OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 05.10.2010 - 8 B 817/10
Fundstelle
openJur 2011, 75241
  • Rkr:
Tenor

Das Verfahren wird eingestellt.

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Gelsenkir-chen vom 7. Juni 2010 ist - bis auf die Streitwertfest-setzung - wirkungslos.

Die Kosten des Verfahrens tragen die Antragsteller. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind erstattungsfähig.

Der Streitwert wird unter entsprechender Änderung des erstinstanzlichen Streitwertbeschlusses für beide Instanzen auf 7.500,- € festgesetzt.

Gründe

Das Verfahren ist in entsprechender Anwendung der §§ 87 a Abs. 1 und 3, 125 Abs. 1 Satz 1, 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen, nachdem die Beteiligten den Rechtsstreit übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt haben. Zur Klarstellung ist der Beschluss des Verwaltungsgerichts - mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung - für wirkungslos zu erklären (§ 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 269 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 ZPO).

Über die Kosten des Verfahrens ist gemäß § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes zu entscheiden. Danach sind die Kosten des Verfahrens den Antragstellern aufzuerlegen.

1. Es entspricht nach Auffassung des Senats billigem Ermessen, die Kosten des Verfahrens nicht - ganz oder zum Teil - dem Antragsgegner in Anwendung von § 155 Abs. 4 VwGO wegen der Rechtsbehelfsbelehrung aufzuerlegen, die dieser dem öffentlich nach § 10 Abs. 7 BImSchG bekannt gemachten Genehmigungsbescheid beigefügt hat. Zwar war der Antragsgegner - entgegen seiner Auffassung - gehalten, dem Bescheid in der öffentlichen Bekanntmachung eine Rechtsbehelfsbelehrung für Drittbetroffene und nicht eine solche für den Antragsteller beizufügen (a). Anders als das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen (vgl. hierzu den den Beteiligten bekannten Beschluss vom 27. Juli 2010 im Verfahren 8 K 271/10) hält der Senat die beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung aber nicht für fehlerhaft, so dass hieraus keine Kostenentscheidung zu Lasten des Antragsgegners abgeleitet werden kann (b).

a) Dem an den Beigeladenen gerichteten Genehmigungsbescheid, der nach § 10 Abs. 7 Satz 2 und 3 i.V.m. § 8 BImSchG öffentlich bekannt gemacht worden ist,

die zusätzliche Erwähnung der öffentlichen Bekanntmachung in § 10 Abs. 7 Satz 1 BImSchG ist ein Redaktionsversehen, vgl. Jarass, BImSchG, 8. Aufl. 2010, § 10 Rn. 121a,

war - wie es das Verwaltungsgericht in dem Beschluss vom 27. Juli 2010 zu Recht angenommen hat - eine Rechtsbehelfsbelehrung für Drittbetroffene beizufügen. Die öffentliche Bekanntmachung eines Genehmigungsbescheids erfolgt gem. § 10 Abs. 7 Satz 3 BImSchG nach Maßgabe des Absatzes 8. Zwar heißt es dort, dass die öffentliche Bekanntmachung dadurch bewirkt wird, dass der verfügende Teil des Bescheides und die Rechtsbehelfsbelehrung in entsprechender Anwendung des Absatzes 3 Satz 1 bekannt gemacht werden (§ 10 Abs. 8 Satz 2 BImSchG), was auf den ersten Blick dahin verstanden werden könnte, dass der Genehmigungsbescheid mit dem Tenor und der für den Antragsteller im Genehmigungsverfahren (hier also den Beigeladenen) vorgesehenen Rechtsbehelfsbelehrung zu veröffentlichen wäre. Eine solche Auslegung würde aber ersichtlich keinen Sinn machen; denn dem Antragsteller (einer Genehmigung) ist der Genehmigungsbescheid nach § 10 Abs. 7 Satz 1 BImSchG nicht öffentlich, sondern individuell zuzustellen. Demgegenüber soll die öffentliche Bekanntmachung nach § 10 Abs. 7 i.V.m. Abs. 8 BImSchG gerade für die Personen erfolgen, die Einwendungen erhoben haben (bzw. noch Einwendungen erheben könnten, S. dazu näher unten). Daher kann nur die für diese Personengruppe zutreffende Rechtsbehelfsbelehrung gemeint sein.

Entgegen der Auffassung des Antragsgegners war hier auch nicht die Beifügung einer Rechtsbehelfsbelehrung deshalb entbehrlich, weil die Antragsteller keine Einwendungen erhoben haben. Denn in bestimmten Fällen sind auch spätere Einwendungen möglich. So sind etwa Einwendungen nicht ausgeschlossen, die auf Tatsachen bezogen sind, die während der Einwendungsfrist nicht vorgebracht werden konnten, weil sie erst nach Ablauf der Einwendungsfrist eingetreten sind. Nicht präkludiert ist außerdem, wer in persönlich nicht vorwerfbarer Weise gehindert ist, potentielle Einwendungen fristgerecht geltend zu machen.

Vgl. näher OVG NRW, Urteil vom 9. Dezember 2009 - 8 D 10/08.AK -, S. 48 ff. UA.

b) Der Senat hält aber die beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung, nach der gegen den Genehmigungsbescheid die Klage und nicht der Widerspruch statthafter Rechtbehelf ist, aus den nachfolgenden Gründen nicht für fehlerhaft, sondern für zutreffend.

Nach § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO sind vor Erhebung der Anfechtungsklage Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsakts in einem Vorverfahren nachzuprüfen. Von der in § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO eingeräumten Befugnis, davon abweichende Regelungen vorzusehen, hat der nordrheinwestfälische Gesetzgeber in § 6 Abs. 1 Satz 1 AG VwGO NRW zur Verfahrensvereinfachung und -beschleunigung,

vgl. Gesetzesbegründung zum Bürokratieabbaugesetz II, LT-Drucks. 14/4199, S. 1 und 7,

Gebrauch gemacht. Hiervon werden allerdings Ausnahmen gemacht, etwa für bestimmte Verwaltungsbereiche (vgl. § 6 Abs. 2 AG VwGO NRW) sowie für "im Verwaltungsverfahren nicht beteiligte Dritte, die sich gegen den Erlass eines einen anderen begünstigenden Verwaltungsaktes wenden" (§ 6 Abs. 3 Satz 1 AG VwGO NRW). Eine Rückausnahme von dieser Ausnahme ist wiederum ( u.a.) dann vorgesehen, wenn der Verwaltungsakt mit Drittwirkung von einer Bezirksregierung erlassen worden ist (§ 6 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AG VwGO NRW). Hierzu wird in der Begründung darauf verwiesen, dass solche Entscheidungen auf einer fundierten und umfassenden juristischen Prüfung beruhten und daher im Interesse der Verfahrensbeschleunigung keiner erneuten Überprüfung mehr (in einem Widerspruchsverfahren) bedürften.

LT-Drucks. 14/4199, S. 9.

Es spricht Überwiegendes dagegen, die Antragsteller im vorliegenden Fall als "im Verwaltungsverfahren nicht beteiligte Dritte" anzusehen. Vielmehr spricht nach Sinn und Zweck der Regelung mehr dafür, auch die Öffentlichkeitsbeteiligung im Rahmen des förmlichen Genehmigungsverfahrens nach § 10 BImSchG als Beteiligung eines Dritten i.S.d. § 6 Abs. 3 Satz 1 AG VwGO NRW zu qualifizieren. Richtiger Rechtsbehelf für einen Dritten, der sich gegen den Erlass eines im förmlichen Genehmigungsverfahren ergangenen Genehmigungsbescheides wenden will, ist deshalb die Klage und nicht der Widerspruch.

Von welchem Beteiligtenbegriff § 6 Abs. 3 Satz 1 AG VwGO NRW ausgeht, wird weder im Gesetz noch in den Gesetzesmaterialien näher erläutert. Deshalb könnte man daran denken, auf die Legaldefinition des Beteiligten in § 13 VwVfG zurückzugreifen. Danach sind Beteiligte nicht nur Antragsteller und Antragsgegner (§ 13 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG), sondern auch diejenigen, die von der Behörde - von Amts wegen oder auf Antrag - zu dem Verfahren hinzugezogen worden sind, weil deren rechtliche Interessen durch den Ausgang des Verfahrens berührt werden können oder weil der Ausgang des Verfahrens rechtsgestaltende Wirkung für sie hat (§ 13 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 13 Abs. 2 VwVfG). Die Hinzuziehung setzt allerdings einen konstitutiven Heranziehungsakt der Behörde voraus.

