BSG, Urteil vom 25.06.2009 - B 3 KR 2/08 R
Fundstelle
openJur 2011, 95482
  • Rkr:

1. Hat das Landessozialgericht über eine Berufung verfahrensfehlerhaft durch den bestellten Berichterstatter des Senats entschieden, kann im Revisionsverfahren von einer Zurückverweisung abgesehen und durch entschieden werden, wenn feststeht, dass der Rechtsstreit in einer ganz bestimmten Weise zu entscheiden ist (Ergänzung zu BSG vom 8.11.2007 - B 9/9a SB 3/06 R = SozR 4-1500 § 155 Nr 2). 2. Ein beinamputierter Versicherter, der mit einer normalen Laufprothese ausgestattet ist, kann von der Krankenkasse grundsätzlich die zusätzliche Versorgung mit einer wasserfesten Prothese (Badeprothese) beanspruchen (Weiterentwicklung zu BSG vom 10.10.1979 - 3 RK 30/79 = SozR 2200 § 182 Nr 55).

Tatbestand

Streitig ist die Versorgung des Klägers mit einer wasserfesten Unterschenkelprothese (auch Bade- oder Schwimmprothese genannt).

Der 1941 geborene Kläger ist nach der Amputation des linken Unterschenkels von der beklagten Krankenkasse mit einer normalen Laufprothese und - im Jahre 1992 - mit einer Badeprothese ausgestattet worden, die aber mittlerweile funktionsuntauglich geworden und nicht mehr zu reparieren ist. Unter Vorlage einer vertragsärztlichen Verordnung vom 7.4.2003 und eines Kostenvoranschlages eines Sanitätshauses vom 16.4.2003 beantragte der Kläger die erneute Versorgung mit einer Badeprothese. Die Beklagte lehnte die Ersatzbeschaffung ab, weil der Kläger im häuslichen Bereich ausreichend mit Hilfsmitteln versorgt sei und er die Badeprothese nur zum Schwimmen benötige. Sportliche Betätigungen und Freizeitaktivitäten zählten aber nicht zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens, sodass eine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ausscheide. Zum Behinderungsausgleich beim Gehen und Stehen sei die Badeprothese nicht erforderlich; dafür stehe die normale Laufprothese zur Verfügung. Um diese im Schwimmbad nutzen zu können, sei sie aber bereit, den Kläger mit einem sog "Xero-Sox"-Beinschutz auszustatten. Diese Latexüberzüge müssten nur über die normale Laufprothese gezogen werden und seien wasserdicht (Bescheid vom 12.6.2003, Widerspruchsbescheid vom 7.7.2003). Der Kläger lehnte das Angebot als nicht gleichwertig ab.

Mit der Klage hat der Kläger geltend gemacht, er benötige die Badeprothese nicht nur zum Schwimmen (Schwimmbad, Thermalbad, Urlaub am Meer), sondern auch zu Hause beim Duschen und Baden. Zudem sei sie für nächtliche Toilettengänge vorteilhaft, weil sie sich schneller anlegen lasse als die Alltagsprothese.

Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben (Urteil vom 5.1.2006). Das Landessozialgericht (LSG) hat dieses Urteil geändert und die Klage abgewiesen (Urteil des Berichterstatters vom 11.12.2007). Es hat ausgeführt, die Funktionen des Gehens und Stehens seien auch bis zum Rand eines Schwimmbeckens und eines Gewässers durch die vorhandene Laufprothese sichergestellt. Das Schwimmen selbst gehöre nicht zu den elementaren menschlichen Grundbedürfnissen. Zwar habe das Bundessozialgericht (BSG) im Jahre 1979 entschieden, das Schwimmen diene bei Beinamputierten der Befriedigung des Grundbedürfnisses auf sportliche Betätigung zur allgemeinen gesundheitlichen Vorsorge, sodass eine Badeprothese von der Krankenkasse zur Verfügung gestellt werden müsse. Diese Rechtsprechung sei aber überholt. Für sportliche Freizeitaktivitäten sei die GKV nicht eintrittspflichtig. Mehr als die angebotenen Latexüberzüge könne der Kläger zur Ermöglichung des Schwimmens jedenfalls nicht verlangen. Sofern der Beinschutz nicht wasserdicht abschließen und die Alltagsprothese deshalb beschädigt werden sollte, gehe dies zu Lasten der Beklagten, die dann eine neue Prothese zur Verfügung stellen müsse, sodass dem Kläger insoweit kein Nachteil drohe. Im häuslichen Bereich sei der Kläger auf kostengünstigere Hilfsmittel zu verweisen (Duschhocker, Badewannenlift, Unterarmgehstützen).

