VG Minden, Urteil vom 19.08.2008 - 1 K 1671/07
Fundstelle
openJur 2011, 58489
  • Rkr:
Tenor

Die der Beigeladenen vom Beklagten am 21.09.1999 erteilte Baugenehmigung zur Nutzungsänderung von Wohnräumen in Sozialräume sowie zur Errichtung eines Lagerplatzes auf dem Grundstück Gemarkung O. , Flur 8, Flurstücke 282 und 283 wird aufgehoben.

Der Beklagte und die Beigeladene tragen die Gerichtskosten und die außergerichtlichen Kosten des Klägers je zur Hälfte. Ihre außergerichtlichen Kosten tragen der Beklagte und die Beigeladene jeweils selbst.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Dem jeweiligen Vollstreckungsschuldner wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des vollstreckbaren Betrags abzuwenden, soweit nicht der Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in Höhe von 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

Der Kläger ist Eigentümer des mit einem Wohnhaus bebauten Grundstücks Gemarkung O1. , Flur 8, Flurstück 15, C.-----weg 6. Nördlich und östlich des Grundstücks schließt sich jeweils Wohnbebauung an, südlich und westlich grenzt das Grundstück an das Betriebsgelände der Fa. F. L. GmbH, O2. N. , die gegenwärtig von der Beigeladenen betrieben wird.

Das Grundstück des Klägers und das der Beigeladenen liegen im Bereich des seit dem 30.07.1973 rechtsverbindlichen Bebauungsplans Nr. 203 "T.--straße " der Stadt S. . Für das Grundstück des Klägers und das Gelände des Betriebs der Beigeladenen weist der Bebauungsplan unterschiedliche Festsetzungen auf. Für das Grundstück des Klägers sowie die nördlich, westlich und östlich angrenzende, umliegende Wohnbebauung setzt der Bebauungsplan eine Nutzung als Gewerbegebiet fest, ergänzt durch die textliche Festsetzung, dass in diesem Bereich "nur Büro-, Geschäfts-, Verwaltungs- und Sozialgebäude, dazu allgemein Wohnungen für Aufsichts- und Bereitschaftspersonen sowie Betriebsinhaber und Betriebsleiter zulässig" sind. In diesem Bereich liegt auch - westlich des Grundstücks des Klägers - auf dem Flurstück 282 ein Gebäude, das zum Betrieb der Beigeladenen gehört. Das heutige Flurstück 283, das südlich des Grundstücks des Klägers liegt, weist der Bebauungsplan im Wesentlichen als Industriegebiet aus. Der Plan enthält diesbezüglich noch die textliche Festsetzung, dass das Industriegebiet für den dort ansässigen Betrieb (Fa. F. L. oder evtl. Rechtsnachfolger) ausgewiesen ist und dass eine Erweiterung oder Änderung des Betriebs im Rahmen der wirtschaftlichen Entwicklung zulässig ist, soweit der Emissionsschutz gewahrt werden kann. Für die zwischen diesem Bereich, dem eingeschränkten Gewerbegebiet im Norden und dem Industriegebiet im Süden, bestehende Freifläche - auf den Flurstücken 282 und 283 - sieht der Bebauungsplan als Festsetzung die Anpflanzung von standortgerechten, hochwachsenden Gehölzen nicht unter zwei Metern vor. Diese Bepflanzung soll - ausweislich der Begründung des Bebauungsplans - "zur Vermeidung bzw. Milderung der vom Gewerbegebiet ausgehenden Immissionen" dienen.

Auf einen Hinweis des Klägers im Juli 1998 stellte der Beklagte fest, dass die Beigeladene ein auf dem Betriebsgelände befindliches Wohngebäude als Sozialgebäude (Umkleiden und Duschen) nutzte, und dass sie einen im Bebauungsplan für die Anpflanzung von Gehölzen vorgesehenen Teil des Geländes als Stellfläche für Pkw und als Lagerplatz nutzte.

Zur Legalisierung dieses bestehenden Zustandes stellte die Fa. X. G. GmbH & Co. KG daraufhin einen entsprechenden Bauantrag für die Nutzungsänderung des Gebäudes und die Errichtung des Lagerplatzes.

