BFH, Urteil vom 16.12.2008 - I R 29/08
Fundstelle
openJur 2011, 86515
  • Rkr:

Ersetzt das Finanzamt während eines Klageverfahrens den mit der Klage angefochtenen Haftungsbescheid durch einen anderen Haftungsbescheid, in dem es erstmals seine Ermessenserwägungen erläutert, so wird dieser Bescheid zum Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens. Im weiteren Verlauf jenes Verfahrens sind die nunmehr angestellten Ermessenserwägungen in vollem Umfang zu berücksichtigen.

Tatbestand

I. Die Beteiligten streiten über die verfahrensrechtlichen Folgen der Ersetzung eines Haftungsbescheids durch einen anderen Haftungsbescheid.

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger), ein Verein, veranstaltet Konzerte. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) nahm an, dass der Kläger in diesem Zusammenhang seiner Verpflichtung zum Steuerabzug gemäß § 50a Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes nicht nachgekommen sei, und erließ deshalb gegen ihn einen Haftungsbescheid über Körperschaftsteuer und Solidaritätszuschlag für den Anmeldungszeitraum I/2000. Der Einspruch des Klägers gegen diesen Bescheid hatte keinen Erfolg. Nach den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) enthalten weder der Bescheid selbst noch die Einspruchsentscheidung Ausführungen zur Ermessensbetätigung.

Der Kläger focht den Haftungsbescheid mit einer Klage an. Daraufhin hob das FA den Bescheid am 27. Februar 2008 auf. Gleichzeitig erließ es einen neuen Haftungsbescheid, der im Hinblick auf den Haftungsgegenstand und die Haftungsbeträge mit dem ursprünglichen identisch ist. In diesem Bescheid heißt es u.a., der Kläger werde als Haftungsschuldner in Anspruch genommen, weil er den maßgeblichen Vertrag geschlossen und die für die Steuerschuld maßgebliche Vergütung gezahlt habe und weil der Steuerschuldner im Ausland ansässig sei; von einer Inanspruchnahme des gesetzlichen Vertreters des Klägers werde zunächst abgesehen. Der Bescheid enthält ferner den Hinweis, dass er gemäß § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zum Gegenstand des anhängigen Klageverfahrens werde.

Nach Erhalt dieses Bescheids erklärte der Kläger im Klageverfahren den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt. Das FA gab keine Erledigungserklärung ab. Daraufhin erließ das FG ein Urteil mit dem Tenor, dass sich der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt habe (Niedersächsisches FG, Urteil vom 6. März 2008  11 K 300/01). Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2008, 1051 abgedruckt.

Mit seiner vom FG zugelassenen Revision rügt das FA eine Verletzung des § 68 FGO. Es beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und festzustellen, dass der Haftungsbescheid vom 27. Februar 2008 zum Gegenstand des finanzgerichtlichen Verfahrens geworden ist und dass die darin enthaltenen Ermessenserwägungen bei der Entscheidung des FG zu berücksichtigen sind.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Gründe

  II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO). Dieses hat zu Unrecht angenommen, dass der Haftungsbescheid vom 27. Februar 2008 nicht zum Gegenstand des bei ihm anhängigen Verfahrens geworden ist.

1. Ein vor dem FG geführter Rechtsstreit ist in der Hauptsache erledigt, wenn nach Eintritt der Rechtshängigkeit ein Ereignis eingetreten ist, durch welches das gesamte im Verfahren streitige --nach Maßgabe des Klageantrags zu bestimmende-- Klagebegehren objektiv gegenstandslos geworden ist (Bundesfinanzhof --BFH--, Urteil vom 20. Oktober 2004 II R 74/00, BFHE 207, 355, BStBl II 2005, 99, 100; Brandis in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 138 FGO Rz 9, m.w.N.). Ist eine Erledigung eingetreten und erklärt daraufhin nur der Kläger den Rechtsstreit für erledigt, während das FA der Erledigungserklärung widerspricht, so muss das FG die Erledigung durch Urteil feststellen (BFH-Urteile vom 19. Januar 1971 VII R 32/69, BFHE 101, 201, BStBl II 1971, 307; vom 29. November 1984 V R 146/83, BFHE 143, 101, 105, BStBl II 1985, 370, 372; Brandt in Beermann/Gosch, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 138 FGO Rz 191, m.w.N.). So ist das FG im Streitfall verfahren.