Mit der vom Berichterstatter des LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts. Das LSG habe zu Unrecht die Voraussetzungen des § 33 SGB V verneint. Körperersatzstücke wie Prothesen dienten dem unmittelbaren Behinderungsausgleich und damit immer der Befriedigung eines Grundbedürfnisses, hier des sicheren Gehens und Stehens in Bereichen, in denen er mit Wasser bzw Nässe in Berührung komme und daher die nicht wasserfeste Alltagsprothese wegen der Beschädigungsgefahr nicht zu verwenden sei. Damit biete die Badeprothese wesentliche Gebrauchsvorteile zur Verbesserung der Stand- und Gangsicherheit im Alltagsleben. Der angebotene Beinschutz sei dafür kein vollwertiger Ersatz. Außerdem müsse jedem Menschen eine "sportliche Grundbetätigung" ermöglicht werden, die bei Beinamputierten am besten durch das regelmäßige Schwimmen erfolge; deshalb sei die GKV leistungspflichtig.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 11.12.2007 zu ändern und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Düsseldorf vom 5.1.2006 zurückzuweisen.

Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil als zutreffend und beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Gründe

Die Revision des Klägers ist begründet. Die ablehnende Entscheidung der Beklagten ist rechtswidrig. Der Kläger hat einen Anspruch auf Versorgung mit der begehrten Badeprothese gemäß § 33 SGB V. Daher war das zusprechende erstinstanzliche Urteil wiederherzustellen.

1. Der Senat ist an einer den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung in der Sache nicht gehindert. Er war nicht gehalten, das vom Berichterstatter des LSG als Einzelrichter getroffene Urteil (§ 155 Abs 4 SGG) aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG), obgleich das Berufungsurteil - legte man die Rechtsprechung des 9. Senats des BSG zugrunde (Urteil vom 8.11.2007 - B 9/9a SB 3/06 R -, BSGE 99, 189 = SozR 4-1500 § 155 Nr 2) - unter Verletzung des Anspruchs der Beteiligten auf Entscheidung durch den "gesetzlichen Richter" (Art 101 Abs 1 Satz 2 GG) zustande gekommen ist und ein solcher grundlegender Verfahrensfehler regelmäßig zur Zurückverweisung an den eigentlich zuständigen Spruchkörper führt.

a) Nach der oa Rechtsprechung des 9. Senats des BSG hat der Vorsitzende oder der bestellte Berichterstatter eines Senats des LSG im Fall der Vorlage entsprechender Einverständniserklärungen der Beteiligten nach pflichtgemäßem Ermessen darüber zu entscheiden, ob er von der durch § 155 Abs 3 und 4 SGG eingeräumten Befugnis Gebrauch gemacht, den Rechtsstreit allein zu entscheiden, oder ob es aus sachlichen Gründen bei der Entscheidung des Rechtsstreits durch den Senat - in voller Besetzung, § 33 SGG - verbleibt. Bei einer Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung sei eine Entscheidung allein durch den Vorsitzenden oder den bestellten Berichterstatter in der Regel ermessensfehlerhaft und damit verfahrensfehlerhaft (BSGE 99, 189 = SozR 4-1500 § 155 Nr 2, jeweils RdNr 20 - 23 mit weiteren Rechtsprechungs- und Literaturnachweisen). Der Verfahrensfehler führe als absoluter Revisionsgrund - auch ohne Rüge - zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG (§ 202 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO, § 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

b) Der erkennende 3. Senat hat sich zu der Frage, ob der Vorsitzende oder der bestellte Berichterstatter des LSG in den Fällen des § 155 Abs 3 und 4 SGG einen Rechtsstreit ohne Verstoß gegen Art 101 Abs 1 Satz 2 GG allein entscheiden darf, wenn er der Sache grundsätzliche Bedeutung beimisst oder er mit seiner Entscheidung von der Rechtsprechung des BSG abweicht und dementsprechend auch die Revision zulässt, bisher nicht geäußert. Der Senat neigt der Rechtsauffassung des 9. Senats im Grundsatz zu, dass dies im Regelfall zu verneinen ist; er sieht Ausnahmen zB bei folgenden Fallgestaltungen: Eine Entscheidung durch den Vorsitzenden oder den bestellten Einzelrichter dürfte dann ohne Verstoß gegen Art 101 Abs 1 Satz 2 GG in Betracht kommen, wenn der LSG-Senat in voller Besetzung (§ 33 SGG) einen Rechtsstreit entschieden und wegen der grundsätzlichen Bedeutung der dabei maßgeblichen Rechtsfrage die Revision zugelassen hat (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) und nunmehr Parallelverfahren anstehen, die zur Entlastung des Senats mit Einverständnis der Beteiligten vom Vorsitzenden oder dem bestellten Berichterstatter nach Maßgabe der Leitentscheidung des Senats entschieden werden. Ähnlich dürfte es sein, wenn zum Zeitpunkt der LSG-Entscheidung bekannt ist, dass vergleichbare Fälle mit grundsätzlicher Bedeutung bereits beim BSG anhängig sind.

c) Einer abschließenden Entscheidung des erkennenden Senats zu diesem Problemkreis bedarf es jedoch nicht. Selbst bei Annahme eines Verstoßes gegen Art 101 Abs 1 Satz 2 GG hat der dann gegebene absolute Revisionsgrund (§ 202 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO) nicht zwangsläufig zur Folge, dass der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden muss (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Die Anordnung der Zurückverweisung in dem vom 9. Senat entschiedenen Fall (BSGE 99, 189 = SozR 4-1500 § 155 Nr 2, jeweils RdNr 24) enthält nach dem Gesamtzusammenhang der dortigen Entscheidungsgründe nicht etwa einen neuen allgemeinen Rechtssatz, dass in solchen Fällen immer so zu verfahren ist und keine Ausnahmen vorgesehen sind, sondern folgt lediglich der ständigen Rechtsprechung des BSG (vgl etwa Urteil vom 14.9.1994 - 3/1 RK 36/93 -, BSGE 75, 74, 77 = SozR 3-2500 § 33 Nr 12), dass die Zurückverweisung bei absoluten Revisionsgründen den Regelfall darstellt. Die Zurückverweisung war danach nur prozessuale Rechtsfolge der konkreten Sach- und Rechtslage jenes Falles, wonach der Berichterstatter bereits den Streitgegenstand ungenau erfasst hatte und in der Sache mehrere Entscheidungsmöglichkeiten zur Diskussion standen, die von der Beantwortung diverser Rechtsfragen abhingen.

Verfassungsrechtliche Schutzvorschriften haben dort ihre Grenzen, wo ein Rechtsstreit nach den konkreten Gegebenheiten des Falles nur in einer ganz bestimmten Weise entschieden werden kann, eine andere Entscheidung also unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt denkbar ist. Dies gilt für den Erfolg einer Klage (BSGE 76, 59, 67 = SozR 3-5520 § 20 Nr 1) wie für deren Abweisung (BSGE 75, 74, 77 = SozR 3-2500 § 33 Nr 12) gleichermaßen und ist vom 6. Senat des BSG ausdrücklich auch für den Fall der fehlerhaften Besetzung des Gerichts entschieden worden (BSGE 76, 59, 67 = SozR 3-5520 § 20 Nr 1) .

d) Im vorliegenden Fall war der Sachverhalt in tatsächlicher Hinsicht geklärt und nicht umstritten. In rechtlicher Hinsicht kam eine andere Entscheidung, als die begehrte Leistung zuzusprechen, unter keinem denkbaren Gesichtspunkt in Betracht. Deshalb konnte der Senat in der Sache entscheiden und von der Zurückverweisung absehen.