Unter dem 21.09.1999 erteilte der Beklagte der Fa. X. G. GmbH & Co. KG die beantragte Baugenehmigung. Er genehmigte bezüglich des betreffenden Gebäudes auf dem Flurstück 282 die Änderung der Nutzung von Wohn- zu Sozialräumen und die Errichtung eines Lagerplatzes auf der Freifläche des Flurstückes 283. Für diese Freifläche, für die der Bebauungsplan ein Anpflanzungsgebot vorsieht, erteilte der Beklagte im Rahmen dieser Genehmigung auch die Befreiung gem. § 31 Abs. 2 BauGB von den Festsetzungen des Bebauungsplans. Zuvor hatte das Staatliche Umweltamt Bielefeld keine immissionsschutzrechtlichen Bedenken gegen die Befreiung geäußert; eine spätere Stellungnahme des Staatlichen Amtes für Umwelt und Arbeitsschutz OWL vom 22.06.2006 bestätigte dieses Ergebnis: Die Immissionen würden durch den Verzicht auf die Anpflanzungen nicht beeinflusst. Die Befreiung von den Festsetzungen des Anpflanzgebots verband der Beklagte mit der Auflage, dass der Lagerplatz durch einen mindestens fünf Meter breiten Pflanzstreifen - bestehend aus standortgerechten, hochwachsenden Gehölzen - vom C.-----weg und von dem Grundstück des Klägers zu trennen sei. Mit dem Kläger wurde diese Befreiung nicht abgestimmt.

Ob der Kläger in der Folgezeit eine Umsetzung dieser die Nutzungsänderungen gestattenden Genehmigung hat feststellen und erkennen können, ist zwischen dem Kläger und dem Beklagten ebenso streitig wie die Frage, ob der Beklagte den Kläger bereits 2005 anlässlich telefonischer Nachfragen seitens des Klägers über die erteilte Baugenehmigung und die damit verbundene Befreiung vom Anpflanzungsgebot informiert hat.

Mitte Mai 2006 fand in der Wohnung des Klägers ein Gespräch statt, an dem neben dem Kläger, seiner Ehefrau und seinem Sohn sowie eines Nachbarn auch der zuständige Vertreter des Beklagten, der Amtsleiter der Bauaufsicht, teilnahm. Im Rahmen dieses Gesprächs sicherte der Amtsleiter der Bauaufsicht dem Kläger nach dessen Darstellung zu, dass ein Rechtsmittel für den Kläger erst zu laufen beginne, wenn er eine Durchschrift der Baugenehmigung erhalten habe.

Bereits mit Schreiben vom 29.04.2005 hatte der Beklagte der Eigentümerin des Grundstücks, der Fa. F. L. GmbH, O3. N. , mitgeteilt, dass es eine Nachbarbeschwerde gegeben habe, die die Nichterfüllung der Auflage zur Baugenehmigung vom 21.09.1999 gerügt habe.

Auf Bitten des Klägers übersandte der Beklagte diesem mit Schreiben vom 30.08.2006 eine Kopie der Baugenehmigung vom 21.09.1999. Das Schreiben war nicht mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen.

Mit Schreiben vom 04.10.2006 wandte sich der Kläger an den Beklagten und teilte ihm seine Bedenken hinsichtlich der Baugenehmigung mit. Er machte geltend, dass durch die Nutzungsänderung die Betriebsfläche der Eisengießerei zum Nachteil seines Grundstücks und der darauf befindlichen Wohnbebauung erheblich erweitert werde, zumal die in der Auflage der Baugenehmigung vorgesehenen Anpflanzungen auf ein Minimum beschränkt seien. Zudem widersprächen die Nutzungsänderungen den Festsetzungen des Bebauungsplanes Nr. 203; und die nach § 31 Abs. 2 BauGB erteilte Befreiung decke nicht die Abweichung von dessen Festsetzungen des Bebauungsplans. Durch die Nutzungsänderung seien außerdem wegen eines Verstoßes gegen das Gebot der Rücksichtnahme seine nachbarlichen Interessen verletzt. Er bat den Beklagten zugleich um eine Lösung der bestehenden Konfliktsituation.

Ein von dem Beklagten dazu mit allen Beteiligten - neben dem Kläger und dem Beklagten waren auch Vertreter der O3. N. F. L. GmbH und der Beigeladenen anwesend - am 01.12.2006 durchgeführtes Gespräch blieb ohne Erfolg. Die Beteiligten konnten sich nicht auf die Kostentragung eines Lärmgutachtens einigen, das die Möglichkeit und Erforderlichkeit einer Lärmschutzwand beurteilen sollte.

