BSG, Urteil vom 30.01.2007 - B 2 U 15/05 R
Fundstelle
openJur 2011, 95243
  • Rkr:

1. Legt der Verordnungsgeber wie im Fall der Nr 4104 Anl 1 BKV die Voraussetzungen für das Vorliegen einer Berufskrankheit durch Vorgabe präziser Kriterien (hier: Einwirkung einer berufsbedingten Asbestfaserstaub-Dosis von mindestens 25 Faserjahren) selbst fest, so besteht, wenn die Kriterien erfüllt sind, die Vermutung, dass die betreffende Krankheit durch die berufsbedingte Schadstoffexposition verursacht wurde.</p>

<p>2. Die Vermutung wird nicht dadurch widerlegt, dass der Versicherte auch außerberuflich Einwirkungen ausgesetzt war, die eine derartige Krankheit hervorrufen können.

Tatbestand

Streitig ist, ob der Kläger die Feststellung verlangen kann, dass die bei ihm vorliegende Lungenkrebserkrankung eine Berufskrankheit (BK) nach Nr 4104 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV - BK 4104) ist.

Der im Jahre 1947 geborene Kläger war seit 1961 in 20 verschiedenen Betrieben in seinem erlernten Beruf als Schlosser und als Betriebsschlosser, Schweißer, Rohrschlosser, Anlagenfahrer, zuletzt von 1984 bis 1986 als Schweißer/Schlosser beim Kompostwerk L. und von 1988 bis 1996 beim Institut für berufsbezogene Erwachsenenbildung GmbH als Ausbilder tätig, wobei er teilweise Umgang mit Asbest hatte. Seit dem 1. November 1996 war der Kläger arbeitslos; er bezieht seit dem 1. Mai 1997 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.

Nachdem bei dem Kläger im März 1997 ein Bronchialkarzinom diagnostiziert und der beklagten Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (VBG) im April 1997 eine ärztliche Anzeige über eine BK erstattet worden war, holte die Beklagte ein Gutachten von Dr. O. ein, der zu dem Ergebnis kam, der Befund könne auf die langjährige berufliche Asbestexposition zurückzuführen sein, ein weiterer Risikofaktor sei der nicht beruflich bedingte Nikotinabusus. In einem pathologisch-anatomischen Zusatzgutachten vom 7. November 1997 bestätigte Prof. Dr. M. die Diagnose eines bösartigen Tumorleidens in der Lunge und führte aus, eine Asbestose - auch nur vom Schweregrad einer Minimalasbestose - habe nicht eruiert werden können, eine BK 4104 sei nicht wahrscheinlich.

Aufgrund der von ihrem Technischen Aufsichtsdienst (TAD) und den TADen der Süddeutschen Metall-BG, der Süddeutschen Bau-BG und der Beigeladenen zu 1., 2. und 3. erstellten Berichte über die berufliche Asbestexposition des Klägers kam die Beklagte auf eine Gesamt-Faserjahreskonzentration von 17,3827. Das Landesamt für Umweltschutz und Gewerbeaufsicht erklärte, nach gegenwärtiger Aktenlage sei eine BK 4104 zwar möglich, könne jedoch nicht hinreichend wahrscheinlich gemacht werden, außerberufliche Faktoren stünden wohl im Vordergrund. Daraufhin lehnte die Beklagte die Erbringung von Entschädigungsleistungen wegen der Lungenerkrankung ab, weil eine BK 4104 wegen Fehlens der arbeitstechnischen und medizinischen Voraussetzungen nicht vorliege (Bescheid vom 4. Februar 1999, Widerspruchsbescheid vom 23. März 1999).

Das Sozialgericht Speyer (SG) hat nach weiteren Ermittlungen die Unfallkasse Rheinland-Pfalz (Beigeladene zu 2.) unter Aufhebung der ablehnenden Bescheide der Beklagten verurteilt, dem Kläger unter Anerkennung einer BK 4104 Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung nach den gesetzlichen Vorschriften zu gewähren. Es sei unstreitig, dass der Kläger mit der Diagnose "Bronchialkarzinom" an einem Lungenkrebs leide, wie er in Nr 4104 der Anlage zur BKV genannt werde und dass er durch seine berufliche Tätigkeit Asbest ausgesetzt gewesen sei. Streitig sei das Bestehen eines Zusammenhangs zwischen Asbestexposition und Krebserkrankung. Eine solche Kausalität werde im Rahmen der BK 4104 ua dann unterstellt, wenn eine Exposition von 25 Asbestfaserjahren am Arbeitsplatz nachgewiesen sei. Eine Asbestbelastung von über 25 Faserjahren sei hier zur Überzeugung der Kammer aufgrund der Beweisaufnahme, insbesondere des von ihr eingeholten Gutachtens des Diplom-Physikers Dr. Dr. R. vom 4. Oktober 2000 und des von ihr durchgeführten Ortstermins mit Zeugenvernehmung in dem Unterrichtsgebäude, in dem der Kläger als Ausbilder tätig gewesen war, nachgewiesen.