2. Das FG hat das erledigende Ereignis darin gesehen, dass das FA den ursprünglich angefochtenen Haftungsbescheid aufgehoben hat. Es hat dabei dem Umstand, dass zugleich ein neuer Haftungsbescheid erlassen wurde, keine Bedeutung beigemessen. Insbesondere hat es angenommen, dass jener neue Bescheid nicht gemäß § 68 Satz 1 FGO zum Gegenstand des anhängigen Klageverfahrens geworden sei. Dem ist nicht beizupflichten.

a) Nach § 68 Satz 1 FGO wird, wenn ein angefochtener Verwaltungsakt nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung geändert oder ersetzt wird, der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Verfahrens. Ergeht jener Verwaltungsakt während eines Klageverfahrens und wird durch ihn dem Begehren des Klägers nicht in vollem Umfang abgeholfen, so wird durch seinen Erlass das Klageverfahren nicht erledigt. Es ist vielmehr fortzusetzen, wobei Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung nunmehr der ändernde oder ersetzende Verwaltungsakt ist.

b) § 68 Satz 1 FGO greift u.a. dann ein, wenn ein angefochtener Verwaltungsakt aus formellen Gründen aufgehoben und inhaltsgleich wiederholt wird (BFH-Urteile vom 8. Februar 2001 VII R 59/99, BFHE 194, 466, BStBl II 2001, 506; vom 26. November 1986 I R 256/83, BFH/NV 1988, 82). Denn dieser Vorgang ist als "Ersetzung" des angefochtenen Bescheids i.S. des § 68 Satz 1 FGO anzusehen (ebenso Stöcker in Beermann/ Gosch, a.a.O., § 68 FGO Rz 30; Schallmoser in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 68 FGO Rz 39). Er unterfällt § 68 Satz 1 FGO auch dann, wenn der ursprüngliche Bescheid keine hinreichenden Ausführungen zur Ermessensausübung enthielt und diese in dem "ersetzenden" Bescheid nachgeholt werden. Das hat der Senat zu § 68 FGO i.d.F. vor der Geltung des Zweiten Gesetzes zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze vom 19. Dezember 2000 (BGBl I 2000, 1757, BStBl I 2000, 1567) entschieden (Urteil in BFH/NV 1988, 82), und insoweit hat die Neufassung des Gesetzes die Reichweite der Vorschrift nicht verändert.

c) Das FG hat dies erkannt. Es hat jedoch angenommen, dass § 68 Satz 1 FGO nicht eingreife, wenn der ersetzte Bescheid eine Ermessensentscheidung zum Gegenstand gehabt und keinerlei Erläuterung zur Ermessensbetätigung enthalten habe. Die Finanzbehörde dürfe nämlich im gerichtlichen Verfahren ihre Ermessenserwägungen nur ergänzen (§ 102 Satz 2 FGO), nicht aber erstmalig Ermessenserwägungen anstellen (BFH-Urteil vom 11. März 2004 VII R 52/02, BFHE 205, 14, BStBl II 2004, 579). Deshalb müssten, wenn solche Erwägungen erstmals in einem ersetzenden Bescheid angestellt würden und dieser Bescheid Gegenstand des Klageverfahrens werde, jene Erwägungen unbeachtet bleiben. Das sei nicht sachgerecht, weshalb § 68 Satz 1 FGO im Wege der teleologischen Reduktion dahin auszulegen sei, dass er einen solchen Sachverhalt nicht erfasse. Vielmehr sei in dieser Situation der Rechtsstreit wegen des ursprünglichen Bescheids in der Hauptsache erledigt und in Bezug auf den ersetzenden Bescheid die Möglichkeit des Einspruchs eröffnet.

d) Dem ist nicht beizupflichten. Zwar mag zwischen den Regelungen in § 102 FGO einerseits und in § 68 FGO andererseits insofern ein gewisser Widerspruch bestehen, als § 102 Satz 2 FGO nur die "Ergänzung" von Ermessenserwägungen gestattet, während § 68 Satz 1 FGO die vollständige Ersetzung des angefochtenen Bescheids erlaubt und im Hinblick auf die Ermessensausübung keine Einschränkung enthält. Ein solcher Widerspruch könnte aber nicht in der Weise ausgeräumt werden, dass die in § 102 Satz 2 FGO enthaltene Einschränkung auf den Anwendungsbereich des § 68 Satz 1 FGO übertragen wird. Vielmehr stehen beide Regelungen gleichrangig nebeneinander mit der Folge, dass die Ersetzung eines Verwaltungsakts auch dann unter § 68 Satz 1 FGO fällt, wenn aus Rechtsgründen Ausführungen zur Ermessensausübung notwendig sind und der ersetzende Verwaltungsakt erstmals solche Ausführungen enthält.