Unter dem 01.03.2007 forderte der Kläger den Beklagten auf, schallschützende Maßnahmen an den Betriebsgebäuden der Beigeladenen zu veranlassen.

Am 10.08.2007 hat der Kläger Klage erhoben. Er macht geltend, er habe eine Realisierung der Baugenehmigung durch die Beigeladene nicht erkennen können, da diese lediglich ihre zuvor begonnenen - damals illegalen - Nutzungen fortgesetzt habe. Er habe durch die Fortsetzung der Nutzung seitens der Beigeladenen von der Erteilung der Baugenehmigung keine Kenntnis gehabt und hätte eine Kenntnis auch nicht haben müssen. Er behauptet, dass die vom Beklagten angeführten Telefonate im Jahre 2005 nicht von ihm, sondern von seinem Sohn mit dem Beklagten geführt worden seien. Diese Gespräche habe sein Sohn auch nicht als sein Vertreter geführt. Er bestreite auch, dass der Beklagte seinem Sohn anlässlich eines Telefonats vom 21.03.2005 mitgeteilt habe, dass eine Baugenehmigung und eine Befreiung erteilt worden seien. Erstmals durch Übersendung der Kopie der Baugenehmigung durch das Schreiben des Beklagten vom 30.08.2006 habe er gesicherte Kenntnis von der Baugenehmigung und der Befreiung erhalten. Er sei daher der Auffassung, dass eine Rechtsbehelfsfrist erst ab diesem Zeitpunkt beginnen konnte. Auch für die Beurteilung, ob er sein Klagerecht verwirkt habe, sei dieser Zeitpunkt maßgeblich.

Der Kläger beantragt,

die der Beigeladenen am 21.09.1999 erteilte Baugenehmigung zur Nutzungsänderung von Wohnräumen in Sozialräume sowie zur Errichtung eines Lagerplatzes aufzuheben.

Der Beklagte und die Beigeladene beantragen,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte behauptet, der Kläger habe sich mehrfach - u. a. am 21.03.2005 und am 17.05.2005 - telefonisch nach dem Verfahrensstand des ordnungsbehördlichen Verfahrens erkundigt. Anlässlich dieser Telefonate habe er den Kläger im Gespräch vom 21.05.2005 über die am 21.09.1999 erteilte Baugenehmigung informiert und ihm auf Nachfrage auch mitgeteilt, dass der Beigeladenen bezüglich des Anpflanzungsgebots auf der Freifläche eine Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans erteilt worden sei. Er sei daher der Auffassung, dass die Klage bereits unzulässig sei. Denn der Kläger habe bereits am 21.03.2005 von der Baugenehmigung erfahren, so dass der Kläger seine Klage erst nach über zwei Jahren nach gesicherter Kenntnis von der erteilten Baugenehmigung erhoben habe und die Klage somit wegen Verwirkung des Klagerechts unzulässig sei. Die Klage sei aber auch unbegründet. Zum einen verstoße die Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans nach § 31 Abs. 2 BauGB nicht gegen nachbarschützende Vorschriften. Die Befreiung vom Anpflanzungsgebot sei städtebaulich vertretbar und mit den öffentlichen Belangen und insbesondere den nachbarlichen Interessen vereinbar. Von der nun als Lagerfläche genutzten Freifläche gingen keine verstärkten Störungen des Nachbarn aus, zumal die Befreiung nicht vollständig den im Bebauungsplan vorgesehenen Grünstreifen entferne, sondern die Baugenehmigung in einer Auflage einen fünf Meter breiten Pflanzstreifen mit standortgerechten, hochwachsenden Gehölzen vorsehe. Auch die Genehmigung der Änderung der Nutzung des auf dem Grundstück des Beigeladenen befindlichen Wohngebäudes für soziale Zwecke sei rechtmäßig. Die Nutzung als Sozialräume sei in einem Gewerbegebiet - wie es der Bebauungsplan für den betroffenen Bereich vorsehe - grundsätzlich zulässig und führe nicht zu einer Störung des Nachbarn.

Der Berichterstatter hat die Örtlichkeit anlässlich eines Erörterungstermins in Augenschein genommen. Wegen des Ergebnisses wird auf das Protokoll vom 13.03.2008 verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.

Gründe

Die Klage ist zulässig und begründet. Die angefochtene Baugenehmigung des Beklagten vom 21.09.1999 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Dem Kläger steht ein baunachbarliches Abwehrrecht gegen die angefochtene Baugenehmigung zu, denn die Genehmigung verstößt gegen öffentlichrechtliche Vorschriften, die auch seinem Schutz als Nachbarn dienen.