Eine andere Beurteilung ergebe sich auch nicht daraus, dass der Kläger nach eigenen Angaben über einen Zeitraum von 20 Jahren täglich etwa 20 Zigaretten geraucht habe. Zwar komme ein lang andauernder Nikotinabusus grundsätzlich als Mitursache in Betracht; konkurrierende außerberufliche Einwirkungen seien jedoch nur dann geeignet, beruflich bedingte Einwirkungen als Ursache auszuschließen, wenn sie die rechtlich allein wesentliche Ursache seien. Im vorliegenden Fall werde eine solche zusätzliche Gefährdung durch Nikotin jedoch aufgewogen durch die zusätzlichen anderen beruflichen Belastungen, denen der Kläger während seines Berufslebens ausgesetzt gewesen sei. Der Sachverständige Dr. Dr. R. habe überzeugend darauf hingewiesen, dass der Kläger zusätzlich polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen ausgesetzt gewesen sei, deren Zusammenwirken mit Asbest eine multiplikative Wirkung zugeschrieben werde. Der Nachweis des Ursachenzusammenhangs zwischen der Lungenkrebserkrankung des Klägers und seiner beruflich bedingten Asbestexposition gelte durch die kraft Verordnung unterstellte ausreichende Asbestbelastung von 25 Faserjahren als erbracht; der röntgenologische Nachweis einer möglichen Asbestose bzw einer Pleura-Asbestose, wie er zum Teil angeregt worden sei, erübrige sich. Da die letzte gefährdende Tätigkeit des Klägers die Beschäftigung von 1984 bis 1986 bei dem Kompostwerk L., einem Mitglied der Beigeladenen zu 2., gewesen sei, richte sich der Anspruch des Klägers gegen diese.

Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz hat die Berufung der Beigeladenen zu 2. zurückgewiesen (Urteil vom 13. Juli 2004). Zur Begründung hat es auf die Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils Bezug genommen und im Einzelnen dargetan, es habe eine Gesamtbelastung des Klägers von 25,57 Faserjahren vorgelegen.

Mit ihrer - vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen - Revision macht die Beigeladene zu 2. eine Verletzung materiellen Rechts geltend. Das LSG habe sich durch seine Bezugnahme auf die erstinstanzlichen Entscheidungsgründe die Aussage des SG zu eigen gemacht, der Nachweis des Ursachenzusammenhangs zwischen der Lungenkrebserkrankung des Klägers und seiner beruflich bedingten Asbestexposition gelte durch die nachgewiesene Asbestbelastung von 25 Faserjahren als erbracht. Diese Auffassung verstoße gegen § 9 Abs 3 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII). Die darin enthaltene Vermutung, dass zwischen den besonderen Bedingungen einer versicherten Tätigkeit und einer Listen-BK dann ein ursächlicher Zusammenhang bestehe, wenn der Versicherte der Gefahr der Erkrankung in erhöhtem Maße ausgesetzt gewesen sei, stehe unter dem Vorbehalt, dass Anhaltspunkte für eine Verursachung außerhalb der versicherten Tätigkeit nicht festgestellt würden und sei daher widerlegbar. Zur Widerlegung dieser Vermutung reichten bereits konkrete Anhaltspunkte dafür aus, dass auch andere Ursachen außerhalb der versicherten Tätigkeit festgestellt werden könnten; der Unfallversicherungsträger müsse nicht den vollen Beweis der Verursachung der Krankheit durch außerberufliche Faktoren erbringen. Wenn Anhaltspunkte für eine außerberufliche Verursachung festgestellt würden, müsse die Frage der Verursachung nach den allgemeinen Kausalitätsgrundsätzen entschieden werden.