2. Maßgebend ist hier § 33 SGB V in der ab 1.4.2007 geltenden Fassung des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes vom 26.3.2007 (BGBl I 378), weil bei Leistungsklagen, auch wenn sie - wie hier - mit einer Anfechtungsklage verbunden sind, grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung maßgebend ist (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 54 RdNr 34 mwN). Nach § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs 4 SGB V ausgeschlossen sind. Nach § 33 Abs 1 Satz 4 SGB V umfasst der Anspruch auch die notwendige Änderung, Instandsetzung und Ersatzbeschaffung von Hilfsmitteln, die Ausbildung in ihrem Gebrauch und, soweit zum Schutz der Versicherten vor unvertretbaren gesundheitlichen Risiken erforderlich, die nach dem Stand der Technik zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit und der technischen Sicherheit notwendigen Wartungen und technischen Kontrollen. Im vorliegenden Fall geht es um die Variante der Ersatzbeschaffung eines Hilfsmittels. Deren Tatbestandsvoraussetzungen sind hier erfüllt.

3. Die Rechtswidrigkeit der Leistungsablehnung ergibt sich allerdings nicht bereits daraus, dass dem Kläger im Jahre 1992 die Badeprothese bestandskräftig bewilligt worden war und diese jetzt nicht mehr funktionstüchtig und auch nicht mehr zu reparieren ist. Denn auch bei der Ersatzbeschaffung von Hilfsmitteln müssen sämtliche Tatbestandsvoraussetzungen des § 33 SGB V erfüllt sein (vgl BSGE 79, 261, 263 = SozR 3-2500 § 33 Nr 21, S 114, sowie BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 11). Die Kriterien der Eignung, Zweckmäßigkeit, Wirtschaftlichkeit und Erforderlichkeit (vgl § 2 Abs 4, § 12 Abs 1, § 33 Abs 1 SGB V) sind also nicht nur für die erstmalige Ausstattung mit einem bestimmten Hilfsmittel maßgeblich, sondern gelten auch für die Ersatzbeschaffung und sind deshalb wie bei der erstmaligen Bewilligung eines Hilfsmittels zu prüfen. Die Ersatzbeschaffung kann also nicht verlangt werden, wenn auch schon die erstmalige Bereitstellung dieses Hilfsmittels zum jetzigen Zeitpunkt nicht (mehr) beansprucht werden könnte. Etwas anderes kann allenfalls gelten, wenn die Krankenkasse in einer Art Grundbescheid festgestellt hat, dass ein Versicherter ein bestimmtes Hilfsmittel auf Dauer beanspruchen kann. Dann ist nur der beantragte Ersatz des Hilfsmittels auf seine Notwendigkeit hin zu prüfen. In aller Regel fehlt es aber an einem solchen Grundbescheid - und so auch hier. Wird ein Hilfsmittel antragsgemäß bewilligt, erledigt sich der Verwaltungsakt mit der Übergabe des Hilfsmittels an den Versicherten. Eine Dauerwirkung kommt dem Verwaltungsakt in solchen Fällen nicht zu. Ob und in welcher Form in Fällen der leihweisen Überlassung eines Hilfsmittels (§ 33 Abs 5 Satz 1 SGB V) etwas anderes zu gelten hat, kann hier offenbleiben, weil die Badeprothese seinerzeit übereignet worden ist.

