OLG Hamm, Urteil vom 08.09.1999 - 13 U 45/99
Fundstelle
openJur 2011, 78594
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. 21 O 63/97
Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird unter Zurückweisung des Rechtsmittels im übrigen das am 13. Januar 1999 ver-kündete Urteil der 21. Zivilkammer des Landgerichts Dort-mund teilweise abgeändert und wie folgt neu gefaßt:

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 34.006,69 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 14. Juni 1997 zu zahlen.

Es wird festgestellt, daß die Beklagte verpflichtet ist, die der Klägerin aufgrund des Unfalls vom 13. Dezember 1995 in D an der P zukünftig entstehenden materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, soweit Ansprüche nicht auf öffentlich-rechtliche Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.

Im übrigen wird die Klage abgewiesen.

Von den Kosten des ersten Rechtszuges tragen die Klägerin 43 % und die Beklagte 57 %.

Von den Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Kläge-rin 20 % und die Beklagte 80 %.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Es beschwert die Beklagte in Höhe von 39.006,69 DM.

Tatbestand

Die Klägerin verlangt Schadensersatz, Schmerzensgeld und die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für zukünftige Schäden aus einem Unfall, der sich am 13. Dezember 1995 in D ereignete.

Die Klägerin bestieg gegen 12.40 Uhr an der Haltestelle "K" einen Linienbus der D, der auf der Straße "A" in östlicher Richtung unterwegs war. Der Zeuge S befuhr mit seinem Pkw die Straße in der Gegenrichtung. In Höhe einer - der Bushaltestelle schräg gegenüberliegenden - Gaststätte hielt er einige Meter vor dem Bus an, um seine drei Beifahrer aussteigen zu lassen. Kurz darauf fuhr der Bus wieder an. Als die Beklagte, die hinten links saß, ihre Tür öffnete, nahm der Fahrer des Busses, der Zeuge F, eine Vollbremsung vor. Dabei kam die damals 60-jährige Klägerin zu Fall. Sie zog sich einen Oberschenkelhalsbruch zu, der operativ durch eine sog. "Mecronverschraubung" versorgt wurde. Bis zum 29. Dezember 1995 befand sich die Klägerin in stationärer Krankenhausbehandlung. Am 22. Oktober 1996 wurde ihr ein künstliches Hüftgelenk eingesetzt.

Die Klägerin behauptet, nur durch die Vollbremsung des Busses habe eine Kollision mit der geöffneten Tür vermieden werden können. Die Hüftprothesenimplantation sei erforderlich gewesen, weil trotz der Operation keine vollständige Verheilung der Fraktur eingetreten sei. Infolge der operativen Versorgung sei eine allergische Hautreaktion aufgetreten, die ein Jahr angedauert habe.

Die Klägerin hat ein Schmerzensgeld von mindestens 60.000 DM sowie die Erstattung der Kosten von Taxifahrten für Besorgungen und Arztbesuche in Höhe von 2.554,20 DM und für Arztberichte in Höhe von 251,10 DM begehrt. Daneben hat sie weitere 1.201,39 DM für die Kurzzeitpflege ihrer Mutter verlangt, die sie während ihres Klinikaufenthaltes nicht habe versorgen können.

Die Beklagte behauptet, die Vollbremsung sei nicht erforderlich gewesen. Der Bus habe ausreichend Platz gehabt, weil die Straße 6,05 m breit sei. Jedenfalls trage die Klägerin ein Mitverschulden.

Das Landgericht hat die Parteien persönlich gehört und Beweis erhoben durch uneidliche Vernehmung der Zeugen F und S sowie durch Einholung eines fachorthopädischen Gutachtens des Sachverständigen K. Mit dem angefochtenen Urteil hat es der Klage hinsichtlich der materiellen Schäden und des Feststellungsbegehrens stattgegeben und der Klägerin ein Schmerzensgeld von 40.000 DM zugesprochen. Dagegen richtet sich die Berufung der Beklagten.

Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Der Senat hat die Parteien persönlich gehört und Beweis erhoben durch uneidliche Vernehmung der Zeugen Z, S und F sowie durch Einholung eines mündlichen Gutachtens des Sachverständigen B. Wegen des Ergebnisses der Parteianhörung und der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt des Berichterstattervermerks Bezug genommen.

Die Akten 28 Js 14/96 StA Dortmund lagen vor und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Gründe

Die zulässige Berufung hat nur zum Teil Erfolg. Die Klage ist, soweit das Landgericht ihr stattgegeben hat, im wesentlichen begründet.

I.

1.