Danach sei der Lungenkrebs des Klägers nicht durch die beruflich bedingte Asbestexposition bedingt. Der jahrzehntelange übermäßige Nikotinkonsum sei als konkreter Anhaltspunkt dafür zu werten, dass eine außerberufliche Belastung die Lungenkrebserkrankung hervorgerufen haben könnte. Damit sei die Vermutung des § 9 Abs 3 SGB VII bereits widerlegt, was das LSG verkannt habe, indem es die haftungsbegründende Kausalität zwischen der Asbestexposition und dem Lungenkrebs nicht geprüft habe. Zudem spreche gegen die Asbestbedingtheit des Karzinoms des Klägers, dass Prof. Dr. M. eine Asbestose auch nur vom Schweregrad einer Minimalasbestose nicht habe diagnostizieren können und dass es keinen Hinweis auf hyaline Pleuraplaques gegeben habe; damit sei die Vermutung ebenso aufgrund des Krankheitsbildes widerlegt.

Die Beigeladene zu 2. beantragt sinngemäß,

die Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 13. Juli 2004 sowie des Sozialgerichts Speyer vom 8. Juli 2002 aufzuheben und die gegen sie gerichtete Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und trägt vor, er begehre mit seiner Klage letztlich die Feststellung, dass seine Lungenkrebserkrankung eine BK ist.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie trägt vor, das angefochtene Urteil sei jedenfalls insoweit zutreffend, als es davon ausgehe, dass nicht sie, sondern die Beigeladene zu 2. hier der zuständige Unfallversicherungsträger sei.

Die Beigeladene zu 1. und die Beigeladene zu 3. haben keine Anträge gestellt.

Gründe

Die Revision der Beigeladenen zu 2. ist unbegründet. Der Kläger hat Anspruch auf die Feststellung, dass die bei ihm vorliegende Lungenkrebserkrankung eine BK 4104 ist, wie SG und LSG in der Sache zutreffend entschieden haben. Der Tenor des angefochtenen Berufungsurteils war lediglich insoweit neu zu fassen, als eine entsprechende Feststellung ausgesprochen wird, wie sie der Kläger im Revisionsverfahren auch ausdrücklich begehrt (vgl dazu BSG SozR 4-2700 § 2 Nr 3 RdNr 4 f).

Der Anspruch des Klägers richtet sich gemäß § 212 SGB VII nach den Vorschriften des SGB VII, denn den bindenden Feststellungen (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes <SGG>) des LSG ist zu entnehmen, dass der geltend gemachte Versicherungsfall frühestens im März 1997, dem Zeitpunkt der erstmaligen Diagnose eines Bronchialkarzinoms bei dem Kläger, und damit nach dem In-Kraft-Treten des SGB VII (1. Januar 1997) eingetreten ist (Art 36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes).

Rechtsgrund für die Anerkennung der Erkrankung des Klägers als BK ist § 9 Abs 1 SGB VII. Danach sind BKen Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als BKen bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Die hier allein in Streit stehende BK 4104, die unter der Nr 41 "Erkrankungen durch anorganische Stäube" eingeordnet ist, wird definiert als Lungenkrebs oder Kehlkopfkrebs entweder (1.) in Verbindung mit Asbeststaublungenerkrankungen oder (2.) in Verbindung mit durch Asbeststaub verursachter Erkrankung der Pleura oder (3.) bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Asbestfaserstaubdosis am Arbeitsplatz von mindestens 25 Faserjahren.

Im vorliegenden Fall sind die Voraussetzungen der dritten Fallgruppe der BK 4104 gegeben. Dass der Kläger an einer Lungenkrebserkrankung in Form eines Bronchialkarzinoms leidet, ergibt sich aus den von keinem Beteiligten angegriffenen und daher für den Senat bindenden (§ 163 SGG) tatsächlichen Feststellungen des LSG und deren Subsumtion unter die BK-Bezeichnung, gegen die keine rechtlichen Bedenken erhoben wurden oder zu erkennen sind. Damit liegt eine Erkrankung iS des Tatbestandes der BK 4104 vor.

Ebenso sind die berufsbedingten Einwirkungen von Asbestfaserstaub auf den Körper des Klägers, die sog arbeitstechnischen Voraussetzungen, nach den im Revisionsverfahren von der Revision nicht mehr angegriffenen und daher für den Senat bindenden Feststellungen des LSG nachgewiesen. Dies gilt auch für den Umfang dieser Einwirkungen von 25,57 Faserjahren.

Entgegen der Ansicht der Beigeladenen zu 2. ist hier auch der ursächliche Zusammenhang zwischen den berufsbedingten Schadstoffeinwirkungen und der Lungenkrebserkrankung gegeben.

