gesetzliche Unfallversicherung, aaO, § 101 RdNr 11; Fröde in Lauterbach, Unfallversicherung, aaO, § 101 RdNr 19: dann keine Leistungsversagung) -, darf ebenfalls nicht außer Acht gelassen werden.

Insofern ist durch das LSG nichts festgestellt und von Seiten des Klägers nichts gerügt worden, außer dass er rechtzeitig zur Arbeit kommen wollte. Dies ist jedoch nicht der Praktikumsstelle des Klägers als "Druck" zuzurechnen, weil rechtzeitiges Ankommen an einer Arbeits- oder Praktikumsstelle nichts Besonderes ist und, wenn keine Störungen während der Fahrt auftreten, die vorliegend nicht festgestellt wurden, vor allem vom Zeitpunkt des Losfahrens abhängt.

(3) Die Auswirkungen der Entscheidung auf die persönlichen Verhältnisse des Versicherten in finanzieller, wirtschaftlicher und nicht zuletzt familiärer Hinsicht müssen in die Ermessenserwägungen miteinbezogen werden, da die Entscheidung über die Versagung von Leistungen, insbesondere wenn aufgrund einer infolge des Versicherungsfalles eingetretenen MdE die Gewährung einer Verletztenrente im Raum steht, erhebliche wirtschaftliche Bedeutung für den Versicherten hat. Die Beachtung dieses Gesichtspunktes hat naturgemäß Grenzen, weil eine Dauerrente in aller Regel lebenslänglich gezahlt wird und die Beklagte andererseits zu einem bestimmten Zeitpunkt entscheiden muss, ohne alle Entwicklungen und Gegebenheiten überblicken zu können. Bei den Erwägungen zu diesem Ermessenspunkt kann die Beklagte auch einen möglichen in Verbindung mit dem Versicherungsfall aufgetretenen Sachschaden berücksichtigen, obwohl die gesetzliche Unfallversicherung in der Regel Sachschäden nicht ersetzt, weil dieser Sachschaden Einfluss auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Versicherten haben kann.

Dem wird der Bescheid der Beklagten gerecht, auch wenn sie eine Berücksichtigung des beim Kläger eingetretenen Sachschadens abgelehnt hat. Denn dem Vorbringen des Klägers ist nicht zu entnehmen, dass dieser Sachschaden von erheblicher finanzieller Bedeutung für ihn gewesen ist, weil er zB keine oder nur geringe Leistungen von seiner Kfz-Versicherung erhalten hat. Soweit der Kläger rügt, die Beklagte habe seine spätere wiederholte Arbeitslosigkeit nicht berücksichtigt, ist nicht zu erkennen, welche Auswirkungen diese auf seine wirtschaftlichen Verhältnisse auf Dauer hatte. Die ausreichende Berücksichtigung dieses Gesichtspunktes durch die Beklagte bei ihrer Ermessensausübung ergibt sich aus der Einbeziehung der unmittelbaren wirtschaftlichen Folgen des Unfalls, der eingetretenen Arbeitsunfähigkeit und des Verlustes der Praktikumsstelle sowie der anschließenden Arbeitslosigkeit in ihre Erwägungen.

(4) Die Beklagte hat zu Recht eine Gesamtbetrachtung hinsichtlich der gewährten und versagten Leistungen angestellt. Denn beim Vorliegen des Tatbestandes des § 101 Abs 2 Satz 1 SGB VII muss der Unfallversicherungsträger überlegen und entscheiden, welche Leistungen in Betracht kommen bzw welche er inwieweit versagt oder entzieht. Dies erfordert geradezu eine Gesamtbetrachtung bzw nach den Worten des Klägers "Gesamtbilanz". Die Beklagte hat dem Kläger zB nicht nur Heilbehandlungen gewährt, sondern entgegen dem ersten Eindruck, den der Verfügungssatz ihres Bescheides vermittelt, auch Geldleistungen, nämlich Verletztengeld für die an den Arbeitsunfall unmittelbar anschließende Arbeitsunfähigkeit.

Auf die von den Beteiligten erörterte Frage, ob der Kläger, wenn die Beklagte ihm keine Leistungen zur Heilbehandlung gewähren würde, Anspruch auf entsprechende Leistungen seiner gesetzlichen Krankenversicherung hätte oder diese ausgeschlossen sind (vgl § 11 Abs 5, § 52 Abs 1 SGB V), kommt es nicht an. Die Beklagte hat sich bewusst für die Übernahme dieser Leistungen entschieden, sodass der entsprechende Streit für die Entscheidung dieses Verfahrens dahingestellt bleiben kann. Die Versagung von (weiteren) Geldleistungen, insbesondere der nach den vorliegenden ärztlichen Gutachten in Betracht kommenden Verletztenrente, ist demgegenüber nicht zu beanstanden. Ihre Versagung ist angesichts des Leistungskataloges der gesetzlichen Unfallversicherung (§§ 26 ff SGB VII) die typische Folge einer Ermessensausübung nach § 101 Abs 2 Satz 1 SGB VII.

(5) Die Beklagte hat bei ihrer Ermessensausübung auch nicht gegen verfassungsrechtliche Grundsätze, insbesondere das Willkürverbot (vgl Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes <GG>), oder andere im Rechtsstaatsprinzip des Art 20 Abs 3 GG enthaltenen Grundsätze, zB das Übermaßverbot (vgl zu deren Beachtung nur: Seewald in Kasseler Kommentar, SGB I, aaO, § 39 RdNr 12), verstoßen.

Die vom Kläger insofern erhobene Kritik am Urteil des LSG, es liege verglichen mit dem Urteil des Senats vom 12. April 2005 (- B 2 U 11/04 R - BSGE 94, 262 = SozR 4-2700 § 8 Nr 14) eine willkürliche Ungleichbehandlung vor, verkennt grundlegende Unterschiede zwischen beiden Verfahren: In jenem Fall war umstritten, ob überhaupt ein Arbeitsunfall vorliegt (vgl insbesondere die kritische Anmerkung von Ricke in SGb 2006, 166 ff). Dies war vorliegend nicht umstritten. Vorliegend wurde der Versicherte aufgrund der Verrichtung zur Zeit des Unfalls durch rechtskräftiges strafgerichtliches Urteil wegen einer vorsätzlichen Straßenverkehrsgefährdung verurteilt, während in dem Verfahren, das zu der Entscheidung vom 12. April 2005 führte, überhaupt kein Strafverfahren durchgeführt wurde und allenfalls ein Fahrlässigkeitsdelikt zu erörtern wäre, sodass schon die tatbestandliche Grundvoraussetzung des § 101 Abs 2 Satz 1 SGB VII nicht erfüllt war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.