OLG Köln, Beschluss vom 13.10.2010 - 43 HEs 8/10 und 2 Ws 641/10
Fundstelle
openJur 2011, 74145
  • Rkr:
Tenor

Eine Entscheidung des Senats ist nicht veranlaßt.

Gründe

I.

Das Amtsgericht Aachen hat gegen den am 10.4.2010 vorläufig festgenommenen Angeschuldigten wegen des dringenden Verdachts einer schweren Brandstiftung am 11.4.2010 einen auf Wiederholungsgefahr gestützten Haftbefehl erlassen und diesen mit Beschluß vom selben Tage außer Vollzug gesetzt mit der Auflage, dass sich der am Tattag 19 Jahre alte Angeschuldigte in die "Hilfseinrichtung" I. in T. zu begeben und diese nicht zu verlassen habe.

Der Angeschuldigte soll am 10.4.2010 zur Nachtzeit bei Geilenkirchen in einer Scheune Stroh in Brand gesetzt haben, wodurch diese und eine angrenzende Lagerhalle vollständig ausbrannten. Durch Einschreiten der Feuerwehr habe das Übergreifen des Feuers auf ein Wohngebäude verhindert werden können, in dem der Eigentümer des Anwesens und seine Ehefrau schliefen. Der Sachschaden soll 1 Mio € betragen,

Verbrechen der schweren Brandstiftung gem. §§ 306 a Abs. 2, 306 Abs. 1 Nr. 6 StGB.

Der Angeschuldigte erhielt im I. unbegleitete Ausgänge und wurde an den Wochenenden zu seinen Eltern beurlaubt. Nachdem er in Verdacht geraten war, anlässlich eines Wochenendbesuchs in der Nacht vom 9. auf den 10.7.2010 bei einem früheren Arbeitgeber erneut einen Brand gelegt zu haben, hob das Landgericht Aachen auf Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen die insoweit ablehnende Entscheidung des Ermittlungsrichters den Verschonungsbeschluß vom 11.4.2010 auf und setzte den Haftbefehl vom 11.4.2010 wieder in Vollzug. Am 16.8.2010 wurde der Angeschuldigte in Untersuchungshaft genommen und befindet sich seither in der Justizvollzugsanstalt Köln.

Nach dem jugendpsychiatrischen Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. F. vom 17.8.2010 liegt bei dem Angeschuldigten eine Intelligenzminderung vom Grad einer Debilität vor, die der Eingangskategorie des Schwachsinns im Sinne des § 20 StGB zuzuordnen sei. Eine Symptomatizität für das Tatgeschehen bestehe aber nur indirekt aufgrund einer neurotischen Verarbeitung der eigenen Behinderung und von Frustrationserlebnissen. Diese sei ihrerseits als Störung vom Ausmaß einer anderen schweren seelischen Abartigkeit zu bewerten. Unter Berücksichtigung der zur Tatzeit vorliegenden Alkoholisierung sei eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit nicht auszuschließen.

Wegen der - vom Angeschuldigten eingeräumten - Tat vom 10.4.2010 hat die Staatsanwaltschaft Aachen am 16.9.2010 Anklage zum Jugendschöffengericht erhoben, die dem Angeschuldigten insgesamt 19 in der Zeit zwischen September 2009 und Juli 2010 begangene Straftaten zur Last gelegt ( 7 Brandstiftungsdelikte, 9 Sachbeschädigungen, Fahren ohne Fahrerlaubnis in 2 Fällen, Verkehrsunfallflucht sowie Vortäuschen einer Straftat).

Das Jugendschöffengericht hat mitgeteilt, dass die Hauptverhandlung vorbehaltlich der noch ausstehenden Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens ab dem 18.10.2010 beginnen könne. Es hat die Sache mit Beschluß vom 5.10.2010 dem Senat zur Haftprüfung vorgelegt und hierzu ausgeführt, die Unterbringung des Angeschuldigten im I. sei in die 6-Monatsfrist des § 121 StPO einzurechnen. Dieser Auffassung ist die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Antragsschrift vom 7.10.2010 beigetreten.

Die Verteidigung hat mit Schriftsatz vom 11.10.2010 Stellung genommen. Sie strebt eine erneute Verschonung und Unterbringung des Angeschuldigten im I. an.

II.

Eine Entscheidung des Senats im Haftprüfungsverfahren nach den §§ 121,122 StPO ist derzeit nicht veranlasst, weil die Untersuchungshaft noch nicht 6 Monate andauert.

1. In die Frist des § 121 Abs. 1 StPO ist die Zeit der Unterbringung des Angeschuldigten in der Einrichtung I. vom 11.4. bis zum 16.8.2010 nicht einzurechnen. Die hierzu vom Jugendschöffengericht angestellten Erwägungen übersehen, dass - anders als in der vom Jugendschöffengericht zitierten Entscheidung des OLG Karlsruhe vom 14.3.1997 (NStZ 97,452) - der Angeschuldigte zur Tatzeit nicht Jugendlicher, sondern Heranwachsender war.