aa) § 68 FGO dient u.a. der Verfahrensbeschleunigung (BFH-Urteil vom 25. Juli 1991 XI R 2/86, BFHE 165, 324, BStBl II 1992, 37; Stöcker in Beermann/Gosch, a.a.O., § 68 FGO Rz 3). Seine Zielsetzung besteht insoweit darin, dass ein einmal anhängig gewordenes Klageverfahren ungeachtet einer Änderung der Bescheidlage fortgeführt werden kann und dass dadurch Verzögerungen vermieden werden, die mit der Unterbrechung jenes Verfahrens und der Einleitung eines weiteren --auf den Änderungsbescheid bezogenen-- Rechtsbehelfsverfahrens verbunden sein könnten. Dieses Anliegen besteht auch in der hier in Rede stehenden Situation. Es entspricht daher dem Grundgedanken des § 68 Satz 1 FGO, die Norm in dieser Situation uneingeschränkt anzuwenden.

bb) Allerdings darf die Anwendung des § 68 FGO nicht dazu führen, dass die von der Finanzbehörde getroffene Regelung einer inhaltlichen Überprüfung durch die Gerichte entzogen wird. Deshalb ist § 68 Satz 1 FGO nach verbreiteter Ansicht nicht anwendbar, wenn ein mit einer Klage angefochtener Verwaltungsakt geändert oder ersetzt wird, die Klage gegen den ursprünglichen Verwaltungsakt aber unzulässig ist (Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., § 68 FGO Rz 89, m.w.N.). Mit diesem Sachverhalt ist der hier zu beurteilende aber nicht vergleichbar.

Denn die Unzulässigkeit der Klage hindert einerseits das Gericht an einer Sachentscheidung. Sie kann andererseits nach der Rechtsprechung des BFH nicht vermittels einer Anwendung des § 68 FGO behoben werden (BFH-Urteile vom 11. Dezember 1986 IV R 184/84, BFHE 148, 422, BStBl II 1987, 303; vom 19. Februar 1993 VI R 70/92, BFH/NV 1993, 552). Auf dieser Basis hätte eine Anwendung des § 68 FGO im Fall der unzulässigen Klage zur Folge, dass die Klage gegen den ändernden oder ersetzenden Verwaltungsakt abgewiesen werden müsste, ohne dass es auf dessen inhaltliche Rechtmäßigkeit ankäme. Da zudem § 68 Satz 2 FGO für den Anwendungsbereich des § 68 Satz 1 FGO den Einspruch ausschließt, wäre der ändernde oder ersetzende Bescheid im Ergebnis keiner gerichtlichen Rechtmäßigkeitskontrolle zugänglich. Deshalb ist der Gesetzgeber erklärtermaßen davon ausgegangen, dass in einer solchen Situation der Einspruch gegen den "neuen" Bescheid zulässig sein soll; er hat dies durch die Einfügung des Wortes "insoweit" in § 68 Satz 2 FGO klarstellen wollen (Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses, BTDrucks 14/4549, S. 11).

Im Zusammenhang mit § 102 Satz 2 FGO fehlt es dagegen nicht nur an einer vergleichbaren Äußerung des Gesetzgebers, sondern auch an einer entsprechend eindeutigen Ausgangssituation. Dem Rechtsschutzinteresse des Bürgers kann vielmehr in vollem Umfang durch eine Gesetzesauslegung des Inhalts Rechnung getragen werden, dass im Anwendungsbereich des § 68 FGO die Nachholung von Ermessenserwägungen nicht gemäß § 102 Satz 2 FGO beschränkt ist. Einer solchen Auslegung stehen weder der Gesetzestext noch die Gesetzesmaterialien entgegen. Daher lässt sich der vom FG angenommene Vorrang des § 102 Satz 2 FGO vor § 68 Satz 1 FGO aus dem Gesetz nicht ableiten.

