OLG Düsseldorf, Beschluss vom 01.07.2009 - III-1 Ws 337/09
Fundstelle
openJur 2011, 70803
  • Rkr:
Tenor

1. Der Haftbefehl des Amtsgerichts Mönchengladbach vom 6. Februar 2009 (58 Gs-601 Js 2370/08-97/09), der an die Stelle des Haftbefehls vom 4. Sep-tember 2008 getreten ist, wird aufgehoben.

2. Der Angeschuldigte ist in dieser Sache sofort aus der Untersuchungshaft zu entlassen.

Gründe

Der Angeschuldigte befindet sich seit dem 5. September 2008 in dieser Sache in Untersuchungshaft. Die unter dem 3. Juni 2009 verfasste Anklage wirft ihm schweren sexuellen Missbrauch von Kindern (fünf Fälle, davon in drei Fällen Versuch) und sexuellen Missbrauch von Kindern (vierzehn Fälle) vor.

Die erneute Haftprüfung nach § 122 Abs. 4 StPO führt zur Aufhebung des Haftbefehls, weil die besonderen Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 StPO, unter denen der Vollzug der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus aufrechterhalten werden darf, nicht vorliegen.

Der Angeschuldigte ist zwar nach wie vor der ihm zur Last gelegten Taten dringend verdächtig. Auch der Haftgrund der Fluchtgefahr besteht fort. Gleichwohl unterliegt der Haftbefehl der Aufhebung, da das Verfahren nicht mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung gefördert worden ist.

1. Die Freiheit der Person nimmt einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. Daher darf eine Freiheitsentziehung nur aufgrund eines Gesetzes angeordnet und aufrechterhalten werden, wenn überwiegende Belange des Gemeinwohls dies zwingend gebieten. Zu solchen Belangen, gegenüber denen der Freiheitsanspruch eines Beschuldigten unter Umständen zurücktreten muss, gehören die unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafrechtspflege. Ein vertretbarer Ausgleich des Widerstreits dieser für den Rechtsstaat wichtigen Grundsätze lässt sich im Bereich des Rechts der Untersuchungshaft nur erreichen, wenn den Freiheitsbeschränkungen, die vom Standpunkt einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege aus erforderlich sind, ständig der Freiheitsanspruch des Angeschuldigten als Korrektiv entgegengehalten wird. Dies bedeutet, dass zwischen beiden Belangen abzuwägen ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Haftfortdauer auch unabhängig von der Schwere des Tatvorwurfs und der zu erwartenden Strafe Grenzen setzt, und zu bedenken, dass sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft regelmäßig vergrößern wird (vgl. BVerfG, StV 2006, 87).

Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dem im Grundrecht der Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) verankerten Beschleunigungsgebot in Haftsachen zu. Dieses verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um eine Entscheidung über die Tatvorwürfe mit der gebotenen Schnelligkeit herbeizuführen. Kommt es aufgrund vermeidbarer Fehler der Justizorgane zu einer erheblichen Verzögerung, so steht dies der Aufrechterhaltung des Haftbefehls entgegen (vgl. BVerfG, StV 2006, 87). Beachtlich sein können hier unter Umständen bereits in Wochen zu bemessende kleinere Verfahrensverzögerungen (vgl. BVerfG, NJW 2006, 1336).

2. Nach den vorgenannten Maßstäben kann der Haftbefehl vom 6. Februar 2009 keinen Bestand haben, da es im Verantwortungsbereich der Staatsanwaltschaft im Zusammenhang mit der Begutachtung des Angeschuldigten zu Verfahrensverzögerungen gekommen ist, die mit dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen nicht mehr in Einklang stehen, und zudem die Beurteilung des weiteren Verfahrensablaufs derzeit völlig unsicher ist.

a) Eine Verzögerung des Verfahrens ergab sich hier bereits aus der verspäteten Beauftragung des Sachverständigen Dr. Deis. Die Staatsanwaltschaft hat den Sachverständigen erst mit Verfügung vom 23. Dezember 2008 beauftragt, ein Gutachten zur Frage der Schuldfähigkeit des Angeschuldigten zu erstatten. Diese Auftragsvergabe war verspätet, da sich schon zum Zeitpunkt der Festnahme des Angeschuldigten am 5. September 2008 die Erforderlichkeit eines Schuldfähigkeitsgutachtens aufdrängte (vgl. OLG Braunschweig, Beschluss vom 8. März 1993 - HEs 13/93). So lässt sich den polizeilichen Berichten vom 14. Dezember 2007 und 3. September 2008 entnehmen, dass der Angeschuldigte bereits wiederholt im Bereich der Sexualdelikte (darunter auch sexueller Missbrauch von Kindern) in Erscheinung getreten ist und zwei seiner Brüder wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern nach § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht sind. Aufgrund dessen bestand Veranlassung, alsbald ein Gutachten zur Frage der Schuldfähigkeit des Angeschuldigten in Auftrag zu geben.