Die Klage ist zulässig.

Der Kläger musste vor der Erhebung seiner Klage kein Vorverfahren nach § 68 Abs. 1 VwGO durchführen. Nach § 3 Nr. 6 Satz 1 Nr. 6 des Gesetzes zum Bürokratieabbau in der Modellregion Ostwestfalen-Lippe (Bürokratieabbaugesetz OWL), geändert durch das Gesetz zur Änderung des Gesetzes zum Bürokratieabbau in der Modellregion Ostwestfalen-Lippe (Ergänzungsgesetz OWL) muss ein Vorverfahren i. S. d. § 68 VwGO bei Verwaltungsakten, die von einer Bauaufsichts- oder Baugenehmigungsbehörde nach dem 18.05.2005 dem jeweiligen Adressaten bekanntgegeben worden sind, nicht durchgeführt werden. Die streitgegenständliche Baugenehmigung vom 21.09.1999 ist ein Verwaltungsakt, der vom Beklagten als Baugenehmigungsbehörde erlassen wurde. Dieser Verwaltungsakt ist dem Kläger nicht vor dem 18.05.2005 wirksam bekanntgegeben worden.

Eine Bekanntgabe i. S. d. § 41 Abs. 1 VwVfG NRW bedeutet die mit dem Willen und Wissen der erlassenden Behörde erfolgende Eröffnung eines Verwaltungsaktes - d. h. die Mitteilung der Tatsache des Ergehens und des Inhalts des Verwaltungsaktes - gegenüber dem Betroffenen. Dem Kläger gegenüber wurde die Tatsache des Ergehens und der Inhalt der Baugenehmigung möglicherweise telefonisch oder anlässlich eines Gesprächs in der Wohnung des Klägers mit einem Vertreter des Beklagten mitgeteilt. Für die Bekanntgabe von bauaufsichtsrechtlichen Verwaltungsakten wie der streitgegenständlichen Baugenehmigung ist nach §§ 12 Abs. 2, 20 Abs. 1 OBG NRW i. V. m. § 60 Abs. 2 Satz 1 BauO NRW die Schriftform vorgesehen. Daher stellte weder eine telefonische Mitteilung von der Baugenehmigung noch ein Gespräch in der Wohnung des Klägers Mitte Mai 2006 eine wirksame Bekanntgabe i. S. d. § 41 VwVfG NRW dar, da sie nicht in der vorgeschriebenen Form erfolgt sind. Denn wenn die Bekanntgabe in einer anderen als der vorgeschriebenen Form erfolgt, ist sie unwirksam.

Vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 41 Rdnr. 25.

Die Übersendung der Kopie der Baugenehmigung mit Schreiben vom 30.08.2006 durch den Beklagten wahrte hingegen die Schriftform und bedeutet damit eine wirksame Bekanntgabe; diese erfolgte aber erst nach dem 18.05.2005, so dass es eines Vorverfahrens nicht mehr bedurfte.

Die Klage ist auch nicht wegen Verwirkung unzulässig. Eine Verwirkung des Klagerechts tritt ein, wenn die späte Klageerhebung gegen Treu und Glauben und das öffentliche Interesse am Rechtsfrieden verstößt. Dies ist der Fall, wenn der Kläger eine Klage, obwohl er von dem für die Klageerhebung maßgeblichen Sachverhalt bereits längere Zeit Kenntnis hatte oder hätte haben müssen, erst zu einem Zeitpunkt erhebt, zu dem der Beklagte oder ein anderer Beteiligter nicht mehr mit einer Klage rechnen musste, d. h. darauf vertrauen durfte, dass keine Klage mehr erhoben wird.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 25.01.1974 - IV C 2.72 -, BVerwGE, 294 ff. = NJW 1974, 1270 ff. = BRS 28, 285 ff. ‚= BauR 1974, 401; Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl. 2007, § 74 Rdnr. 19.

Die Verwirkung setzt demnach eine Kenntnis des Klägers von dem von ihm anzugreifenden Verwaltungsakt und ein in Kenntnis des Verwaltungsakts gezeigtes Verhalten voraus, durch das der Kläger beim Beklagten und bei sonst einem durch den Verwaltungsakt Begünstigten eine Vertrauensgrundlage dafür geschaffen hat, dass mit einer Klage von ihm nicht mehr zu rechnen sei.

