OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 10.06.2010 - 18 B 606/10
Fundstelle
openJur 2011, 72994
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. 24 L 321/10

Ein durch falsche oder unvollständige Angaben zur Erlangung eines Schengen-Visums verwirklichter Ausweisungsgrund (§ 55 Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe a AufenthG) ist auch im Rahmen des § 39 Nr. 3 AufenthV beachtlich.

Tenor

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500,00 Euro festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO auf die dargelegten Gründe beschränkte Überprüfung führt zu keinem für den Antragsteller günstigeren Ergebnis.

Das Verwaltungsgericht hat einen Anspruch des Antragstellers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug zutreffend verneint. Zwar dürfte der Antragsteller durch die im Beschwerdeverfahren vorgelegten Bescheinigungen über bestandene Sprachprüfungen auf dem Niveau A1 nachgewiesen haben, dass er nunmehr die nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 5, § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG erforderlichen einfachen Deutschkenntnisse besitzt, einem Anspruch auf den begehrten Aufenthaltstitel steht jedoch § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG entgegen. Nach dieser Vorschrift setzt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis voraus, dass der Ausländer mit dem für den beabsichtigten Aufenthaltszweck erforderlichen Visum eingereist ist (Nr. 1) und die für die Erteilung maßgeblichen Angaben bereits im Visumantrag gemacht hat (Nr. 2). Der Antragsteller, der mit einem vom Deutschen Generalkonsulat in K. ausgestellten Besuchsvisum eingereist ist, war von der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG weder nach § 39 Nr. 3 AufenthV befreit noch ist nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG von dieser Voraussetzung abzusehen.

Der Antragsteller ist nicht nach § 39 Nr. 3 AufenthV von der Visumpflicht befreit, weil er während der Geltung seines Schengen-Visums in Dänemark geheiratet hat. Nach dieser Vorschrift kann ein Ausländer einen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet einholen, sofern die Voraussetzungen eines Anspruchs auf seine Erteilung nach der Einreise entstanden sind.

Es kann offen bleiben, ob einer Berufung des Antragstellers auf § 39 Nr. 3 AufenthV bereits entgegensteht, dass er die für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug erforderlichen Sprachkenntnisse allem Anschein nach erst nach Ablauf des Schengen-Visums erworben hat. Die in der Rechtsprechung nicht abschließend geklärte,

vgl. VGH Bad.-Württ., Beschlüsse vom 16. September 2009 13 S 1975/09 , juris, und vom 8. Juli 2008 11 S 1041/08 , InfAuslR 2008, 444; Bay. VGH, Beschluss vom 18. Mai 2009 10 CS 09.853 , InfAuslR 2009, 291; Hess. VGH, Beschlüsse vom 22. Januar 2010 3 B 2948/09 -, juris, und vom 22. September 2008 1 B 1628/08 , InfAuslR 2009, 14; Nds. OVG, Beschluss vom 27. Juli 2009 11 ME 171/09 , InfAuslR 2009, 388; OVG Rh-Pf., Beschluss vom 20. April 2009 7 B 10037/09 , juris,

und vom Senat bislang nicht entschiedene,

der Senat hat die Frage im Beschluss vom 2. November 2009 18 B 1516/08 , juris, ausdrücklich offen gelassen,

Frage, ob die Anwendung von § 39 Nr. 3 AufenthV voraussetzt, dass sämtliche Anspruchsvoraussetzungen während der Geltung des Schengen-Visums entstanden sind, bedarf auch hier keiner Entscheidung.

Der Antragsteller kann sich jedenfalls nicht auf § 39 Nr. 3 AufenthV berufen, weil es an den Voraussetzungen eines Anspruchs fehlt, da der Antragsteller einen Visumverstoß begangen und hierdurch den Ausweisungsgrund des § 55 Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe a AufenthG verwirklicht hat (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 2, § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG).

Nach § 55 Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe a AufenthG kann ein Ausländer u.a. ausgewiesen werden, wenn er in einem Verwaltungsverfahren, das von Behörden eines Anwenderstaates des Schengener Durchführungsübereinkommens durchgeführt wurde, im In- oder Ausland falsche oder unvollständige Angaben zur Erlangung eines Schengen-Visums gemacht hat, soweit der Ausländer zuvor auf die Rechtsfolgen solcher Handlungen hingewiesen wurde. Der Antragsteller, der vom Deutschen Generalkonsulat in K. über die Regelung des § 55 Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe a AufenthG belehrt worden ist, hat zur Erlangung eines Schengen-Visums falsche Angabe gemacht. Er hat angegeben, er plane einen Kurzaufenthalt in Deutschland. Er wolle einen Bekannten besuchen, den er im Internet kennengelernt habe und dem er sich durch die gemeinsame Religion verbunden fühle. Tatsächlich beabsichtigt waren jedoch von Anfang an eine Eheschließung und ein Daueraufenthalt im Bundesgebiet. Dies hat der Antragsgegner überzeugend aus dem Verhalten des Antragstellers nach seiner Einreise ins Bundesgebiet abgeleitet. Der Antragsteller hat bereits am Tag der Einreise einen Wohnsitz bei seiner jetzigen Ehefrau angemeldet und diese nur sechs Tage später in Dänemark geheiratet.

