OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 17.11.2009 - 7 B 1350/09
Fundstelle
openJur 2011, 70167
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. 2 L 595/09

1. Außenwände im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW sind die über der Geländeoberfläche liegenden Wände, die von außen sichtbar sind und die das Gebäude gegen die Außenluft abschließen. Dieser Begriff ist Relativierungen, die sich an der Schutzwürdigkeit des jeweils betroffenen Nachbarn im Einzelfall orientieren, nicht zugänglich.

2. Macht der Bauherr in den Fällen des § 6 Abs. 1 Satz 2 Buchst. b) BauO NRW nur teilweise von der Option einer grenzständigen Bebauung Gebrauch, müssen die nicht grenzständig errichteten Teile der Außenwand ihrerseits die landesrechtlichen Abstanderfordernisse einhalten.

Tenor

Der angefochtene Beschluss wird teilweise geändert.

Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung des Antragsgegners vom 27. April 2009 zur Änderung eines Wohngebäudes mittlerer Höhe auf dem Grundstück U.--------straße 54 in L. , Gemarkung L1. , Flur 63, Flurstück 2164/0, wird angeordnet.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Der Antragsgegner und der Beigeladene tragen die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen je zur Hälfte; ihre außergerichtlichen Kosten tragen sie jeweils selbst.

Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 3.750,- Euro festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde des Antragstellers mit dem sinngemäßen Antrag,

unter Änderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts L. vom 26. August 2009 - mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung - die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung des Antragsgegners vom 27. April 2009 anzuordnen und dem Antragsgegner aufzugeben, die Baustelle auf dem Grundstück U1. - 54 in L. stillzulegen,

hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.

Die aufschiebende Wirkung der Klage ist anzuordnen, weil nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen summarischen Prüfung Überwiegendes dafür spricht, dass die angefochtene Baugenehmigung zu Lasten des Antragstellers gegen nachbarschützende Vorschriften des Bauordnungsrechts verstößt. Auf diese Vorschriften kann sich der Antragsteller stützen, da er ein vormerkungsgesichertes Anwartschaftsrecht auf Wohnungseigentum auf dem nördlich an das Vorhabengrundstück angrenzenden Grundstück U.--------straße 56, Gemarkung L1. , Flur 63, Flurstück 2165, hat.

Das genehmigte Vorhaben des Beigeladenen, das die Errichtung eines Dachgeschosses zum Gegenstand hat, hält zu diesem Nachbargrundstück die vor der von der Grundstücksgrenze um 2,50 Meter zurückspringenden Wand des Dachgeschosses erforderliche Abstandfläche nicht ein. Diese Wand ist eine Außenwand im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW. Dass sie über eine waagerechte "Pergolakonstruktion" aus in einem Abstand von knapp 1,50 Meter angeordneten Deckenbalken mit einer Verlängerung der grenzständig errichteten Brandwand verbunden werden soll, rechtfertigt keine andere Beurteilung.

Außenwände im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW sind die über der Geländeoberfläche liegenden Wände, die von außen sichtbar sind und die das Gebäude gegen die Außenluft abschließen.

Vgl. Gädtke/Temme/Heinz/Czepuck, BauO NRW, Kommentar, 11. Auflage 2008, § 6 Rdnr. 73.

Das Erfordernis eines Abschlusses gegen die Außenluft folgt daraus, dass Bezugspunkt des Begriffs der Außenwand das Gebäude ist. Gebäude sind nach § 2 Abs. 2 BauO NRW selbständig benutzbare, überdachte bauliche Anlagen, die von Menschen betreten werden können und geeignet oder bestimmt sind, dem Schutz von Menschen, Tieren oder Sachen zu dienen. Dieser Verwendungszweck bedingt neben einer Niederschläge ableitenden Überdachung regelmäßig seitliche Raumabschlüsse, die das Gebäude gegen Witterungseinflüsse von außen abschirmen.

Vgl. Gädtke/Temme/Heinz/Czepuck, a.a.O., § 2 Rdnrn. 105, 114, 117.

An diesem normativen Ausgangspunkt geht der sinngemäße Einwand des Antragsgegners und des Beigeladenen vorbei, für die subjektive Rechtsstellung des Antragstellers mache es unter Berücksichtigung der Schutzzwecke des Abstandflächenrechts keinen Unterschied, ob die zurückspringende Wand oder die "Pergolakonstruktion" die Abgrenzung gegen die Außenluft bewirke. Der dargelegte Gebäudebegriff und damit auch die Definition seiner Außenmauern richten sich ausschließlich nach objektiven Kriterien und sind damit Relativierungen, die sich an der Schutzwürdigkeit des jeweils betroffenen Nachbarn im Einzelfall orientieren, nicht zugänglich.