4. Die Leistungsablehnung ist rechtswidrig, weil die Badeprothese hier zum Behinderungsausgleich erforderlich ist. Dieser in § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V als 3. Variante genannte Zweck (vgl jetzt auch § 31 Abs 1 Nr 3 SGB IX) eines von der GKV zu leistenden Hilfsmittels hat zweierlei Bedeutung.

a) Im Vordergrund steht der Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktion selbst. Bei diesem unmittelbaren Behinderungsausgleich gilt das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits, und zwar unter Berücksichtigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts. Die gesonderte Prüfung, ob ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betroffen ist, entfällt, weil sich die unmittelbar auszugleichende Funktionsbeeinträchtigung selbst immer schon auf ein Grundbedürfnis bezieht; die Erhaltung bzw Wiederherstellung einer Körperfunktion ist als solche ein Grundbedürfnis. Dabei kann die Versorgung mit einem fortschrittlichen, technisch weiterentwickelten Hilfsmittel nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausreichend, solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollständig im Sinne des Gleichziehens mit einem nicht behinderten Menschen erreicht ist (BSGE 93, 183 = SozR 4-2500 § 33 Nr 8, jeweils RdNr 4 - C-leg-Prothese). Die Wirtschaftlichkeit eines dem unmittelbaren Behinderungsausgleich dienenden Hilfsmittels ist grundsätzlich zu unterstellen und erst zu prüfen, wenn zwei tatsächlich gleichwertige, aber unterschiedlich teure Hilfsmittel zur Wahl stehen.

b) Daneben können Hilfsmittel den Zweck haben, die direkten und indirekten Folgen der Behinderung auszugleichen (sog mittelbarer Behinderungsausgleich). In diesem Rahmen ist die GKV allerdings nur für den Basisausgleich der Folgen der Behinderung eintrittspflichtig. Es geht hier nicht um einen Ausgleich im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten eines gesunden Menschen. Denn Aufgabe der GKV ist in allen Fällen allein die medizinische Rehabilitation (vgl § 1 SGB V sowie § 6 Abs 1 Nr 1 iVm § 5 Nr 1 und 3 SGB IX), also die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktionen einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolges, um ein selbstständiges Leben führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. Eine darüber hinausgehende berufliche oder soziale Rehabilitation ist hingegen Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme. Ein Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich ist von der GKV daher nur zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft. Nach ständiger Rechtsprechung gehören zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens das Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnehmen, Ausscheiden, die elementare Körperpflege, das selbstständige Wohnen sowie das Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums (BSGE 93, 176, 180 = SozR 4-2500 § 33 Nr 7; BSGE 91, 60, 63 = SozR 4-2500 § 33 Nr 3; BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 14; stRspr). Zum Grundbedürfnis der Erschließung eines geistigen Freiraums gehört ua die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit anderen Menschen sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens bzw eines Schulwissens (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 29 und 46; BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 11 RdNr 18). Zum körperlichen Freiraum gehört - im Sinne eines Basisausgleichs der eingeschränkten Bewegungsfreiheit - die Fähigkeit, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder um die - üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden - Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind (zB Supermarkt, Arzt, Apotheke, Geldinstitut, Post), nicht aber die Bewegung außerhalb dieses Nahbereichs. Soweit überhaupt die Frage eines größeren Radius über das zu Fuß Erreichbare hinaus aufgeworfen worden ist, sind schon immer zusätzliche qualitative Momente verlangt worden (vgl BSGE 93, 176, 180 = SozR 4-2500 § 33 Nr 7 - Erreichbarkeit ambulanter medizinischer Versorgung für Wachkomapatientin; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 27 - Rollstuhl-Bike für Jugendliche; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 46 - behindertengerechtes Dreirad; BSG SozR 2200 § 182b Nr 13 - Faltrollstuhl) .