Dieser Visumverstoß ist als Ausweisungsgrund auch im hier in Rede stehenden Zusammenhang beachtlich. Dem steht nicht entgegen, dass § 39 Nr. 3 AufenthV grundsätzlich auch Anwendung findet, wenn von vornherein ein Daueraufenthalt beabsichtigt war.

Vgl. hierzu OVG NRW, Beschluss vom 21. Dezember 2007 18 B 1535/07 , InfAuslR 2008, 129.

§ 39 AufenthV eröffnet gesetzessystematisch Ausnahmen vom Anwendungsbereich des § 5 Abs. 2 AufenthG. Er entbindet jedoch nicht von den sonstigen Voraussetzungen für die Erteilung von Aufenthaltstiteln und insbesondere nicht von den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG. Durch diese Auslegung wird die vom Gesetzgeber mit § 39 AufenthV beabsichtigte Erleichterung der Einholung von Aufenthaltstiteln im Bundesgebiet nicht infrage gestellt.

So aber zu § 39 Nr. 5 AufenthV OVG NRW, Beschluss vom 16. September 2008 19 B 871/08 , sowie VG Aachen, Beschluss vom 16. Mai 2008 8 L 445/07 , juris.

Denn der Gesetzgeber will nicht nur aus seiner Sicht schutzwürdige Ausländer privilegieren, sondern gleichzeitig auch missbräuchlichem Verhalten entgegenwirken. Nach der Gesetzesbegründung,

vgl. BT-Dr. 16/5065, S. 240,

sollten Inhaber eines Schengen-Visums im Falle eines Anspruchs die Möglichkeit erhalten, ohne vorherige Ausreise den Aufenthaltszweck zu wechseln, da andernfalls Ausländer, die legal eingereist sind, schlechter gestellt würden als abgelehnte Asylbewerber (§ 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG).

Vgl. aber OVG NRW, Beschluss vom 30. April 2010 18 B 180/10 , juris, wonach § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG entgegen der Prämisse des Gesetzgebers nicht vom Visumzwang befreit.

§ 39 Nr. 3 AufenthV zielte daher nicht auf Ausländer, die von vornherein einen Daueraufenthalt beabsichtigen. Allerdings schloss die Vorschrift diesen Personenkreis nicht aus ihrem Anwendungsbereich aus. In Reaktion darauf hat der Gesetzgeber durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. 2007 I 1970) klargestellt, dass die Privilegierung nur eingreift, wenn der Anspruch nach der Einreise entsteht. Damit sollte ein von vornherein beabsichtigter Wechsel des Aufenthaltszwecks ausgeschlossen werden.

Vgl. hierzu OVG NRW, Beschluss vom 2. November 2009 18 B 1516/08 , juris.

Vor diesem Hintergrund sollten die vom Gesetzgeber vorgesehenen Erleichterungen ersichtlich Ausländern nicht zugute kommen, die sich dadurch rechtsmissbräuchlich verhalten haben, dass sie falsche Angaben gegenüber einer Auslandsvertretung gemacht haben und so trotz eines beabsichtigten Daueraufenthalts in den Besitz eines Schengen-Visums für kurzfristige Aufenthalte gelangt sind.

Im Ergebnis ebenso VGH Bad.-Württ., Beschlüsse vom 16. April 2009 13 S 656/09 , AuAS 2009, 136, und vom 8. Juli 2008 11 S 1041/08 , InfAuslR 2008, 444; Bay. VGH, Beschlüsse vom 29. September 2009 19 CS 09.1405 , juris, und vom 18. Mai 2009 10 CS 09.853 , InfAuslR 2009, 291; OVG Sachs.-Anh., Beschluss vom 13. August 2009 2 M 88/09 , juris.

Die Anwendung von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG in Verbindung mit § 55 Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe a AufenthG im Rahmen des § 39 Nr. 3 AufenthV führt daher nicht etwa zu einem Wertungswiderspruch, sondern entspricht vielmehr der bestehenden Gesetzessystematik. Dies gilt umso mehr, als Falschangaben zur Erlangung eines Schengen-Visums nicht grundsätzlich zur Unanwendbarkeit des § 39 Nr. 3 AufenthV führen, sondern nur unter den besonderen Voraussetzungen des § 55 Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe a AufenthG (insbesondere Hinweis auf die Rechtsfolgen der Handlung) und die Ausländerbehörde die Beweislast für das Vorliegen des Ausweisungsgrunds trägt.