Die von der Grenze zum Nachbargrundstück U.--------straße 56 um 2,50 Meter zurückspringende Wand des Dachgeschosses erfüllt das genannte Erfordernis. Diese Wand und nicht etwa die in derselben Höhe geplante Verlängerung der Brandwand grenzt die betretbaren, dem Schutz von Menschen, Tieren und Sachen dienenden Räume im Dachgeschoss des Beigeladenen gegen die Außenluft ab. Die "Pergolakonstruktion" stellt aufgrund der Öffnungen zwischen den Deckenbalken keinen derartigen Abschluss her. Dass sich eine andere Beurteilung ergeben mag, wenn ein Glasdach an Stelle der "Pergolakonstruktion" die Brandwand mit der zurückspringenden Wand verbinden würde, ist entgegen der Auffassung des Beigeladenen ohne Belang, weil ein solches Dach nicht Gegenstand des streitgegenständlichen Vorhabens ist.

Die zurückspringende Wand ist auch von außen sichtbar. Mit dieser Voraussetzung ist nicht etwa, wie der Beigeladene offenbar annimmt, die Sichtbarkeit aus der Perspektive des jeweils betroffenen Nachbarn gemeint, sondern die objektive Erkennbarkeit des Gebäudeabschlusses von außen. Auch dies folgt daraus, dass der Begriff des Gebäudes und damit auch der Außenmauer, wie ausgeführt, rein objektiv und nicht nach der Schutzwürdigkeit des jeweils betroffenen Nachbarn zu bestimmen ist. Darüber hinaus würden selbst die Schutzzwecke des § 6 BauO NRW nicht gebieten, auf die Sichtbarkeit der Wand aus der Perspektive des Nachbarn abzustellen. Abstandflächen sollen neben dem Zweck, eine ausreichende Belichtung, Belüftung und Besonnung der Nachbargrundstücke sicherzustellen, auch dem Brandschutz dienen und vermeiden, dass Lebensäußerungen der in der Nachbarschaft wohnenden und arbeitenden Menschen wie Lärm oder Geruchsbelästigungen zu intensiv aufeinander einwirken.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 29. August 1997 - 7 A 629/95 -, BRS 59 Nr. 110.

Für diese Schutzzwecke des Abstandsflächenrechts ist es ohne Belang, ob die konkret in Rede stehende Wand vom jeweils betroffenen Nachbarn optisch wahrgenommen werden kann.

Die von der Grundstücksgrenze zurückspringende Wand des Dachgeschosses des Beigeladenen ist nach diesem Maßstab von außen sichtbar. Sie ist aufgrund der Offenheit der "Pergolakonstruktion" von außen objektiv als Gebäudeabschluss erkennbar. Dass der Antragsteller diese Wand von seiner Wohnung aus wegen der seitlichen Ummauerung des mit der "Pergolakonstruktion" abgedeckten Raumes nicht wahrnehmen kann, ist hingegen aus den vorstehend genannten Gründen ohne Belang.

Dass der von der Grundstücksgrenze abgerückten Wand eine gleich hohe Brandwand vorgelagert ist, führt entgegen der Auffassung des Antragsgegners nicht dazu, dass jene Wand keine Abstandflächen auslöst. Der Hinweis des Antragsgegners auf

Boeddinghaus/Hahn/Schulte, Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen, Kommentar, Stand: Juli 2009, § 6 Rdnr. 42,

geht fehl. Diese Kommentarstelle betrifft die Fallgestaltung, dass eine Außenwand im unteren Gebäudeteil aufgrund vorgelagerter niedrigerer Bauteile zur Innenwand wird. Sie ist hier schon deswegen nicht einschlägig, weil die Brandwand und die "Pergolakonstruktion" aus den vorstehend ausgeführten Gründen gerade nicht bewirken, dass die von der Grundstücksgrenze zurückspringende Wand des Dachgeschosses von einer Außenwand zu einer Innenwand wird.

Die Einhaltung einer Abstandfläche vor dieser Wand ist auch nicht nach § 6 Abs. 1 Satz 2 Buchst. b) BauO NRW entbehrlich. Danach ist innerhalb der überbaubaren Grundstücksfläche eine Abstandfläche nicht erforderlich gegenüber Grundstücksgrenzen, gegenüber denen nach planungsrechtlichen Vorschriften ohne Grenzabstand gebaut werden darf, wenn gesichert ist, dass auf dem Nachbargrundstück ohne Grenzabstand gebaut wird. Diese Vorschrift lässt es bei Vorliegen der genannten Tatbestandsvoraussetzungen lediglich zu, dass grenzständig gebaut oder ein Abstand eingehalten wird. Macht der Bauherr in den Fällen des § 6 Abs. 1 Satz 2 Buchst. b) BauO NRW zulässigerweise nur teilweise - sei es bezüglich der Tiefe der Bebauung, sei es bezüglich ihrer Höhe - von der Option einer grenzständigen Bebauung Gebrauch, müssen die nicht grenzständig errichteten Teile der Außenwand ihrerseits die landesrechtlichen Abstanderfordernisse einhalten.