Vgl. Brenner in: Sodann/Ziekow, VwGO, § 74 Rdnr. 57, 63.

Der Kläger hatte noch nicht z. Zt. des Erlasses der Baugenehmigung im Jahre 1999 Kenntnis von dieser. Ihm wurde weder eine Durchschrift der Genehmigung übergeben noch wurde er damals auf andere Weise von dem Erlass der Baugenehmigung unterrichtet. Der Kläger hätte zu dieser Zeit auch keine Kenntnis von der Baugenehmigung haben müssen. Das Kennenmüssen einer Baugenehmigung ist in der Regel dann gegeben, wenn sich dem Nachbarn der Erlass einer Genehmigung förmlich aufdrängen muss und er sich durch etwaige Nachfragen beim Bauamt oder beim Bauherrn Gewissheit verschaffen kann. Das ist regelmäßig dann der Fall, wenn für einen Nachbarn aufgrund von Bauarbeiten oder sonstigen Verhaltensweisen des von der Genehmigung Begünstigten deutlich wird, dass dieser von einer ihm erteilten Genehmigung Gebrauch macht.

Für den Kläger war ein solches Gebrauchmachen von der Baugenehmigung jedoch nicht deutlich erkennbar. Zwar wurde das Wohnhaus - entsprechend der Baugenehmigung - als Sozialgebäude und die Freifläche als Lagerplatz genutzt. Aus dieser Nutzungsänderung war für den Kläger jedoch nicht zwingend der Rückschluss zu ziehen, dass eine die Nutzungsänderungen gestattende Baugenehmigung vorlag. Denn bereits vor der Erteilung nutzte die Beigeladene das Wohngebäude als Sozialgebäude und die Freifläche als Lagerplatz. Auf Grund dieser vorherigen illegalen Nutzungen musste sich dem Kläger eine spätere Legalisierung durch eine Baugenehmigung nicht aufdrängen. Vielmehr war auch der Rückschluss möglich, dass die Behörde trotz seines Hinweises nicht eingeschritten war und dass die Beigeladene sich über ein behördliches Einschreiten hinweggesetzt hatte.

Ab welchem Zeitpunkt der Kläger zuverlässig Kenntnis von einer erteilten Baugenehmigung hatte, ob dies - was vom Kläger bestritten wird - seit März 2005 oder erst später der Fall war, lässt die Kammer offen. Eine Verwirkung der Rechte des Klägers kann nämlich keinesfalls angenommen werden. Der Kläger hat sich ab Mitte 2005 des Öfteren dem Beklagten gegenüber darüber beschwert, dass die Vorgaben des Bebauungsplans von der Beigeladenen nicht eingehalten werden. Der Kläger hat den Beklagten auf den aus seiner Sicht vorliegenden Missstand aufmerksam gemacht und der Beklagte hat auch gegenüber der Beigeladenen darauf gedrängt, den in der Nutzungsänderungsgenehmigung vom 21.09.1999 zur Bepflanzung festgesetzten Fünf-Meter-Streifen entlang der Grenze zum Grundstück des Klägers einzugrünen. Auch wenn der Kläger möglicherweise nicht sofort darauf hingewiesen hat, dass er sich eine Klage gegen die Baugenehmigung vorbehalte, so musste doch sowohl dem Beklagten als auch der Beigeladenen klar sein, dass sich der Kläger mit dem gegebenen bzw. genehmigten Zustand nicht abfinden werde. Auch aus der Tatsache, dass unter den Beteiligten immer wieder verhandelt worden ist, um eine zufriedenstellende Lösung zu finden, etwa in Form einer Lärmschutzwand, konnten weder der Beklagte noch die Beigeladene den Schluss ziehen, der Kläger akzeptiere mindestens die Nutzungsänderungsgenehmigung für den Lagerplatz mit dem Fünf-Meter-Standstreifen und die Nutzungsänderung des Wohngebäudes in ein Sozialgebäude.