Im Gegenteil hätte es einen Wertungswiderspruch zur Folge, § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG in Verbindung mit § 55 Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe a AufenthG im Rahmen des § 39 Nr. 3 AufenthV für unanwendbar zu erklären. Dies hätte die offensichtlich unbillige Konsequenz, dass ein Ausländer, der von vornherein offenbart, einen Daueraufenthalt in Deutschland zu beabsichtigen, mit einer Ausweisung rechnen müsste, wenn er im Verfahren auf Erteilung eines nationalen Visums nach § 6 Abs. 4 AufenthG falsche Angaben macht, während ein Ausländer, der seine Absicht, dauerhaft im Bundesgebiet zu bleiben, verheimlicht und aufgrund dieser Falschangabe ein Schengen-Visum erhält, trotz der schwerwiegenderen Täuschung nicht ausgewiesen werden könnte.

Die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels sind nicht gegeben, obwohl von der hier fehlenden allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG im Ermessenswege abgesehen werden kann. Es kann dahinstehen, ob es für einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels im Sinne des § 39 Nr. 3 AufenthV ausreichend ist, wenn ein behördliches Ermessen dahingehend auf Null reduziert ist, dass nur die Erteilung des Titels ermessensfehlerfrei wäre.

Diese Frage lassen OVG NRW, Beschluss vom 2. November 2009 18 B 1516/08 , juris; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 16. April 2009 13 S 656/09 , AuAS 2009, 136; OVG Sachs.-Anh., Beschluss vom 13. August 2009 2 M 88/09 , juris, ausdrücklich offen. Einen strikten, sich unmittelbar aus dem Gesetz ergebenden Rechtsanspruch verlangt das VG Aachen, Beschluss vom 22. Mai 2009 8 L 144/09 .

Denn das hier gemäß § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eröffnete Ermessen ist nicht dahingehend auf Null reduziert, dass nur die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis schon vor Nachholung des Visumverfahrens ermessensfehlerfrei wäre. Der Ausweisungsgrund des § 55 Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe a AufenthG dient spezial- und generalpräventiven Zwecken. Er soll gewährleisten, dass Ausländer bereits vor einer Einreise ins Bundesgebiet den Zweck der Einreise offenbaren. So soll, wenn - wie hier - ein dauerhafter Zuzug beabsichtigt ist, die gesetzlich vorgesehene vorherige Zuwanderungskontrolle (vgl. § 6 Abs. 4 AufenthG) unter Einschaltung der zuständigen Ausländerbehörde (vgl. § 31 AufenthV) sichergestellt werden. Mit Blick auf diese spezial- und generalpräventiven Zwecke auf der Nachholung des Visumverfahrens zu bestehen, wäre hier auch unter Berücksichtigung von Art. 6 GG nicht ermessensfehlerhaft. Da der Antragsteller soweit ersichtlich über die für die Ausstellung eines nationalen Visums erforderlichen Dokumente verfügt und in der Lage sein dürfte, sich zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache zu verständigen, ist nicht erkennbar, was einer zügigen Durchführung des Visumverfahrens entgegenstehen könnte. Die mit der Nachholung des Visumverfahrens verbundene kurzfristige Trennung haben der Antragsteller und seine Ehefrau hinzunehmen. Für einen überschaubaren Zeitraum ist es ihnen zuzumuten, ihre Beziehung durch schriftliche oder telefonische Kontakte oder mit Hilfe des Internets zu pflegen. Sofern es der Ehefrau des Antragstellers, die ihre 13 und sechs Jahre alten Töchter jahrelang allein versorgt hat, aufgrund einer psychischen Erkrankung nicht möglich sein sollte, für die kurze Dauer des Visumverfahrens ohne Hilfe ihren Haushalt zu besorgen und die Kinderbetreuung sicherzustellen, kann sie vorübergehend Hilfe von Freunden, Verwandten oder staatlichen Stellen in Anspruch nehmen. Das kurzfristige Verlassen des Bundesgebiets ist dem Antragsteller auch nicht mit Blick auf seine Beziehung zu den Kindern seiner Ehefrau unzumutbar. Nachhaltige Beeinträchtigungen des Kindeswohls oder eine dauerhafte Schädigung des Verhältnisses zwischen dem Antragsteller und den Kindern durch eine kurzfristige Trennung sind fernliegend. Die Kinder leben erst seit wenigen Monaten mit ihm zusammen. Sie sind aufgrund ihres Alters in der Lage, den vorübergehenden Charakter der Trennung zu verstehen. Auch können sie - wie ihre Mutter - in der Zeit, in der der Antragsteller sich in Russland aufhält, den Kontakt zu diesem aufrechterhalten.

Aus diesen Gründen ist dem Antragsteller die Nachholung des Visumverfahrens auch nicht im Sinne von § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG unzumutbar.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1, Abs. 2, § 53 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar.