VG Münster, Urteil vom 12.01.2010 - 6 K 2465/08
Fundstelle
openJur 2011, 69989
  • Rkr:

Die Einschränkung nach § 6 Satz 1 BAföG, dass Deutschen mit ständigem Wohnsitz in einem ausländischen Staat, die dort eine Ausbildungsstätte besuchen, Ausbildungsförderung nur dann geleistet werden kann, wenn die besonderen Umstände des Einzelfalles dies rechtfertigen, ist in den Fällen des Besuchs einer Ausbildungsstätte in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft wegen Verstoßes gegen das durch Art. 18 Abs. 1 EG verliehene Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, nicht anzuwenden.

Tenor

Der Bescheid des Beklagten vom 25. April 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. September 2008 wird aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, seinen Bescheid vom 30. März 2006 zurück zu nehmen und dem Kläger für sein Studium in der Fachrichtung Medizin an der Université René Descartes in Paris im Zeitraum vom 1. Dezember 2005 bis zum 30. November 2006 Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförde-rungsgesetz in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger vom Beklagten die Gewährung von Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz für ein Studium in Frankreich beanspruchen kann.

Der 1987 in Münster geborene Kläger lebte jedenfalls seit dem Jahr 2000 mit seinen Eltern und Geschwistern in Frankreich. Am 15. Juni 2005 bestand er an einem Gymnasium in Frankreich die deutschfranzösische Abiturprüfung.

Am 30. November 2005 beantragte der Kläger beim Beklagten, ihm Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz für ein Studium der Fachrichtung Medizin an der Université René Descartes in Paris zu gewähren. Mit Bescheid vom 30. März 2006 lehnte der Beklagte den Antrag mit der Begründung ab, im Fall des Klägers seien keine besonderen Umstände gegeben, die es rechtfertigten, in Abweichung vom gesetzlichen Regelfall, Deutschen mit ständigem Wohnsitz im Ausland keine Ausbildungsförderung zu leisten, Ausbildungsförderung zu gewähren.

Mit Schreiben vom 7. Mai 2007 beantragte der Kläger beim Beklagten, über den Antrag vom 30. November 2005 auf Gewährung von Ausbildungsförderung für sein Studium in Frankreich für das Studienjahr 2005/2006 neu zu entscheiden. Zur Begründung gab er an, nach den Ausführungen des Generalanwalts beim Europäischen Gerichtshof in den Vorabentscheidungsverfahren mit den Aktenzeichen C-11/06 und C-12/06 seien die deutschen Regelungen über die Verweigerung der Auslandsförderung in den ersten zwei Semestern des Studiums mit dem EU-Vertrag nicht vereinbar.

Mit Bescheid vom 25. April 2008 erklärte der Beklagte, die Entscheidung vom 30. März 2006, dem Kläger Ausbildungsförderung für das Studienjahr 2005/2006 nicht zu leisten, bleibe bestehen. Zur Begründung gab er an: Der Ablehnungsbescheid sei rechtmäßig. Die vom Kläger angeführte Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs beziehe sich nur auf die Förderungsfälle nach § 5 Abs. 2 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG). Sie sei hier nicht relevant, weil der Kläger seinen ständigen Wohnsitz in Frankreich habe und sein Antrag daher nach § 6 BAföG zu beurteilen sei.

Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger unter dem 30. April 2008 Widerspruch und führte zur Begründung im Wesentlichen aus: Der ablehnende Bescheid vom 30. März 2006 sei rechtswidrig ergangen, weil § 6 BAföG unter Verstoß gegen europarechtliche Bestimmungen angewandt worden sei. Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 23. Oktober 2007 (C-11/06 und C-12/06) habe ein Mitgliedstaat, wenn er ein Ausbildungsförderungssystem vorsehe, wonach Auszubildende bei einer Ausbildung in einem anderen Mitgliedstaat eine Ausbildungsförderung in Anspruch nehmen könnten, dafür Sorge zu tragen, dass die Modalitäten der Bewilligung dieser Förderung das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, nicht ungerechtfertigt beschränkt werde. Auch wenn sich die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs auf einen nach § 5 Abs. 2 BAföG zu beurteilenden Fall beziehe, müssten die entwickelten Grundsätze auch auf § 6 BAföG übertragen werden. Danach lägen besondere Umstände des Einzelfalls im Sinne von § 6 BAföG schon vor, wenn Eltern von ihrer Arbeitnehmerfreizügigkeit Gebrauch gemacht und mit ihrem Familienverbund einen ständigen Wohnsitz im europäischen Ausland begründet hätten. Demgegenüber sei die vom Beklagten vorgenommene Einschränkung nicht gerechtfertigt.

Mit Widerspruchsbescheid vom 23. September 2008 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus: Die Voraussetzungen für eine Rücknahme des ablehnenden Bescheides seien nicht erfüllt. Die Leistungen seien abgelehnt worden, weil die Voraussetzungen des § 6 BAföG nicht vorgelegen hätten. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zu § 5 BAföG sei nicht ohne Weiteres auf § 6 BAföG übertragbar. Diese Vorschrift bleibe zwingendes Recht und sei von den BAföG-Ämtern unter Berücksichtigung der dazu erlassenen Verwaltungsvorschriften anzuwenden. Die Voraussetzungen für die Förderung der Ausbildung eines Deutschen, der seinen ständigen Wohnsitz in einem ausländischen Staat habe und dort eine Ausbildungsstätte besuche, bestimme sich weiterhin allein nach § 6 BAföG, ohne dass es hierbei auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zu § 5 BAföG ankomme.

Der Kläger hat am 14. November 2008 Klage erhoben.

Er bezieht sich zur Begründung auf die Ausführungen zu seinem Widerspruch und macht ergänzend im Wesentlichen geltend: Aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 23. Oktober 2007 ergebe sich, dass der Kläger, hätte er zum Zeitpunkt der Beantragung von Ausbildungsförderungen seinen Wohnsitz in Deutschland gehabt, Anspruch auf Ausbildungsförderung für sein Studium in Paris gehabt hätte. Denn der deutsche Gesetzgeber habe die Ausbildungsförderung nicht daran anknüpfen dürfen, dass der Auszubildende vor dem Besuch einer ausländischen Hochschule zunächst ein Studium in Deutschland aufnehme. Eine solche Beschränkung der Ausbildungsförderung sei gemeinschaftsrechtlich nicht gerechtfertigt. Mithin sei die Regelung des § 6 BAföG insoweit europarechtswidrig. Danach stehe dem Kläger ein Anspruch auf Ausbildungsförderung zu, weil es einem Studienanfänger unzumutbar sei, nach Beendigung der Schule in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union zum Studienbeginn nach Deutschland zurück zu kehren, dort einen ständigen Wohnsitz zu begründen, um anschließend sein Studium im europäischen Ausland aufzunehmen.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Bescheid des Beklagten vom 25. April 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. September 2008 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, seinen Bescheid vom 30. März 2006 zurück zu nehmen und dem Kläger für sein Studium in der Fachrichtung Medizin an der Université René Descartes in Paris im Zeitraum vom 1. Dezember 2005 bis zum 30. November 2006 Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er verweist auf den angefochtenen Bescheid und trägt ergänzend im Wesentlichen vor: Der Gesetzgeber habe die Voraussetzungen für die Ausbildungsförderung nach § 5 BAföG und § 6 BAföG bewusst unterschiedlich geregelt. Während in den Fällen des § 5 BAföG ein Rechtsanspruch auf Förderungsleistungen bestehe, stehe die Entscheidung über die Gewährung von Ausbildungsförderung nach § 6 BAföG im Ermessen der Ämter für Ausbildungsförderung. Da eine Förderung nach § 6 BAföG bereits nach bisherigem Recht ohne einjährige Orientierungsphase im Inland möglich sei, könne die Kritik des Europäischen Gerichtshofs an § 5 BAföG nicht auf § 6 BAföG übertragen werden.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und der beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.

Gründe

Die Klage, über die das Gericht auf Grund des Einverständnisses der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist als Verpflichtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 VwGO zulässig und hat in der Sache Erfolg.

Der angefochtene Bescheid des Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheids ist rechtwidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 5 VwGO). Der Kläger kann vom Beklagten die Rücknahme des Bescheides vom 30. März 2006 und Gewährung der erstrebten Ausbildungsförderung verlangen.

Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist in dem Einzelfall, in dem sich ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsakts das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.

Die danach erforderlichen Voraussetzungen für eine Rücknahme des Bescheides des Beklagten vom 30. März 2006 liegen vor. Der Beklagte hat bei seiner Entscheidung, den Antrag des Klägers auf Gewährung von Ausbildungsförderung sein Studium in Frankreich für das Studienjahr 2005/2006 abzulehnen, das Recht unrichtig angewandt.

Der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Gewährung von Ausbildungsförderung beurteilt sich nach § 6 BAföG. Nach Satz 1 dieser Regelung kann Deutschen im Sinne des Grundgesetzes, die ihren ständigen Wohnsitz in einem ausländischen Staat haben und dort oder von dort aus in einem Nachbarstaat eine Ausbildungsstätte besuchen, Ausbildungsförderung geleistet werden, wenn die besonderen Umstände des Einzelfalles dies rechtfertigen.

Zwar ist davon auszugehen, dass der Beklagte im Fall des Klägers zu Recht das Vorliegen besonderer Umstände, die eine Ausbildungsförderung rechtfertigende könnten, verneint hat. Wie der Beklagte in seinem Bescheid vom 30. März 2006 festgestellt hat und der Kläger auch nicht bestreitet, erfüllt der Kläger keine der in Tz. 6.0.12 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Bundesausbildungsförderungsgesetz (vom 15. Oktober 1991, in der Neufassung vom 20. Dezember 2001, GMBl. 1143) genannten Voraussetzungen für die Annahme besonderer Umstände des Einzelfalles im Sinne von § 6 Satz 1 BAföG. Weitere Umstände, die eine Ausbildungsförderung nach der genannten Vorschrift rechtfertigen könnten, hat der Kläger nicht geltend gemacht und sind auch sonst nicht erkennbar.

Gleichwohl hat der Beklagte die vom Kläger beantragte Ausbildungsförderung zu Unrecht versagt. Denn die Einschränkung nach § 6 Satz 1 BAföG, dass Deutschen mit ständigem Wohnsitz in einem ausländischen Staat, die dort eine Ausbildungsstätte besuchen, Ausbildungsförderung nur dann geleistet werden kann, wenn die besonderen Umstände des Einzelfalles dies rechtfertigen, ist in den Fällen des Besuchs einer Ausbildungsstätte in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft - wie er im vorliegenden Verfahren in Rede steht - wegen Verstoßes gegen das durch Art. 18 Abs. 1 des EG-Vertrages (EG) verliehene Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, nicht anzuwenden.

Nach Art. 18 Abs. 1 EG hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in diesem Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten. Auf dieses Recht kann sich der Kläger berufen. Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, die einer Ausbildung in einem anderen Mitgliedstaat nachgehen, sind gemäß Art. 17 Abs. 1 EG Unionsbürger und können sich auch gegenüber ihrem Herkunftsmitgliedstaat auf die mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Rechte berufen. Zu den Situationen, die in den Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallen, gehören diejenigen, die sich auf die Ausübung der durch den Vertrag garantierten Grundfreiheiten beziehen, insbesondere auch die, in denen es um das durch Art. 18 EG verliehene Recht geht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.

Vgl. EuGH, Urteil vom 23. Oktober 2007 - C-11/06 und C-12/06 -, Rdnrn. 22, 23, EuZW 2007, 767 = NVwZ 2008, 298, mit weiteren Nachweisen.

Die genannte Einschränkung nach § 6 Satz 1 BAföG stellt eine Beschränkung des nach dem Vorstehenden auch dem Kläger zustehenden Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt nach Art. 18 Abs. 1 EG dar. Eine Beschränkung dieses Rechts liegt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs vor, wenn eine nationale Regelung bestimmte eigene Staatsangehörige allein deswegen benachteiligt, weil sie von ihrer Freiheit, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben und sich dort aufzuhalten, Gebrauch gemacht haben. Die vom EG-Vertrag auf dem Gebiet der Freizügigkeit der Unionsbürger gewährten Erleichterungen könnten nicht ihre volle Wirkung entfalten, wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats von ihrer Wahrnehmung durch Hindernisse abgehalten werden könnte, die seinem Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat infolge einer Regelung seines Herkunftsstaats entgegenstehen, die Nachteile allein daran anknüpft, dass er von ihnen Gebrauch gemacht hat. Dies gilt angesichts der mit Art. 3 Abs. 1 lit. q EG und Art. 149 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich EG verfolgten Ziele, u.a. die Mobilität von Lernenden und Lehrenden zu fördern, besonders im Bereich der Bildung. Ein Mitgliedstaat hat daher, wenn er ein Ausbildungsförderungssystem vorsieht, wonach Auszubildende bei einer Ausbildung in einem anderen Mitgliedstaat eine Ausbildungsförderung in Anspruch nehmen können, dafür Sorge zu tragen, dass die Modalitäten der Bewilligung dieser Förderung das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, nicht ungerechtfertigt beschränken.

Vgl. EuGH, Urteil vom 23. Oktober 2007, a.a.O., Rdnrn. 25 bis 28.

Hiervon ausgehend greift das Erfordernis besonderer Umstände des Einzelfalls nach § 6 Satz 1 BAföG in das Recht des Klägers nach Art. 18 Abs. 1 EG ein, sich in Frankreich (weiterhin) aufzuhalten. Dieses Erfordernis knüpft allein an den Umstand an, dass sich ein Auszubildender in einen anderen EG-Mitgliedstaat begeben hat und sich dort aufhält. Der Kläger weist zu Recht darauf hin, dass er, hätte er zum Zeitpunkt seines Antrags auf Ausbildungsförderung seinen ständigen Wohnsitz in Deutschland gehabt, einen Anspruch auf Gewährung von Ausbildungsförderung für sein Studium in Frankreich gehabt hätte. Denn nach § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BAföG in der zum Zeitpunkt des Antrags des Klägers auf Ausbildungsförderung geltenden Fassung vom 19. März 2001, BGBl. I S. 390, soweit sie durch das oben zitierte Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 23. Oktober 2007 für gemeinschaftsrechtskonform erachtet wurde (vgl. auch die daraufhin geänderte Fassung vom 23. Dezember 2007, BGBl. I S. 3254), wird Auszubildenden, die ihren ständigen Wohnsitz im Inland haben, Ausbildungsförderung für den Besuch einer im Ausland gelegenen Ausbildungsstätte geleistet, wenn u.a. eine Ausbildung an einer Ausbildungsstätte in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union aufgenommen oder fortgesetzt wird. Danach hätte der Kläger, um Ausbildungsförderung für sein Studium in Frankreich erhalten zu können, von vornherein auf einen ständigen Wohnsitz im EG-Ausland verzichten oder seinen ständigen Wohnsitz von Frankreich nach Deutschland verlegen müssen. Ein derartiges Vorgehen wäre indes für den Betroffenen mit persönlichen Unannehmlichkeiten, zusätzlichen Kosten und etwaigen Verzögerungen verbunden, weshalb das Erfordernis besonderer Umstände des Einzelfalls nach § 6 Satz 1 BAföG zum einen geeignet ist, Deutsche von vornherein davon abzuhalten, sich in einen anderen EG-Mitgliedstaat zu begeben und dort einen ständigen Wohnsitz zu begründen, und zum anderen, Deutsche mit ständigem Wohnsitz in einem anderen EG-Mitgliedstaat davon abzuhalten, sich dort weiterhin aufzuhalten. Damit bewirkt das Erfordernis besonderer Umstände des Einzelfalls nach § 6 Satz 1 BAföG eine Situation, wie sie der Europäische Gerichtshof für eine Beschränkung des Rechts nach Art. 18 Abs. 1 EG für ausreichend erachtet hat.

Vgl. EuGH, Urteil vom 23. Oktober 2007, a.a.O., Rdnr. 30.

Die danach vorliegende Beschränkung des Rechts nach Art. 18 Abs. 1 EG ist gemeinschaftsrechtlich nicht gerechtfertigt.

Hierfür ist zu Grunde zu legen, dass die Mitgliedstaaten der europäischen Gemeinschaft nach Art. 149 Abs. 1 EG für die Lehrinhalte und die Gestaltung ihrer jeweiligen Bildungssysteme zuständig sind, diese Zuständigkeit jedoch unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts ausgeübt werden muss.

Vgl. EuGH, Urteil vom 13. November 1990 - C-308/98 -, "di Leo", Rdnrn. 14 f., EuZW 1991, 38 = NVwZ 1991, 155.

Nach dem Gemeinschaftsrecht lässt sich eine Beschränkung des durch Art. 18 Abs. 1 EG verliehenen Rechts nur rechtfertigen, wenn sie auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen des Allgemeininteresses beruht, die in angemessenem Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht legitimerweise verfolgten Zweck stehen, wobei eine Maßnahme dann verhältnismäßig ist, wenn sie zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet ist und nicht über das hinausgeht, was dazu notwendig ist.

Vgl. EuGH, Urteil vom 18. Juli 2006 - C-406/04 -, "de Cuyper", Rdnrn. 33 und 42, EuZW 2006, 500 = NVwZ 2006, 1037.

Ein dementsprechend mit dem Erfordernis besonderer Umstände des Einzelfalls nach § 6 Satz 1 BAföG in verhältnismäßiger Weise verfolgter legitimer Zweck ist nicht ersichtlich.