Auf Seiten der Beigeladenen kommt hinzu, dass eine Verwirkung den Bauherrn davor schützen soll, unnützige Investitionen zu tätigen. Der Nachbar darf nicht abwarten, bis vollendete Tatsachen aufseiten des Bauherrn geschaffen und dieser weitere Vermögensdispositionen getroffen hat, um dann später diese Vermögensdispositionen infrage zu stellen. Die Beigeladene hat aber keine Vermögensdispositionen getroffen. Das zur Anpflanzung ursprünglich vorgesehene Grundstück ist von ihr immer als Lagerplatz genutzt worden. Ebenso verhält es sich mit dem Wohnhaus, das ohne vorherige Nutzungsänderungsgenehmigung in ein Sozialgebäude umgewandelt worden ist. Wirtschaftlicher Schaden ist der Beigeladenen durch die relativ späte Klageerhebung des Klägers nicht entstanden. Nach Abwägung aller Umstände ist daher nicht von einer Verwirkung des Klagerechts durch den Kläger auszugehen.

Die damit zulässige Klage ist auch begründet. Der Kläger wird durch die Nutzungsänderungsgenehmigung und die Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplanes in nachbarlichen Rechten verletzt.

Die Klage ist zunächst hinsichtlich der in der Baugenehmigung vom 21.09.1999 gestatteten Änderung der Nutzung des Gebäudes auf dem Flurstück 282 von der Wohn- zur Sozialnutzung begründet. Denn diese Nutzungsänderung verstößt gegen nachbarschützende Vorschriften. Sie widerspricht den Festsetzungen des Bebauungsplanes Nr. 203 "T.--straße ". Dieser sieht für das Flurstück 282 ein Gewerbegebiet vor, wobei nach den textlichen Festsetzungen nur Büro-, Geschäfts-, Verwaltungs- und Sozialgebäude zulässig sind. Mit dieser Festsetzung ist die Art der genehmigten Nutzung nicht vereinbar. Die Festsetzung der Art der baulichen Nutzung entfaltet nachbarschützende Wirkung, denn die Festsetzungen hinsichtlich der Art verleihen dem Nachbarn ein subjektives öffentliches Recht. Die nachbarschützenden Festsetzungen bezüglich der Art der Nutzung werden von der genehmigten Nutzung verletzt. Bei der Frage der planungsrechtlichen Zulässigkeit der Art der Nutzung des betreffenden Gebäudes kommt es dabei auf die planungsrechtliche Zulässigkeit des (Haupt-)Betriebes, dem die Umkleide- und Duschräume dienen sollen, an.

Vgl. hierzu: BVerwG, Urteil vom 15.11.1991 - 4 C 17/88 -, NVwZ-RR 1992, 402 ff.

Denn es handelt sich bei den genehmigten Umkleide- und Duschräumen um eine unselbständige Anlage zu dem Betrieb der Beigeladenen. Für die Annahme einer unselbständigen Anlage ist maßgeblich, dass die Anlage lediglich eine gegenüber dem Hauptbetrieb dienende Funktion hat.

BVerwG, Urteil vom 15.11.1991, a. a. O.

Dies ist bei den Umkleide- und Duschräumen der Fall. Sie sollen lediglich den im Betrieb der Beigeladenen Beschäftigten die Möglichkeit geben, sich "vor Ort" umzuziehen und zu duschen. Die sich daher nach dem (Haupt-)Betrieb der Beigeladenen zu beurteilende planungsrechtliche Zulässigkeit ist nicht gegeben. Bei dem Betrieb der Beigeladenen handelt es sich als N. um einen Gewerbebetrieb. Ein solcher ist nach den (textlichen) Festsetzungen des Bebauungsplanes jedoch auf dem betreffenden Flurstück 282 nicht zulässig. Dass lediglich die geänderte Nutzung des Wohngebäudes - also die unselbständige Anlage - Gegenstand der bauplanungsrechtlichen Überprüfung beim Antrag auf Genehmigung der Nutzungsänderung war, ist dabei unerheblich. Denn, ob ein Vorhaben, das zu einer Gesamtanlage gehört und sie erweitert oder ändert, bauplanungsrechtlich zugelassen werden darf, kann regelmäßig nicht isoliert, sondern nur unter Berücksichtigung der Gesamtanlage beurteilt werden.

So BVerwG, Urteil vom 15.11.1991, a. a. O.