Für den Ursachenzusammenhang zwischen Einwirkungen und Erkrankungen im Recht der BKen gilt, wie auch sonst in der gesetzlichen Unfallversicherung, die Theorie der wesentlichen Bedingung, die der Senat in seinen Entscheidungen vom 9. Mai 2006 (- B 2 U 1/05 R - vorgesehen für BSGE und SozR sowie - B 2 U 26/04 R - mwN) zusammengefasst dargestellt hat. Die Theorie der wesentlichen Bedingung hat zur Ausgangsbasis die naturwissenschaftlich-philosophische Bedingungstheorie, nach der Ursache eines Erfolges jedes Ereignis ist, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio sine qua non). Aufgrund der Unbegrenztheit der Bedingungstheorie werden im Sozialrecht als rechtserheblich aber nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. "Wesentlich" ist nicht gleichzusetzen mit "gleichwertig" oder "annähernd gleichwertig". Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange die andere(n) Ursache(n) keine überragende Bedeutung hat (haben). Gesichtspunkte für die Beurteilung der Wesentlichkeit einer Ursache sind insbesondere die versicherte Ursache als solche, insbesondere Art und Ausmaß der Einwirkung, der Geschehensablauf, konkurrierende Ursachen unter Berücksichtigung ihrer Art und ihres Ausmaßes, sowie die gesamte Krankengeschichte. Trotz dieser Ausrichtung am individuellen Versicherten ist der Beurteilung des Ursachenzusammenhangs im Einzelfall der aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisstand über die Ursachenzusammenhänge zwischen Ereignissen und Gesundheitsschäden zugrunde zu legen. Beweisrechtlich ist zu beachten, dass der Ursachenzusammenhang nach der Theorie der wesentlichen Bedingung positiv festgestellt werden muss und hierfür hinreichende Wahrscheinlichkeit genügt, nicht jedoch die bloße Möglichkeit. Angesichts der multifaktoriellen Entstehung vieler Erkrankungen, der Länge der zu berücksichtigenden Zeiträume und des Fehlens eines typischerweise durch berufliche Einwirkungen verursachten Krankheitsbildes bei vielen BKen, stellt sich letztlich oft nur die Frage nach einer wesentlichen Mitverursachung der Erkrankung durch die versicherten Einwirkungen.

Wie aus den oben dargestellten Grundlagen für die Beurteilung des Ursachenzusammenhangs bei BKen folgt, ist die wesentliche Mitverursachung immer Gegenstand der Prüfung, weil zur Entstehung vieler Erkrankungen, die als BK anerkannt werden können, so auch bei den hier umstrittenen Lungen- und Kehlkopfkrebserkrankungen, unterschiedliche Ursachen führen. Von daher gibt es auch in derartigen Fallgestaltungen keinen "Automatismus" zur Bejahung des Ursachenzusammenhangs allein aufgrund des Vorliegens entsprechender Einwirkungen und einer bestimmten Erkrankung (vgl BSG Urteil vom 27. Juni 2006 - B 2 U 7/05 R - zur BK nach Nr 4302 der Anlage zur BKV).