Nach Tz. 6.0.10 Satz 2 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Bundesausbildungsförderungsgesetz sind Auszubildende mit ständigem Wohnsitz in einem ausländischen Staat vorrangig auf die Durchführung der Ausbildung im Inland zu verweisen. Dies entspricht der Regelung des § 4 BAföG, wonach Ausbildungsförderung - vorbehaltlich der §§ 5 und 6 - für die Ausbildung im Inland geleistet wird. Danach dient das Erfordernis besonderer Umstände des Einzelfalls nach § 6 Satz 1 BAföG dazu, die Ausbildungsförderung im Grundsatz auf die Fälle zu begrenzen, in denen ein Auszubildender eine im Geltungsbereich des Bundesausbildungsförderungsgesetzes gelegene Ausbildungsstätte besucht, und den Besuch einer Ausbildungsstätte im Ausland nur in denjenigen (Härte-)Fällen zu fördern, in denen dem Auszubildenden der Besuch einer Ausbildungsstätte im Geltungsbereich des Bundesausbildungsförderungsgesetzes nicht möglich oder nicht zuzumuten ist.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 10. Juli 1992 - 5 B 88.92 -, NVwZ 1992, 1205, mit weiteren Nachweisen, insbesondere BT-Drucks. VI/1975 S. 24 zu § 6.

Dieser Zweck der Begrenzung der Ausbildungsförderung für den Besuch im Ausland gelegener Ausbildungsstätten auf Härtefälle vermag die Beschränkung des durch Art. 18 Abs. 1 EG verliehenen Rechts nicht zu rechtfertigen.

Rein wirtschaftliche Motive wie etwa das Anliegen, die öffentlichen Haushalte nicht über Gebühr zu belasten und aus diesem Grund den Personenkreis der Anspruchsberechtigten einzugrenzen, scheiden als Rechtfertigung von vornherein aus. Denn nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs können rein wirtschaftliche Motive keine zwingenden Gründe des Allgemeininteresses darstellen, die eine Beschränkung einer vom Vertrag garantierten Grundfreiheit rechtfertigen könnten.

Vgl. EuGH, Urteil vom 17. März 2005 - C-109/04 - "Kranemann", Rdnr. 34, EuZW 2005, 305 = NJW 2005, 1481 = DVBl. 2005, 633; VG Aachen, Beschluss vom 15. November 2006 - 10 K 615/06 -, juris.

Allerdings hat der Europäische Gerichtshof anerkannt, dass es legitim sein kann, wenn ein Mitgliedstaat Begrenzungen bei der Gewährung von Sozialleistungen vorsieht, um zu verhindern, dass die Gewährung von Beihilfen zur Deckung des Unterhalts von Studenten aus anderen Mitgliedstaaten zu einer übermäßigen Belastung wird, die Auswirkungen auf das gesamte Niveau der Beihilfe haben könnte, die dieser Staat gewähren kann.

Vgl. EuGH, Urteil vom 15. März 2005 - C-209/03 - "Bidar", Rdnrn. 56 f., EuZW 2005, 276 = NJW 2005, 2055.

Dabei können entsprechende Erwägungen grundsätzlich auch für die Gewährung von Ausbildungsförderung durch einen Mitgliedstaat an Studierende gelten, die ein Studium in anderen Mitgliedstaaten absolvieren möchten, wenn die Gefahr einer solchen übermäßigen Belastung besteht.

Vgl. EuGH, Urteil vom 23. Oktober 2007, a.a.O., Rdnr. 44.

Anhaltspunkte für eine derartige übermäßige Belastung liegen indes nicht vor. Insbesondere ist nicht erkennbar, dass etwa der Zahl derjenigen Deutschen, die ihren ständigen Wohnsitz im Ausland haben, eine dort gelegene Ausbildungsstätte besuchen und hierfür Ausbildungsförderung beantragen, ein derart großes Gewicht zukäme, dass sie ohne eine gesetzliche Begrenzung der Ausbildungsförderung auf Härtefälle übermäßige Auswirkungen auf das gesamte Niveau der Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz haben könnte. Auch wenn die Gesamtzahl der Auszubildenden, die Ausbildungsförderung nach § 5 Abs. 2 und § 6 BAföG für eine Ausbildung im Ausland erhalten, seit dem Wegfall der sogenannten Orientierungsphase nach § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BAföG a.F. im Zuge des 22. Gesetz zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (vom 23. Dezember 2007, BGBl. I S. 3254) sehr stark angestiegen ist, spricht schon die Zahl von insgesamt 18.453 im Jahr 2008 geförderten Auszubildenden, die eine Ausbildungsstätte in einem anderen EG-Mitgliedstaat besuchen, gegenüber der Gesamtzahl der im genannten Jahr geförderten Studierenden von ca. 333.000,

vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung, Achtzehnter Bericht nach § 35 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes zur Überprüfung der Bedarfssätze, Freibeträge sowie Vomhundertsätze und Höchstbeträge nach § 21 Abs. 2, Seiten 10, 23, www.bmbf.de,

gegen die Annahme übermäßiger Auswirkungen im oben genannten Sinn.

Ein mit dem Erfordernis besonderer Umstände des Einzelfalls nach § 6 Satz 1 BAföG in verhältnismäßiger Weise verfolgter legitimer Zweck lässt sich auch nicht daraus herleiten, dass der Europäische Gerichtshof das Anliegen des nationalen Gesetzgebers als legitim anerkannt hat, sich in Verbindung mit einem Überbrückungsgeld, das den Schulabgängern den Übergang von der Ausbildung zum Arbeitsmarkt erleichtern soll, eines tatsächlichen Zusammenhangs zwischen demjenigen, der Überbrückungsgeld beantragt, und dem betroffenen räumlichen Arbeitsmarkt vergewissern zu wollen.

Vgl. EuGH, Urteil vom 11. Juli 2002 - C-224/98 - "D’Hoop", EuZW 2002, 635 = DÖV 2002, 1037.

Dieses Anliegen wäre bezogen auf Fälle der vorliegenden Art schon deshalb nicht berechtigt, weil ein Student mit den im Rahmen seines Studiums erworbenen Kenntnissen und Fähigkeiten im Allgemeinen nicht für einen bestimmten räumlichen Arbeitsmarkt vorgesehen ist.

Vgl. VG Aachen, Beschluss vom 22. November 2005, a.a.O.

Weitere legitime Zwecke, die die festgestellte Beschränkung des durch Art. 18 Abs. 1 EG verliehenen Rechts rechtfertigen könnten, sind nicht ersichtlich. Daher ist das Gericht davon überzeugt, dass Art. 18 Abs. 1 EG dem Erfordernis besonderer Umstände des Einzelfalls nach § 6 Satz 1 BAföG entgegensteht.

Ist eine Norm des nationalen Rechts mit Gemeinschaftsrecht unvereinbar, führt dies nicht zu ihrer Nichtigkeit, sondern zu ihrer Unanwendbarkeit. Die Bestimmungen des EG-Vertrages und die anderen unmittelbar geltenden Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane haben Vorrang vor dem internen Recht der Mitgliedstaaten. Dieser Anwendungsvorrang beruht auf dem Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes zum EG-Vertrag und ist durch Art. 23 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich legitimiert.

Vgl. BVerfG Beschluss vom 22. Oktober 1986 - 2 BvR 197/83 - "Solange II", BVerfGE 73, 339 (387).

Der Vorrang führt dazu, dass ein nationales Gericht verpflichtet ist, nationales Recht, soweit es dem EG-Recht widerspricht, außer Anwendung zu lassen. Es bedarf dazu keiner vorherigen Beseitigung der gemeinschaftsrechtswidrigen Vorschrift durch den Gesetzgeber oder in einem gerichtlichen Verfahren.

Vgl. EuGH, Urteil vom 7. Februar 1991 - C-184/89 - "Nimz", EuZW 1991, 217 = NJW 1991, 2207; BVerfG, Beschlüsse vom 18. November 2008 - 1 BvL 4/08 -, juris, und vom 8. April 1987 - 2 BvR 687/85 -, BVerfGE 75, 223 (244).

Die Nichtanwendung des Erfordernisses besonderer Umstände des Einzelfalls nach § 6 Satz 1 Bafög führt im vorliegenden Fall zu der Verpflichtung des Beklagten, dem Kläger die begehrte Ausbildungsförderung in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Da weitere Umstände, die einer Gewährung der Ausbildungsförderung entgegenstehen könnten, weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich sind, kann der Kläger vom Beklagten die Ausbildungsförderung dem Grunde nach beanspruchen.

Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nach § 188 Satz 2 VwGO nicht erhoben werden, hat der Beklagte zu tragen, weil er unterlegen ist. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Die Berufung wird nach § 124 a Abs. 1 VwGO aus dem in § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO genannten Grund zugelassen.