b) Die zögerliche Bearbeitung des Gutachtenauftrags durch den Sachverständigen Dr. Deis hat jedenfalls dann zu einer Verfahrensverzögerung geführt, die mit dem Beschleunigungsgrundsatz nicht mehr zu vereinbaren ist und deshalb eine weitere Haftfortdauer nicht gerechtfertigt erscheinen lässt.

aa) Bei der Einholung eines Gutachtens ist es zur gebotenen Förderung des Verfahrens unerlässlich, auf eine zeitnahe Erstellung des Gutachtens hinzuwirken. Es sind deshalb mit dem Gutachter Absprachen darüber zu treffen, in welcher Frist ein Gutachten zu erstatten ist und ggf. zu prüfen, ob eine zeitnähere Gutachtenerstellung durch einen anderen Sachverständigen zu erreichen ist (vgl. OLG Koblenz, StV 2007, 256; OLG Jena, Beschluss vom 17. November 2004 - 1 HEs 39/04). Die Staatsanwaltschaft hat den Gutachter ständig auf die bestehende Haftsitutation hinzuweisen, die zügige Gutachtenerstellung fortwährend zu kontrollieren und erforderlichenfalls gemäß § 77 Abs. 2 StPO Ordnungsmittel gegen den Sachverständigen anzudrohen und festzusetzen (vgl. OLG Hamm, StV 2000, 629; OLG Zweibrücken, NStZ 1994, 202). Bloße mündliche Mahnungen, das Gutachten vorzulegen, genügen nicht.

bb) Diese Vorgaben sind hier nicht beachtet worden.

Nach den dem Senat vorgelegten Akten hat es die Staatsanwaltschaft bereits versäumt, eine Fristabsprache mit dem Sachverständigen zu treffen. Die Übersendungsverfügung der Staatsanwaltschaft an den Sachverständigen lautet auszugsweise wie folgt:

"Da es sich um eine eilige Haftsache handelt, wäre ich für eine schnellstmögliche Gutachtenerstattung dankbar. Sollte Ihnen dies innerhalb des nächsten Monats nicht möglich sein, bitte ich um entsprechende Benachrichtigung.

Zuvor bitte ich, mir den Eingang der Akten zu bestätigen, um Mitteilung, bis wann mit einer Gutachtenerstattung zu rechnen ist und um unverzügliche Rücksendung der Akten, da diese noch an den Verteidiger des Beschuldigten gesandt werden müssen."

Der Sachverständige hat auf die vorgenannten Aufforderungen nicht reagiert. Er hat weder mitgeteilt, dass er die Monatsfrist nicht werde einhalten können, noch einen Termin mitgeteilt, bis zu dem er das Gutachten vorlegen könne. Die unterlassene Reaktion des Sachverständigen hätte die Staatsanwaltschaft veranlassen müssen, spätestens nach erfolglosem Ablauf der in dem Anschreiben genannten Monatsfrist Kontakt zu dem Gutachter aufzunehmen, um mit diesem eine Fristabsprache zu treffen und ggf. eine zeitnähere Gutachtenerstellung durch einen anderen Sachverständigen zu prüfen. Das (trotz fehlender Fristabsprache) im Anschluss an die Übersendungsverfügung vom 23. Dezember 2008 nahezu viermonatige (untätige) Zuwarten der Staatsanwaltschaft bis zur Kontaktaufnahme mit dem Sachverständigen am 21. April 2009 stand in deutlichem Widerspruch zu den aufgezeigten, aus dem Beschleunigungsgrundsatz für die Staatsanwaltschaft folgenden Verfahrensförderungspflichten.

Am 21. April 2009 hat das Büro des Sachverständigen dann schließlich die Auskunft erteilt, dass das Gutachten in der Woche vom 27. April 2009 bis zum 30. April 2009 fertiggestellt werde. Diese Frist hat der Sachverständige aber nicht eingehalten. Ein nachvollziehbarer Grund dafür, warum die Staatsanwaltschaft dann noch bis zum 20. Mai 2009 abgewartet hat, bevor sie dem Sachverständigen (unter Fristsetzung) ein Ordnungsgeld nach § 77 Abs. 2 StPO angedroht hat, ist für den Senat nicht erkennbar.

c) Es muss bei der vorliegenden Entscheidung über die Haftfortdauer schließlich auch berücksichtigt werden, dass die Beurteilung des weiteren Verfahrensablaufs derzeit völlig unsicher ist. Nach den vorgelegten Akten hat die Strafkammer über die Eröffnung des Hauptverfahrens noch nicht entschieden und noch keinen Hauptverhandlungstermin vorgesehen. Sie sieht ausweislich des Beschlusses vom 22. Juni 2009 - für den Senat bei der derzeitigen Beweislage nicht nachvollziehbar - sogar noch Veranlassung, (weitere Verzögerungen bedingende) Glaubwürdigkeitsgutachten einzuholen und hält selber die Voraussetzungen für eine Fortdauer der Untersuchungshaft für nicht gegeben.

d) Unter den dargelegten Umständen zwingt das Gewicht des sich aus Art. 2 Abs. 2

Satz 2 GG ergebenden Freiheitsanspruchs des Angeschuldigten nach nahezu zehnmonatiger Untersuchungshaft zur Aufhebung des Haftbefehls.

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