Enthält allerdings die einzelne Listennummer "harte" Kriterien wie hier die Nr 4104 den Nachweis der Einwirkung einer berufsbedingten Asbestfaserstaub-Dosis von mindestens 25 Faserjahren und sind diese im Vollbeweis nachgewiesen, liegt eine Tatsachenvermutung vor, die auf die Verursachung der festgestellten Krebserkrankung iS der Listennummer schließen lässt (vgl BSG Urteil vom 7. September 2004 - B 2 U 25/03 R -). Die Annahme einer solchen tatsächlichen Vermutung folgt aus der Konzeption der durch die Zweite Verordnung zur Änderung der BKV neu gefassten Nr 4104 und der dazu vom Verordnungsgeber gegebenen Erklärung. Nach der Begründung der Bundesregierung zu Art 1 Nr 5 des Entwurfs der Zweiten Verordnung zur Änderung der BKV (BR-Drucks 773/92 S 12, 13) liegt der hier relevanten dritten Alternative der Nr 4104 das auf der Basis internationaler epidemiologischer Forschungsergebnisse gewonnene gesicherte Wissen um Zusammenhänge von Ursache und Wirkung in Form von Dosis-Wirkungs-Beziehungen zugrunde, die sowohl in der Pharmakotherapie als auch in der Toxikologie, der experimentellen Krebsforschung, im Strahlenschutz und in der Arbeitsmedizin allgemein gültig sind. Die arbeitsmedizinisch-epidemiologischen Erkenntnisse sowohl bei durch Strahlen als auch bei durch Asbestfaserstaub verursachten Tumoren zeigen eine lineare Beziehung zwischen der Häufigkeit des Auftretens von Lungenkrebstodesfällen und den kumulativ berechneten Dosiswerten. Die kumulative Dosis des krebserzeugenden Gefahrstoffs Asbest ist danach die Asbestfaseranzahl pro Kubikmeter Atemluft unter Berücksichtigung der zeitlichen Dauer der Einwirkung am Arbeitsplatz in Jahren. Als Maßeinheit der kumulativen Asbestfaserstaub-Dosis hat sich international das "Faserjahr" durchgesetzt. Die Berechnung erfolgt anhand der durchschnittlichen Anzahl von Asbestfasern (F) kritischer Abmessungen pro Kubikmeter Atemluft am Arbeitsplatz (F/m³), multipliziert mit der Tätigkeitsdauer in Jahren (F/m³ x Jahre). Der in der Nr 4104 aufgeführte Grenzwert ist definiert als Exposition gegenüber einer durchschnittlichen Anzahl von 10 6 Fasern pro Kubikmeter Atemluft während einer Dauer von 25 Jahren mit der üblichen Zahl von achtstündigen Arbeitsschichten pro Jahr. Aufgrund der Analyse der vorliegenden Studien werden 25 Faserjahre als verallgemeinerungsfähige Verdoppelungs-Dosis für die Lungenkrebssterblichkeit nach Asbestfaserstaubeinwirkung am Arbeitsplatz angesehen. Andere epidemiologische Beobachtungen mit dem Ergebnis höherer Verdopplungsdosen der kumulativen Asbestfaserstaubeinwirkung widerlegen die vorgenannten Studien nicht. Versuche, die abweichenden Resultate durch branchenspezifische Besonderheiten in den Längen- und Durchmesserverteilungen der verwendeten Asbestfasern zu erklären, blieben bisher erfolglos. Die Ergebnisse weiterer wissenschaftlicher Veröffentlichungen zur Dosis-Wirkungs-Beziehung nach Asbestexposition, die eine Einführung des Faserjahrmodells nicht stützen, sind bei der Diskussion der wissenschaftlichen Erkenntnisse geprüft worden. Das Gewicht ihrer zT abweichenden Argumente vermochte indes nicht zu überzeugen, da derartige Einzelergebnisse oder Bewertungen die vorliegenden eindeutig positiven Studien aus den vorgenannten Gründen nicht aufzuheben vermögen. Darüber hinaus war die Gesamtheit an wissenschaftlicher Evidenz zur Krebsverursachung durch Fasern kritischer Abmessungen aus den Forschungsbereichen der Zelltoxikologie, experimentellen Onkologie, Immunologie und Molekularbiologie ergänzend zu den epidemiologischen und kasuistischen Erkenntnissen am Menschen gebührend mit zu berücksichtigen.

Entsprechend weist der Ärztliche Sachverständigenbeirat "Berufskrankheiten" beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales zur Anwendung der - ähnlich wie die BK 4104 strukturierten - BK 4111 "Chronische obstruktive Bronchitis oder Emphysem von Bergleuten unter Tage im Steinkohlenbergbau bei Nachweis einer kumulativen Dosis von in der Regel 100 Feinstaubjahren ... " neuerdings darauf hin, diese Legaldefinition enthalte die "Regelvermutung", dass bei der genannten kumulativen Feinstaubdosis der Nachweis der Ursächlichkeit des Steinkohlenstaubes für die im Tatbestand der BK 4111 angeführten Listenkrankheiten erbracht sei (Bekanntmachung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 1. Oktober 2006 in BArBl 12/2006 S 149). Angesichts der allgemein bekannten, oben aufgezeigten Schwierigkeiten bei der Beurteilung von kausalen Zusammenhängen im Bereich der BKen können diese Regelungen und die dazu vom Verordnungsgeber angeführte Begründung ähnlich wie die in der ersten und zweiten Alternative der BK 4104 genannten Brückensymptome nur als Beweiserleichterungen bei der Beurteilung des Ursachenzusammenhangs bei der dritten Alternative der BK 4104 gesehen werden.