c) Dem Gegenstand nach besteht für den unmittelbaren ebenso wie für den mittelbaren Behinderungsausgleich Anspruch auf die im Einzelfall ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Hilfsmittelversorgung, nicht jedoch auf eine Optimalversorgung. Deshalb besteht kein Anspruch auf ein teureres Hilfsmittel, soweit die kostengünstigere Versorgung für den angestrebten Nachteilsausgleich funktionell in gleicher Weise geeignet ist (vgl BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 26 S 153; stRspr) ; andernfalls sind die Mehrkosten gemäß § 33 Abs 1 Satz 5 SGB V (ebenso § 31 Abs 3 SGB IX) von dem Versicherten selbst zu tragen. Demgemäß haben die Krankenkassen nicht für solche "Innovationen" aufzukommen, die keine wesentlichen Gebrauchsvorteile für den Versicherten bewirken, sondern sich auf einen bloß besseren Komfort im Gebrauch oder eine bessere Optik beschränken (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 44; BSGE 93, 183, 188 = SozR 4-2500 § 33 Nr 8).

5. Vor dem Hintergrund dieser Grundsätze über die Hilfsmittelversorgung im Rahmen der GKV beim unmittelbaren und mittelbaren Behinderungsausgleich (3. Variante des § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V und § 31 Abs 1 Nr 3 SGB IX) wird deutlich, dass die Beklagte und das LSG einen unrichtigen rechtlichen Ansatz gewählt haben. Sie haben die Ablehnung des Leistungsantrages des Klägers damit begründet, dass die Badeprothese in erster Linie dazu dienen solle, dem Kläger weiterhin den regelmäßigen Besuch eines Schwimmbads zu ermöglichen; die Sportausübung und sonstige Freizeitaktivitäten zählten aber gerade nicht zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens. Damit haben sie fälschlich die Grundsätze des mittelbaren Behinderungsausgleichs angewandt, obgleich hier allein die Grundsätze des unmittelbaren Behinderungsausgleichs heranzuziehen sind.

Beinamputierte Versicherte, die mit einer normalen Laufprothese versorgt sind, können von der Krankenkasse die zusätzliche Versorgung mit einer wasserfesten Prothese (Badeprothese, Schwimmprothese) verlangen, um sich zu Hause in Bad und Dusche sowie außerhalb der Wohnung im Schwimmbad sicher und ohne Gefahr der Beschädigung der regelmäßig nicht wasserfesten Alltagsprothese bewegen zu können. Maßgeblich ist, dass eine Badeprothese - anders als die Beklagte und das LSG angenommen haben - dem unmittelbaren Behinderungsausgleich beinamputierter Versicherter dient und ihnen im heimischen Nassbereich sowie im Schwimmbad ein sicheres Gehen und Stehen ermöglicht. Dabei kommt es nicht darauf an, dass der Besuch eines Schwimmbades einer sportlichen Betätigung bzw einer Freizeitbeschäftigung dient (Schwimmen, Wassergymnastik) und solche Aktivitäten nicht zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens gehören. Dem Anspruch auf Versorgung mit einer Badeprothese kann auch nicht entgegengehalten werden, dass es am Markt Kunststoff-Überzüge gibt, die über die vorhandene Alltagsprothese zu ziehen sind und diese vor Wasserschäden schützen. Dabei handelt es sich nicht um eine in vollem Umfang gleichwertige Versorgungsalternative.

a) Beinprothesen sind Körperersatzstücke gemäß § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V. Sie dienen dem unmittelbaren Ersatz des fehlenden Körperteils und dessen ausgefallener Funktion. Sie sind auf den Ausgleich der Behinderung selbst gerichtet und dienen der medizinischen Rehabilitation, ohne dass zusätzlich die Erfüllung eines allgemeinen Grundbedürfnisses des täglichen Lebens zu prüfen ist, wie es bei Hilfsmitteln erforderlich wäre, die nur die direkten und indirekten Folgen einer Behinderung ausgleichen sollen. Bei einer Beinprothese geht es um das Grundbedürfnis auf möglichst sicheres, gefahrloses Gehen und Stehen, wie es bei nicht behinderten Menschen durch die Funktion der Beine gewährleistet ist. Diese Funktion muss in möglichst weitgehender Weise ausgeglichen werden (BSGE 93, 183 = SozR 4-2500 § 33 Nr 8 - C-leg-Prothese).