Auf Heranwachsende ist die Bestimmung des § 72 Abs. 4 JGG, aus der das Jugendschöffengericht seine Auffassung hergeleitet hat, nicht anwendbar. Die Bestimmung gehört nicht zu den in Verfahren gegen Heranwachsende nach § 109 Abs. 1 S.1 JGG entsprechend anwendbaren Vorschriften über das Jugendstrafverfahren. Eine andere, mit dem Wortlaut des Gesetzes auch nicht zu vereinbarende Auffassung wird hierzu auch nicht in der Kommentierung vertreten (vgl. Eisenberg, JGG, 13. Aufl., § 72 Randz.2; § 109 Randz. 8c, siehe auch Senat 4.1.2008 2 Ws 706/07).

Die besonderen und strengen Maßstäbe für die Haftvermeidung bei Jugendlichen gelten daher für den Angeschuldigten nicht.

2. Eine Einbeziehung der Unterbringung im I. ist auch nicht aus anderen Erwägungen gerechtfertigt. Zwar gebietet der Schutzzweck des Haftprüfungsverfahrens, das den Anspruch des Beschuldigten auf beschleunigte Aburteilung zur Geltung bringen soll, eine extensive Auslegung des § 121 Abs. 1 S.1 StPO (vgl LR-Hans Hilger, StPO, 26. Aufl., § 121 Randz 10). Der Aufenthalt des Angeschuldigten in der Einrichtung I. stellt aber keine unter richterlicher Überwachung stehende, mit dem Vollzug von Untersuchungshaft vergleichbare Freiheitsentziehung dar, wie das etwa für Fälle der einstweiligen Unterbringung nach § 126 a StPO, für die Verwahrung nach § 81 StPO oder für eine sonstige geschlossene Unterbringung allgemein angenommen wird (vgl Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl., § 121 Randz. 6; KK-Boujong, StPO, 6. Aufl., § 121 Randz. 6; LR-Hans Hilger a.a.O., Randz. 11).

Bei dem I. handelt es sich nicht um eine geschlossene Einrichtung, wie die Gewährung von unbegleiteten Ausgängen und die Wochenendbeurlaubungen zur Familie zeigt. Unbeaufsichtigte Ausgänge und Besuchskontakte mit Angehörigen außerhalb der Einrichtung gehören nach dem Kurzbericht der Einrichtung vom 19.8.2010 geradezu zum Konzept des Projektes "Chance", in dessen Rahmen der Angeschuldigte in dem Heim aufgenommen wurde. Dass nach dem Bekanntwerden des Vorwurfs einer erneuten Brandstiftung seitens der Heimleitung keine weiteren Wochenendbesuche mehr zugelassen wurden, bestätigt diese Sichtweise.

Eine Haftverschonung gem. § 116 StPO, wie sie hier nach dem ausdrücklichen Wortlaut des Aussetzungsbeschlusses vom 11.4.2010 gewährt wurde, hat bei der Fristberechnung außer Betracht zu bleiben (Meyer-Goßner a.a.O. m.w.N.).

3. Es besteht kein Anlaß zu einer vorzeitigen Haftprüfung nach den Grundsätzen der Entscheidung des Senats vom 1.8.2006 - 40 HEs-41/06 -103-104 -. Danach kann etwa bei mehreren Beschuldigten mit unterschiedlichen Haftzeiten bei absehbarer Überschreitung der 6-Monatsfrist eine Entscheidung schon vor Fristablauf möglich und u.U. geboten sein. Ein solcher Sachverhalt liegt hier nicht vor. Mit einer Fristüberschreitung ist nicht zu rechnen, da der Beginn der Hauptverhandlung, der gem. § 121 Abs. 3 S.2 StPO zum Ruhen der Frist bis zum Urteil führt, unmittelbar bevorsteht.

4. Der Senat weist vorsorglich noch auf folgendes hin : Sofern die Hauptverhandlung ergibt, dass bei dem nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. F. im Grad der Debilität intelligenzgeminderten Angeschuldigten ein nicht mehr behebbarer Entwicklungsrückstand besteht, kann nach der Rechtsprechung des BGH die Anwendung des allgemeinen Strafrechts in Betracht kommen, wobei die Prognose völliger Entwicklungsunfähigkeit zwischen dem 18. und 21. Lebensjahr allerdings nur ausnahmsweise gestellt werden kann (BGHSt 22,41; BGH NStZ 2004, 294; zu einem solchen Fall vgl auch Senat 13.9.2010 - 2 Ws 561/10 -; siehe auch Eisenberg, § 105 Randz 27 f). Sollte des weiteren nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung eine Anordnung nach § 63 StGB zu erwägen sein, wäre in diesem Falle - Anwendung von allgemeinem Strafrecht - nach § 108 Abs. 3 S.2 JGG die sachliche Zuständigkeit der Jugendkammer gegeben (vgl Senat a.a.O.)

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