Vgl. Bonk/Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensrecht, Kommentar, 7. Aufl. 2008, § 13 Rn. 43; Kopp, 11. Aufl. 2010, § 13 Rn. 24.

Zudem ist jeweils zu prüfen, ob eine spezialgesetzliche Regelung existiert, durch die die Beteiligtenstellung modifiziert wird. Hiervon ausgehend ist etwa umstritten, ob Einwender im Planfeststellungsverfahren (vgl. §§ 72 ff. VwVfG) Beteiligte i.S.d. § 13 VwVfG sind. Um sie hiervon abzugrenzen, werden sie überwiegend als "Beteiligte im weiteren Sinne" oder als "partiell Beteiligte" bezeichnet.

Vgl. Kopp, 11. Aufl. 2010, § 13 Rn. 13 m.w.N.; Bonk/Neumann, in: Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensrecht, Kommentar, 7. Aufl. 2008, § 73 Rn. 69; ausführlich Ule/Laubinger, Verwaltungsverfahrensrecht, 3. Aufl. 1986, S. 263 ff.

Nach Auffassung des Senats ist die öffentliche Bekanntmachung des Vorhabens nach § 10 Abs. 3 Satz 1 BImSchG, die - zusammen mit der Auslegung der Unterlagen und ggf. dem Erörterungstermin - die im förmlichen Genehmigungsverfahren vorgeschriebene sog. Öffentlichkeitsbeteiligung,

vgl. Gesetz über die Öffentlichkeitsbeteiligung in Umweltangelegenheiten nach der EG-Richtlinie 2003/35/EG (Öffentlichkeitsbeteiligungsgesetz) vom 9. Dezember 2006, BGBl. I 2819,

darstellt, eine spezialgesetzliche Ausformung einer Beteiligung eines Dritten i.S.d. § 6 Abs. 3 Satz 1 AG VwGO NRW.

Die öffentliche Bekanntmachung des Vorhabens und die Auslegung des Antrags und der Antragsunterlagen sollen das Beteiligungsrecht potentiell betroffener Dritter sichern.

Vgl. Dietlein, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Band I, BImSchG, Loseblatt, Stand: März 2010, § 10 Rn. 165 sowie Rn. 6 zum Grundrechtsschutz durch Verfahren.

Die öffentliche Bekanntmachung ist zugleich für den Einwendungsausschluss von Bedeutung: Bis zwei Wochen nach Ablauf der Auslegungsfrist können Einwendungen gegen das Vorhaben schriftlich erhoben werden (§ 10 Abs. 3 Satz 4 BImSchG). Mit Ablauf der Einwendungsfrist sind alle Einwendungen ausgeschlossen, die nicht auf besonderen privatrechtlichen Titeln beruhen (§ 10 Abs. 3 Satz 5 BImSchG).

Darüber hinaus spricht der in § 6 Abs. 3 Satz 1 AG VwGO NRW zum Ausdruck kommende Vereinfachungs- und Beschleunigungszweck für die Erstreckung der Verfahrensbeteiligung im herkömmlichen Sinne auf die beschriebene Öffentlichkeitsbeteiligung. Wie oben ausgeführt, soll - wegen der besonderen Sachkompetenz - eine Rückausnahme von § 6 Abs. 3 Satz 1 AG VwGO NRW dann eingreifen, wenn Ausgangsbehörde eine Bezirksregierung ist. In ähnlicher Weise ist auch bei stark formalisierten Verfahren wie dem förmlichen Genehmigungsverfahren nach § 10 BImSchG von einer erhöhten Richtigkeitsgewähr der Entscheidung auszugehen, so dass eine erneute Überprüfung der Rechtmäßigkeit in einem Vorverfahren - aus Sicht des Gesetzgebers - nicht erforderlich erscheint. Die gegenteilige Auffassung hätte zur Folge, dass Betroffene durch Verzicht auf Einwendungen das Verfahren verlängern könnten. Dies gilt jedenfalls dann, wenn man, wovon die Praxis bislang soweit ersichtlich - ausgeht, Einwender als (jedenfalls spezialgesetzlich nach § 10 Abs. 3 BImSchG) Beteiligte ansieht und für diese Personengruppe nicht die Durchführung eines Vorverfahrens verlangt. Hingegen hat die hier vertretene Auffassung den Vorzug, dass nicht zwischen Einwendern und Personen, die keine Einwendungen erhoben haben, unterschieden werden muss.