Vgl. dazu im Einzelnen OVG NRW, Beschluss vom 17. Juli 2008 - 7 B 195/08 -, NWVBl. 2009, 102 = BauR 2008, 3033; ferner Beschluss vom 12. November 2007 - 7 B 1354/07 -, juris.

Da sich der Beigeladene hier nach den vorstehenden Ausführungen dazu entschlossen hat, das geplante Dachgeschoss in Höhe der zurückspringenden Wand vom Nachbargrundstück U2. 56 abzurücken, ist der insoweit erforderliche Abstand nach den allgemeinen Regelungen des § 6 BauO NRW zu ermitteln.

Diese Erfordernisse sind nicht gewahrt, denn die gegenüber der Grundstücksgrenze lediglich um 2,50 Meter zurücktretende Außenwand des Dachgeschosses hält auch unter Berücksichtigung des 16-m-Privilegs gemäß § 6 Abs. 6 BauO NRW nicht die Abstandfläche von 0,4 H geschweige denn den Mindestabstand von 3 Metern ein.

Hinsichtlich dieser Wand kann auch nicht auf der Grundlage des § 6 Abs. 16 BauO NRW eine geringere Tiefe der Abstandfläche gestattet werden. Danach können in überwiegend bebauten Gebieten (ausnahmsweise) geringere Tiefen der Abstandflächen gestattet werden, wenn die Gestaltung des Straßenbildes oder besondere städtebauliche Verhältnisse dies auch unter Würdigung nachbarlicher Belange rechtfertigen. Ein besonderer städtebaulicher Grund in diesem Sinne,

vgl. dazu näher OVG NRW, Beschluss vom 17. Juli 2008, a.a.O.,

ist jedoch weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Dem Abwehranspruch des Antragstellers lässt sich schließlich auch nicht durch die Zulassung einer Abweichung von den dargelegten Anforderungen des § 6 BauO NRW begegnen. § 73 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW lässt eine solche Abweichung regelmäßig nur bei einer grundstücksbezogenen Atypik zu, für die hier nichts ersichtlich ist. Insbesondere gibt eine Vergleichsbetrachtung, wonach die Nachbarn durch eine zulässige vollständige Grenzbebauung im Dachgeschoss eine größere Beeinträchtigung hinnehmen müssten, nichts für eine grundstücksbezogene Atypik her.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 17. Juli 2008, a.a.O.

Auf die im Mittelpunkt des angefochtenen Beschlusses stehende Frage der Rücksichtslosigkeit des streitgegenständlichen Vorhabens kommt es nach alledem nicht an. Zur Vermeidung weiterer Streitigkeiten merkt der Senat jedoch an, dass das Beschwerdevorbringen des Antragstellers, ihm sei es nicht zuzumuten, den Beigeladenen aufgrund des geplanten Einbaus eines großen seitlichen Fensters zum WC im Dachgeschoss bei jedem Toilettengang beobachten zu müssen, nicht einmal ansatzweise geeignet ist, entgegen den zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts einen Verstoß gegen das planungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme darzustellen.

Soweit der Antragsteller mit der Beschwerde sein Begehren weiterverfolgt, dem Antragsgegner die Stilllegung der Baustelle auf dem Grundstück des Beigeladenen aufzugeben, ist sie unbegründet. Grundlage für dieses Begehren ist § 80 a Abs. 1 Nr. 2, 2. Alt., Abs. 3 VwGO. Voraussetzung für den Erfolg eines solchen Antrags ist, dass die erstrebte Maßnahme notwendig ist, um die betroffenen Rechte des Dritten zu sichern.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 27.10.2008 - 7 B 1368/08; Hess. VGH, Beschluss vom 16. Dezember 1991 - 4 TH 1814/91 -, juris; OVG Saarl., Beschluss vom 13. Juni 1995 - 2 W 24/95 -, juris.

Ein derartiges Sicherungsbedürfnis besteht nicht. Anhaltspunkte für die Befürchtung, der Beigeladene werde die mit der vorliegenden Entscheidung angeordnete aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die streitgegenständliche Baugenehmigung missachten und durch Fortführung der Bauarbeiten vollendete, im Falle eines Obsiegens des Antragstellers in der Hauptsache allenfalls schwer rückgängig zu machende Fakten schaffen, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 1 und 3, 155 Abs. 1 Satz 3, 159 Satz 1, 162 Abs. 3 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung stützt sich auf die §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).