Die Klägerin hat gegen die Beklagte gem. § 823 Abs. 1 BGB einen Anspruch auf Schadensersatz in Höhe von 4.006,69 DM.

a)

Die Beklagte hat schuldhaft die Körperverletzung der Klägerin herbeigeführt. Sie hat fahrlässig gegen § 14 Abs. 1 StVO verstoßen. Nach dieser Vorschrift muß sich derjenige, der ein- oder aussteigt, so verhalten, daß eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Wird beim Ein- oder Aussteigen ein anderer Verkehrsteilnehmer geschädigt, so spricht der Beweis des ersten Anscheins für fahrlässige Sorgfaltspflichtverletzung des Ein- bzw. Aussteigenden (KG VM 10986, 20).

aa)

Diesen Anschein hat die Beklagte nicht entkräftet. Sie hat vorgetragen, der Bus habe ausreichend Platz gehabt. Die Straße sei 6,05 m breit (nach der polizeilichen Unfallskizze 6 m) und der Pkw des Zeugen S habe z.T. auf dem Gehweg gestanden. Wenn eine Vollbremsung erforderlich gewesen sei, um eine Kollision zu vermeiden, dann deswegen, weil der Bus beim Ausscheren aus der Haltebucht unnötig weit nach links über die Mittellinie hinausgekommen sei.

Ob der Bus - bei entsprechender Fahrweise - Platz genug gehabt hätte, um an dem haltenden Pkw vorbeizufahren, läßt sich nicht feststellen. Die Beauftragung eines Sachverständigen zur Unfallrekonstruktion verspricht keine zuverlässige Klärung dieser Frage, weil der genaue Standort des Pkw nicht gesichert ist. Beim Eintreffen der Polizei standen die Fahrzeuge nicht mehr in der Unfallposition. Hinzu kommt, daß die Örtlichkeit inzwischen verändert ist, denn die Bushaltestelle ist verlegt worden.

Nach der polizeilichen Skizze stand der Pkw, so wie von der Beklagten angegeben und von den Zeugen und S bestätigt, mit den rechten Rädern etwas auf dem Gehweg, so daß für den Bus eine Breite von mindestens 4,2 m verblieb. Das hätte für den normalen Gegenverkehr gereicht. Hier ist aber zu berücksichtigen, daß der Bus in einer Haltebucht angehalten hatte. Beim Herausfahren aus dieser Bucht muß die Fahrlinie des Busses notwendigerweise einen Bogen beschreiben. Dessen Verlauf hängt davon ab, wo genau der Bus gestanden hat, was nicht feststellbar ist.

Ob der Bus - bei seiner Fahrweise - genügend Platz gehabt hätte oder ob er anders hätte fahren müssen, kann an dieser Stelle indessen offenbleiben, denn es geht hier nicht um ein Verschulden des Busfahrers, sondern um die Frage, ob die Beklagte gegen § 14 StVO verstoßen hat. So, wie der Bus gefahren ist, war jedenfalls kaum genügend Raum, um an der geöffneten Tür vorbeizukommen. Insoweit decken sich die Aussagen der Zeugen F und Schneider. Das Öffnen der Tür hat den Busfahrer zumindest irritiert und dadurch zu der Vollbremsung veranlaßt. Damit war das Öffnen der Tür adäquat kausal für das weitere Geschehen.

Gegen § 14 StVO verstößt allerdings nur derjenige, der sich nicht so verhält, daß eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Eine Behinderung (§ 1 Abs. 2 StVO) muß unter Umständen hingenommen werden (OLG Düsseldorf DAR 1976, 215). Eine bloße Behinderung kann gegeben sein, wenn die geöffnete Tür einem anderen Verkehrsteilnehmer zwar die Weiterfahrt unmöglich macht, dieser das aber so rechtzeitig erkennen kann, daß er in der Lage ist, seine Fahrweise darauf einzustellen. Demgegenüber ist eine Gefährdung anzunehmen, wenn das Öffnen der Tür - oder das Aussteigen selbst - unvermittelt geschieht und einen anderen Verkehrsteilnehmer zu plötzlichem Reagieren zwingt. Das war hier der Fall. Die Tatsache der Vollbremsung spricht dafür, daß die Tür unvermittelt und ohne Rücksicht auf den entgegenkommenden Bus geöffnet worden ist. Diesen Anschein hat die Beklagte nicht entkräftet.