b) Hieran ist anzuknüpfen, wenn es um die Versorgung mit einer Badeprothese geht. Die normale Beinprothese hat einen Gebrauchsnachteil, weil sie nicht dort zu verwenden ist, wo der Benutzer beim Gehen und Stehen mit Wasser in Kontakt kommt. Durch den Kontakt mit Wasser besteht die große Gefahr einer Beschädigung, sodass die Beklagte zur Reparatur bzw zum Einsatz verpflichtet wäre, was erhebliche Kosten verursacht. Außerdem ist der Fuß einer normalen Laufprothese so ausgelegt, dass er mit Schuhen getragen wird. Im Schwimmbad ist das Tragen von Straßenschuhen in aller Regel verboten. Ohne Schuhe besteht eine besondere Rutschgefahr. Unterarmgehstützen bieten nicht den gleichen Halt wie eine Beinprothese und sind für die Gang- und Standsicherheit nur ergänzend heranzuziehen. Die normale Laufprothese ist beim Aufenthalt in und am Wasser (Schwimmbad, Fluss, See) ungeeignet. Dieser Gebrauchsnachteil wird durch die zusätzliche Ausstattung mit einer Badeprothese kompensiert. Die Badeprothese gleicht praktisch das Funktionsdefizit der Alltagsprothese im Nassbereich aus.

c) Nicht abzustellen ist auf das Schwimmen als Freizeitbetätigung. Wie bereits ausgeführt, dient die Badeprothese dem unmittelbaren Behinderungsausgleich beinamputierter Versicherter und ermöglicht ihnen im heimischen Nassbereich sowie im Schwimmbad ein sicheres Gehen und Stehen; auf die Frage, ob ein Grundbedürfnis betroffen ist, kommt es mithin nicht an. Darüber hinaus stellt die Ausübung von sportlichen Aktivitäten aber auch kein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens dar; dies gilt für den Freizeit- und Berufssport gleichermaßen. Es ist deshalb nicht von Bedeutung, dass dem Freizeitsport und insbesondere dem Schwimmen in der Regel eine gesundheitsfördernde Wirkung zukommt und beinamputierte Menschen von den Vorteilen des Schwimmens besonders profitieren. Zudem ist zu berücksichtigen, dass man mit einer Badeprothese zwar schwimmen kann, viele Betroffene auf das Anlegen der Prothese beim Schwimmen aber verzichten, weil sie wegen des Auftriebs eher hinderlich ist (vgl AOK/MDK-Protokoll vom 30.1.2006).

d) Soweit nach der früheren Rechtsprechung (BSG, Urteil vom 10.10.1979 - 3 RK 30/79 - SozR 2200 § 182 Nr 55) der Anspruch auf Versorgung mit einer Badeprothese auch auf die "Bedeutung des Schwimmens für die Gesunderhaltung im Allgemeinen und des Versehrtenschwimmsports für die körperliche Ertüchtigung des behinderten Versicherten im Besonderen" gestützt worden ist, stellt der Senat fest, dass dieser Aspekt weder der heutigen Lebenswirklichkeit entspricht noch in der Sache entscheidungserhebliche Bedeutung besitzt. Etwas anderes kann allerdings bei vertragsärztlich verordneter sportlicher Betätigung als ergänzende Leistung zur medizinischen Rehabilitation nach § 44 SGB IX gelten, nämlich beim sog Reha-Sport (§ 44 Abs 1 Nr 3 SGB IX) und beim Funktionstraining (§ 44 Abs 1 Nr 4 SGB IX). Nach der "Rahmenvereinbarung über den Reha-Sport und das Funktionstraining" vom 1.1.2007 (abgedruckt unter http://www.kbv.de/themen/2610.html) gehört zu den Reha-Sportarten das Schwimmen (Ziffer 5.1) und zu den Funktionstrainingsarten die Wassergymnastik (Ziffer 6). Die dazu erforderlichen Hilfsmittel werden nach den geltenden gesetzlichen Bestimmungen erbracht (Ziffer 17.3). Eine dafür erforderliche vertragsärztliche Verordnung liegt hier aber nicht vor.