cc) Zu einer abweichenden Beurteilung der Rechtslage führt nicht die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), auf die das FG verwiesen hat. Danach ist es der Verwaltungsbehörde verwehrt, einen mit der Klage angefochtenen Verwaltungsakt durch einen anderen Verwaltungsakt zu ersetzen und in dem ersetzenden Verwaltungsakt erstmals eine vom Gesetz geforderte Ermessensbetätigung zum Ausdruck zu bringen. Ein solches Vorgehen verstoße gegen den seinerzeit in § 41 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) verankerten Grundsatz, dass die notwendige Erläuterung einer Ermessensausübung (§ 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X) nur bis zur Erhebung der Klage nachgeholt werden könne (BSG-Urteile vom 24. August 1988  7 RAr 53/86, BSGE 64, 36; vom 15. Februar 1990  7 RAr 28/88, BSGE 66, 204, m.w.N.). Die genannte Rechtsprechung besagt indessen nicht, dass in einem solchen Fall der ersetzende Bescheid nicht gemäß § 96 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zum Gegenstand eines den ursprünglichen Bescheid betreffenden Klageverfahrens werde; im Gegenteil geht das BSG ausdrücklich davon aus, dass in der von ihm behandelten Situation § 96 Abs. 1 SGG eingreift (BSG-Urteil in BSGE 64, 36). Nichts anderes gilt im Anwendungsbereich des § 68 FGO, dessen Regelungsgehalt insoweit demjenigen des § 96 SGG entspricht.

3. Im Streitfall ist hiernach der Haftungsbescheid vom 27. Februar 2008 zum Gegenstand des beim FG anhängigen Verfahrens geworden. Daher hatte der Kläger sein mit der Klage verfolgtes Ziel, eine endgültige Aufhebung des Haftungsbescheids zu erwirken, nicht erreicht. Daraus folgt, dass eine inhaltliche Erledigung des Klageverfahrens nicht eingetreten ist. Das FG hätte mithin dem Feststellungsantrag des Klägers nicht stattgeben dürfen, weshalb sein Urteil aufgehoben werden muss.

4. Doch kann der Senat nicht zugleich in der Sache selbst entscheiden (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO). Insbesondere kann er nicht deshalb, weil nur der Kläger den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt hat und eine Erledigung tatsächlich nicht eingetreten ist, die Klage abweisen. Vielmehr muss die Sache an das FG zurückverwiesen werden, damit dieses das Klageverfahren fortsetzen und über die Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheids vom 27. Februar 2008 befinden kann.

a) Erklärt der Kläger einen Rechtsstreit für erledigt und widerspricht das FA dieser Erklärung, so beschränkt sich der Rechtsstreit in der Folge grundsätzlich auf die Erledigungsfrage. Für eine Entscheidung über den ursprünglichen Klageantrag ist dann kein Raum (BFH-Urteil vom 27. September 1979 IV R 70/72, BFHE 128, 492, BStBl II 1979, 779; BFH-Beschluss vom 20. März 2003 III B 74/01, BFH/NV 2003, 935). Der Kläger kann aber, wenn er eine Erledigungserklärung abgibt, hilfsweise an seinem früheren Antrag festhalten (BFH-Urteil in BFHE 207, 355, BStBl II 2005, 99, 101; Brandis in Tipke/Kruse, a.a.O., § 138 FGO Rz 36, m.w.N.). Ist das geschehen und die Erledigung nicht eingetreten, so muss das FG über jenen Antrag entscheiden.

b) Im Streitfall hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem FG eine Erledigungserklärung abgegeben, nachdem das FG darauf hingewiesen hatte, dass seiner Ansicht nach der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt sei. Er hatte aber zuvor mitgeteilt, dass er an einer Klärung der streitigen Sachfrage interessiert sei und in erster Linie eine Entscheidung des FG zu dieser Frage anstrebe (Schriftsatz vom 16. Januar 2008). Angesichts dessen muss der in der mündlichen Verhandlung gestellte Antrag ergänzend dahin ausgelegt werden, dass er ein hilfsweises Festhalten an dem ursprünglichen Klageantrag beinhaltet. Zu dieser Auslegung ist der erkennende Senat befugt, da das Revisionsgericht Prozesserklärungen ohne Bindung an Tatsachenfeststellungen des FG auslegen darf (Ruban in Gräber, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 118 Rz 48, m.w.N.). Mit der Situation, in der ein fachkundig vertretener Kläger trotz eines Hinweises auf Zweifel am Eintritt der Erledigung von einem entsprechenden Hilfsantrag absieht und keine anderen Gründe für ein fortbestehendes Interesse an einer Sachentscheidung erkennbar sind (dazu Senatsbeschluss vom 3. April 2000 I B 68/99, BFH/NV 2000, 1226), ist der Streitfall nicht vergleichbar.