2. Es entspricht billigem Ermessen, den Antragstellern die Verfahrenskosten aufzuerlegen; denn bei summarischer Prüfung spricht Überwiegendes dafür, dass sie mit ihrem Vorbringen gegen die dem Beigeladenen erteilte immissionsschutzrechtliche Genehmigung vom 30. Dezember 2009 präkludiert sind, weil sie innerhalb der Einwendungsfrist trotz ordnungsgemäßer Bekanntmachung des Vorhabens gem. § 10 Abs. 3 BImSchG keine Einwendungen erhoben haben.

Nach der Neufassung des § 10 Abs. 3 Satz 1 BImSchG durch Art. 2 Nr. 1 des Öffentlichkeitsbeteiligungsgesetzes vom 9. Dezember 2006 (BGBl. I 2819 ff.) hat die zuständige Behörde das Vorhaben in ihrem amtlichen Veröffentlichungsblatt und außerdem im Internet oder in örtlichen Tageszeitungen, die im Bereich des Standorts der Anlage verbreitet sind, öffentlich bekanntzumachen. Hier hat der Antragsgegner das Vorhaben im Amtsblatt des Kreises Recklinghausen (Nr. 102/2009 vom 9. September 2009) und in der E. Zeitung (Ausgabe vom 12. September 2009) bekannt gemacht; zudem wurde es im Internet auf der homepage des Kreises (www.kreisre.de) - leicht auffindbar unter "Bekanntmachungen" - veröffentlicht. Diese "kombinierte" Bekanntmachung im Amtsblatt, einer Zeitung sowie im Internet dürfte den gesetzlichen Anforderungen genügt haben. Zu Unrecht wenden die Antragsteller demgegenüber ein, das Vorhaben habe zusätzlich in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (Ausgabe E. ) veröffentlicht werden müssen. Die Beschränkung der Veröffentlichung auf die E. Zeitung erscheint angesichts des deutlichen Auflagenunterschiedes - nach Angaben der Antragsteller hat die WAZ eine Auflagenstärke von 5.436 gegenüber einer Auflagenstärke der E. Zeitung von 19.000 - nicht von vornherein ermessensfehlerhaft.

Vgl. näher zur Ermessensentscheidung der Behörde im Rahmen des § 10 Abs. 3 Satz 1 BImSchG (a.F.) OVG NRW, Urteil vom 9. Dezember 2009 - 8 D 12/08.AK -, S. 15 ff. des UA.

Beanstandungen bezüglich der Internetveröffentlichung werden - soweit ersichtlich - im vorliegenden Eilverfahren nicht erhoben; in der Literatur geäußerte Bedenken,

vgl. etwa Jarass, BImSchG, 8. Aufl. 2010, § 10 Rn. 60 a und Rn. 93 m.w.N.,

betreffen Fälle der ausschließlichen Veröffentlichung im Internet.

Es entspricht weiterhin der Billigkeit, die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen den unterliegenden Antragstellern aufzuerlegen (vgl. § 162 Abs. 3 VwGO). Der notwendig Beigeladene hatte hinreichenden Anlass, sich in das Verfahren mit anwaltlicher Unterstützung einzubringen, und hat das Verfahren wesentlich gefördert.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 47, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG. Sie orientiert sich an Nr. 19.2 i.V.m. Nr. 2.2.2 und Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit von Juli 2004 (DVBl. 2004, 1525 = NVwZ 2004, 1327).

Die Änderung der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung stützt sich auf § 63 Abs. 3 Satz 1 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).