Ob sie nur die Tür geöffnet hat oder auch schon ausgestiegen war, als der Busfahrer die Vollbremsung vornahm - nach eigenen Angaben hatte sie schon ein Bein auf die Straße gestellt -, ist ohne Belang, da das Öffnen einer Tür schon Teil des Aussteigevorgangs ist und diesen einleitet.

bb)

Ein Verschulden ist zu bejahen. Die Beklagte hat fahrlässig gehandelt. § 14 StVO schreibt höchste Sorgfalt vor (Jagusch/Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 34. Aufl., § 14 StVO, Rdn. 1). Zu achten ist insbesondere auch auf Gegenverkehr (BGH, VersR 1986, 1231 und 1987, 37). Das hat die Beklagte nicht ausreichend getan. Sie mußte nicht nur mit einem Anfahren des Busses, sondern auch damit rechnen, daß dieser dabei nach links - über die Mittellinie hinaus - ausscheren könnte. Sie mußte auch damit rechnen, daß ein plötzliches Öffnen der Tür den Busfahrer irritieren und zu einer Vollbremsung veranlassen könnte, zumal er ein unvermitteltes Aussteigen befürchten mußte.

b)

Die Haftung der Beklagten ist nicht gem. § 254 BGB wegen Mitverschuldens gemindert.

Ein etwaiges Verschulden des Busfahrers braucht sich die Klägerin nicht zurechnen zu lassen, da die Voraussetzungen von § 278 BGB, auf den § 254 Abs. 2 Satz 2 BGB verweist, nicht gegeben sind.

Ein eigenes Verschulden der Klägerin liegt nicht vor. Ihr ist insbesondere nicht vorzuwerfen, sich nicht oder nicht genügend festgehalten zu haben. Allerdings müssen sich Fahrgäste eines Busses grundsätzlich vor dem Anfahren einen festen Halt verschaffen (LG Duisburg, VRS 1969, 420), denn sie müssen sich ihrerseits sorgfältig verhalten (OLG Oldenburg, DAR 1956, 245; OLG Zweibrücken VersR 1966, 1087) und jederzeit mit einem scharfen Bremsen des Busses rechnen (OLG Düsseldorf, VersR 1972, 1171). Daß die Klägerin diese ihr obliegende Sorgfaltspflicht nicht beachtet hat, läßt sich nicht feststellen. Nach ihren eigenen Angaben war sie gerade im Begriff, sich zu setzen, als die Vollbremsung geschah. In dieser Situation fällt es erfahrungsgemäß nicht leicht, festen Halt zu bewahren. Unter diesen Umständen ist ein Mitverschulden nicht beweisbar.

c)

Der materielle Schaden beträgt 4.006,69 DM. Die Aufwendungen für Arztberichte (251,10 DM) und die Kurzzeitpflege der Mutter (1.201,39 DM) sind nicht mehr im Streit. Die Kosten der Taxifahrten für Besorgungen und Arztbesuche (2.554,20 DM) sind belegt. Der Senat hält sie in voller Höhe für gerechtfertigt (§ 287 ZPO). Die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel war der Klägerin längere Zeit nicht zumutbar. Sie war infolge der Verletzungen in erheblichem Maße gehbehindert und auf Gehhilfen angewiesen.

2.

Die Klägerin hat gem. §§ 823 Abs. 1, 847 BGB einen Anspruch auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes. Der Senat hält unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der erlittenen Schmerzen sowie der Unfallfolgen einschließlich des langwierigen Heilverlaufs und der Dauerschäden, einen Betrag von 30.000,00 DM für erforderlich, aber auch ausreichend. Der Senat hat dabei berücksichtigt, daß die Oberschenkelhalsfraktur eine sehr schmerzhafte Falschgelenkbildung ausgelöst hat. Aufgrund dessen war, wie der Sachverständige B ausgeführt hat, die Implantation einer Hüftendoprothese notwendig. Dazu mußte die Klägerin ein zweites Mal stationär behandelt werden. Die Prothese sitzt heute korrekt. Allderdings ist die Beweglichkeit im endoprothetisch versorgten Hüftgelenk im Vergleich zur nichtoperierten Gegenseite erkennbar eingeschränkt. Das rechte Bein ist um 1 cm verkürzt. Zum Ausgleich trägt die Klägerin einen Beinlängenausgleich im Schuh, der ihr Gangbild heute sehr harmonisch aussehen läßt. Die Klägerin kann nach eigenen Angaben jedoch nur langsam gehen. Nach längerem Gehen treten Schmerzen im Oberschenkelbereich auf. Diese Beschwerden sind nach Angaben des Sachverständigen B glaubhaft. Eine Vorschädigung liegt nicht vor. Das Hüftgelenk als solches war vor dem Unfall in Ordnung. Eine Arthrose ist bislang nicht eingetreten.

3.

Das Feststellungsbegehren ist zulässig und begründet.

II.

Der Zinsanspruch rechtfertigt sich gem. § 284 Abs. 1, 288 Abs. 1 Satz 1 BGB.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91 Abs. 1, 92 Abs. 1 ZPO, diejenige über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 708 Ziff. 10 ZPO.