c) Dem hiernach zu bescheidenden Hilfsantrag des Klägers kann nicht schon deshalb stattgegeben werden, weil der ursprünglich angefochtene Haftungsbescheid keine Ermessenserwägungen enthalten hat. Denn Gegenstand der gerichtlichen Prüfung muss wegen § 68 Satz 1 FGO der Bescheid vom 27. Februar 2008 sein, und darin hat das FA seine Ermessensausübung erläutert. Eine nachträgliche Ermessensbetätigung, die nur in den Grenzen des § 102 Satz 2 FGO zulässig wäre, liegt in Bezug auf diesen Bescheid nicht vor. Nur darauf kommt es jedoch an, da § 102 Satz 2 FGO ausschließlich die Ergänzung von Ermessenserwägungen "hinsichtlich des Verwaltungsakts" regelt.

Dieser Beurteilung steht die Rechtsprechung des BSG zur Ersetzung von Verwaltungsakten während eines sozialgerichtlichen Verfahrens (dazu oben II.2.d cc) nicht entgegen. Denn die verfahrensrechtlichen Rahmenbedingungen, auf denen sie beruht, weichen von den hier maßgeblichen in entscheidungserheblicher Weise ab. Die für Haftungsbescheide geltende Regelungslage ist u.a. dadurch gekennzeichnet, dass die Anfechtung eines solchen Bescheids den Ablauf der maßgeblichen Festsetzungsfrist hemmt (§ 171 Abs. 3a der Abgabenordnung --AO--) und dass diese Hemmung fortwirkt, wenn --wie im Streitfall-- ein angefochtener Haftungsbescheid durch einen anderen Haftungsbescheid ersetzt wird (BFH-Urteil vom 5. Oktober 2004 VII R 18/03, BFHE 208, 292, BStBl II 2005, 323). Das Gesetz geht mithin davon aus, dass die Finanzbehörde einen angefochtenen Haftungsbescheid bis zum Abschluss eines Rechtsbehelfsverfahrens ohne zeitliche Einschränkung ersetzen kann. Diese Möglichkeit muss auch die Ergänzung des Bescheids um Ermessenserwägungen umfassen, da anderenfalls die in § 171 Abs. 3a AO getroffene Regelung in diesem Bereich häufig versagen würde: Würde einerseits ein ersetzender Haftungsbescheid zum Gegenstand eines anhängigen Klageverfahrens und könnten andererseits die in ihm angestellten Ermessenserwägungen in jenem Verfahren nicht berücksichtigt werden, so könnte die Finanzbehörde eine nachträgliche Ermessensausübung nur dadurch wirksam vornehmen, dass sie nach Ergehen des finanzgerichtlichen Urteils und vor Ablauf der das Urteil betreffenden Rechtsmittelfrist erneut einen Haftungsbescheid erlässt; dass das dem Willen des Gesetzgebers entspricht, ist angesichts der in § 171 Abs. 3a AO getroffenen Regelung nicht anzunehmen. Eine vergleichbare Regelungslage besteht in Bezug auf diejenigen Fragen, auf die sich die Rechtsprechung des BSG bezieht, nicht. Daher kann jene Rechtsprechung nicht auf die hier anstehende Fragestellung übertragen werden.

5. Im Ergebnis ist bei der Entscheidung des Rechtsstreits der nunmehr streitbefangene Bescheid auch insoweit zu berücksichtigen, als es um die darin enthaltenen Erläuterungen zur Ermessensbetätigung geht. Mit diesen Erwägungen hat sich das FG, von seinem rechtlichen Standpunkt aus folgerichtig, nicht befasst. Ebenso hat es zu Grund und Umfang einer Haftung des Klägers weder nähere tatsächliche Feststellungen getroffen noch rechtliche Überlegungen angestellt. Die hiernach fehlenden Prüfungsschritte können im Revisionsverfahren nicht nachgeholt werden, weshalb die Sache zu diesem Zweck an das FG zurückverwiesen werden muss.