Aus dem von der Beklagten herangezogenen § 9 Abs 3 SGB VII, gegen den das LSG hier bei der Bejahung des ursächlichen Zusammenhangs verstoßen haben soll, folgt nichts anderes. Diese Vorschrift ist hier nicht einschlägig und wurde dementsprechend auch weder vom LSG noch vom SG, auf dessen Urteil das LSG nach § 153 Abs 2 SGG Bezug genommen hat, zur Begründung der Entscheidung herangezogen. Dass § 9 Abs 3 SGB VII für die oben dargelegte Auslegung der BK 4104 keine Bedeutung hat, ergibt sich daraus, dass diese Norm zeitlich später als die hier relevante BK-Listennummer entstanden ist und einen anderen Anwendungsbereich hat. Sie regelt ihrem Wortlaut nach nur Fälle, in denen Anhaltspunkte für eine Verursachung außerhalb der versicherten Tätigkeit nicht festgestellt werden können. Dies ist hier aber gerade nicht der Fall, denn mit dem vom LSG bindend festgestellten Rauchen des Klägers über einen Zeitraum von 20 Jahren ist mehr als ein Anhaltspunkt für eine andere Verursachung für die Lungenkrebserkrankung des Klägers gegeben.

Die in der BK 4104 angeordnete Tatsachenvermutung für die wesentliche Verursachung der dort genannten Krebserkrankung durch eine versicherte Asbestfasereinwirkung von mehr als 25 Jahren kann widerlegt werden, indem beispielsweise gezeigt wird, dass wegen der Art oder der Lokalisation des Tumors, wegen des zeitlichen Ablaufs der Erkrankung oder aufgrund sonstiger Umstände im konkreten Einzelfall ein ursächlicher Zusammenhang trotz der beruflichen Belastung nicht wahrscheinlich ist. Entgegen der Auffassung der Beigeladenen zu 2. wird sie aber nicht schon durch die Feststellung widerlegt, dass der Versicherte auch außerberuflich Schadstoffeinwirkungen - hier durch langjähriges Zigarettenrauchen - ausgesetzt war, die nach wissenschaftlicher Erkenntnis geeignet sind, einen Lungen- oder Kehlkopfkrebs zu verursachen. Birgt nach den beschriebenen Forschungsergebnissen eine Asbeststaubbelastung von 25 Faserjahren und mehr für sich allein ein so hohes Gefährdungspotential, dass sich darauf die Kausalitätsvermutung stützen lässt, so kann es auf das Vorhandensein weiterer belastender Einwirkungen nicht ankommen. Anderenfalls bliebe angesichts vielfältiger, in ihren Wirkungen und Wechselwirkungen nur teilweise bekannter und erforschter gesundheitsschädlicher Umwelteinflüsse, denen jeder in seinem persönlichen Umfeld in mehr oder weniger großem Umfang ausgesetzt ist, die vom Verordnungsgeber aufgestellte Vermutung weitgehend bedeutungslos. Der Text der Nr 4104 der Anlage zur BKV enthält dementsprechend auch keine Einschränkung dahin, dass die angegebene Belastungsdosis eine berufliche Verursachung nur indizieren soll, wenn andere potentiell krank machende Einwirkungen nicht nachgewiesen sind.

Da der festgestellte Nikotinabusus somit nicht geeignet ist, die Vermutung eines rechtlich relevanten Ursachenzusammenhangs zwischen der beruflichen Asbestexposition und der Entstehung des Bronchialkarzinoms zu widerlegen, ist nicht näher darauf einzugehen, dass der Kläger nach den Feststellungen des LSG an seinem Arbeitsplatz auch mit polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen zu tun hatte, denen im Zusammenwirken mit Asbest eine multiplikative, also erheblich verstärkende Wirkung zugeschrieben wird. Es kann daher auch offen bleiben, wie dies ohne die bestehende Tatsachenvermutung im Rahmen einer Gesamtwürdigung unter Einbeziehung aller bekannten schädlichen Einwirkungen zu gewichten wäre.

Da nach den gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen im angefochtenen Berufungsurteil die letzte gefährdende Tätigkeit des Klägers im Kompostwerk L. stattfand und dieses ein Mitgliedsunternehmen der Beigeladenen zu 2. ist, ist die Beigeladene auch für die Anerkennung der BK 4104 zuständig (§ 134 Satz 1 Halbs 1 SGB VII). Aus der seit dem 1. April 1994 geltenden Vereinbarung der Träger der Unfallversicherung in der Fassung vom 1. Januar 1997 (HVBG-Rdschr VB 65/98), die auch nach In-Kraft-Treten des SGB VII fortgilt, weil sie § 134 Satz 1 Halbs 2 SGB VII entspricht (vgl Krasney/Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 12. Aufl, SGB VII, § 134 RdNr 9) ergibt sich nichts anderes.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.