e) Im häuslichen Bereich (Bad, Dusche) muss sich ein Versicherter nicht auf Badewannenlifter, Duschhocker, Unterarmgehstützen und rutschfeste Matten verweisen lassen. Der unmittelbare Behinderungsausgleich durch ein Körperersatzstück hat Vorrang gegenüber einem nur mittelbaren Ausgleich. Die genannten weiteren Hilfsmittel sind, soweit erforderlich, nur ergänzend zur Verfügung zu stellen, soweit es sich nicht - wie die rutschfesten Matten - um allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens handelt.

Der Vorrang des unmittelbaren Behinderungsausgleichs vor dem mittelbaren lässt sich auch aus dem Benachteiligungsverbot für behinderte Menschen (Art 3 Abs 3 Satz 2 GG) und aus dem Gebot gleichberechtigter Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (§ 1 SGB IX) ableiten. Außerdem ist in diesem Zusammenhang bei berechtigten Anliegen das Wunsch- und Wahlrecht der Versicherten nach § 9 SGB IX zu berücksichtigen. Hierzu gehört auch der vom Kläger betonte Gebrauchsvorteil der Badeprothese für nächtliche Toilettengänge.

6. Die Beklagte kann den Kläger nicht auf den angebotenen Kunststoff-Überzug verweisen, weil es sich dabei nicht um eine gleichwertige Versorgungsalternative handelt. Dieser Latexüberzug wurde in der Vergangenheit unter der Bezeichnung "Xero-Sox" vertrieben. Mittlerweile wird das Produkt überwiegend unter den Artikelnamen "Dry-Pro Waterproof Cast Protector" bzw "Dry-Pro Wasserdichter Körperschutz" angeboten, und zwar in den Varianten Wasserdichter Armschutz, Beinschutz, Stomaschutz, Katheterschutz und Prothesenschutz.

In den Internet-Auftritten des deutschen Vertriebsunternehmens sowie des britischen Herstellers (http://www.drypro.de/gebrauchsanweisung.htm sowie http://www.squidoo.com/drypro) findet sich unter dem Stichwort "Gebrauchsanweisung" folgender Warnhinweis: "Bitte beachten: Lassen Sie den Dry Pro nicht zu lange an. Wir empfehlen eine maximale Tragedauer von 45 Minuten. Keine Anwendung bei gefäßkranken Menschen. Halten Sie sich in nassen oder rutschigen Umgebungen fest. Dieses Produkt enthält natürliche Kautschukmilch. Verwenden Sie dieses Produkt nicht, wenn Sie auf Latex allergisch reagieren. Befolgen Sie in jedem Fall die Anweisungen Ihres Arztes."

Die eingeschränkte Tragedauer und das Trageverbot für Menschen mit Gefäßerkrankungen stellen im Vergleich zu einer Badeprothese einen deutlichen Gebrauchsnachteil dar. Im Übrigen wird der Dry Pro-Beinschutz in den Internet-Auftritten in erster Linie als Nässeschutz für Gipsverbände, Bandagen und Wundverbände beworben; die Verwendungsmöglichkeit als Prothesenschutz wird lediglich ergänzend erwähnt. Daraus ergibt sich in einer Gesamtbetrachtung, dass der Latexüberzug nicht in gleichem Umfang zum sicheren Gehen und Stehen in Nassbereichen geeignet ist wie eine Beinprothese. Auf die Frage, ob ein Versicherter den Latexüberzug allein wegen seiner optischen Wirkung ablehnen könnte (§ 9 SGB IX sowie § 33 SGB I), kam es daher nicht an.

7. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.