Von diesen Festsetzungen des Bebauungsplans hat der Beklagte auch keine Befreiung i. S. d. § 31 Abs. 2 BauGB erteilt. Der Beklagte hat mit der Baugenehmigung vom 21.09.1999 nur bezüglich des Anpflanzungsgebots und der Errichtung des Lagerplatzes auf dem Flurstück 283 eine Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans gewährt, nicht jedoch für die Änderung der Nutzung des Gebäudes auf dem Flurstück 282. Eine solche Befreiung kann auch nicht darin gesehen werden, dass der Beklagte die Baugenehmigung erteilt und damit konkludent auch die Befreiung ausgesprochen hat. Denn § 31 Abs. 2 BauGB verlangt von der zuständigen Behörde eine umfassende Abwägung der Interessen des Bauherrn mit denen der Öffentlichkeit und der Nachbarn sowie eine Ermessensentscheidung, bei der die wesentlichen das Ermessen leitenden Erwägungen in der Begründung des Befreiungsbescheides ihren Niederschlag finden müssen.

Im Rahmen der gerichtlichen Prüfung der planungsrechtlichen Zulässigkeit der von der Baugenehmigung gestatteten Nutzungsänderung bezüglich des Gebäudes auf dem Flurstück 282 ist es auch unerheblich, ob von den Festsetzungen des Bebauungsplans rechtsfehlerfrei eine Befreiung erteilt werden könnte. Der Beklagte hat diese Befreiung nicht ausgesprochen und das Gericht ist nicht befugt, anstelle der Behörde diese Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB zu erteilen. Denn nach § 31 Abs. 2 BauGB ist die Erteilung einer Befreiung ins Ermessen der Bauaufsichtsbehörde gestellt. Diese Ermessensentscheidung darf nicht von dem Gericht vorgenommen werden, es sei denn, es liegt eine Ermessensreduzierung auf Null vor, d. h. jede andere Entscheidung als der Erlass der Befreiung wäre ermessensfehlerhaft. Dass jede andere Entscheidung als eine Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplanes ermessensfehlerhaft wäre, ist nicht erkennbar.

Die Klage ist auch begründet, soweit sie sich gegen die Genehmigung des Lagerplatzes und die Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplanes für diese Fläche richtet. Denn hinsichtlich der Nutzungsänderung auf dem Flurstück 283 verstößt die Baugenehmigung vom 21.09.1999 gegen nachbarschützende Vorschriften. Die mit der Baugenehmigung gestattete Nutzung des Flurstücks 283 als Lagerfläche mit einem fünf Meter breiten zu bepflanzenden Schutzstreifen zum Grundstück des Klägers hin widerspricht den Festsetzungen des Bebauungsplans. Dieser sieht für die Fläche des Lagerplatzes eine Freifläche mit standortgerechter, hochwachsender Bepflanzung vor.

Von den gültigen Festsetzungen des Bebauungsplanes konnte der Beklagte nicht, ohne nachbarliche Rechte des Klägers zu verletzen befreien. Nach § 31 Abs. 2 BauGB kann von den Festsetzungen eines Bebauungsplanes befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und Gründe des Wohls der Allgemeinheit die Befreiung erfordern oder die Abweichung städtebaulich vertretbar ist, oder die Durchführung des Bebauungsplans zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen würde und wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen nicht vor.

Es fehlt bereits daran, dass im vorliegenden Fall durch die Befreiung die Grundzüge der Planung berührt werden. Durch das Erfordernis der Wahrung der Grundzüge der Planung soll sichergestellt werden, dass die Voraussetzungen des Bebauungsplanes nicht beliebig durch Verwaltungsakte außer Kraft gesetzt werden können. Die Änderung eines Bebauungsplans obliegt nach den §§ 1 Abs. 8, 2 Abs. 1 BauGB der Gemeinde und nicht der Baugenehmigungsbehörde. Diese Regelung darf deshalb nicht durch eine großzügige Befreiungspraxis aus den Angeln gehoben werden. Ob die Grundzüge der Planung berührt werden, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab. Entscheidend ist, ob die Abweichung dem planerischen Grundkonzept zuwiderläuft. Je tiefer die Befreiung in das Interessengeflecht der Planung eingreift, desto eher liegt der Schluss auf eine Änderung der Plankonzeption nahe, die nur im Wege der Umplanung möglich ist. Die Befreiung kann nicht als Vehikel dafür herhalten, die von der Gemeinde getroffene planerische Regelung beiseite zu schieben.

Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 14.03.2007 - 8 S 1921/06 -, BauR 2007, 1687.

Vorliegend greift die Befreiung in die Grundzüge der Planung ein. Nach den Festsetzungen des Bebauungsplanes ist das Grundstück, auf dem die Beigeladene ihr Gewerbe betreibt, als Industriegebiet (GI) ausgewiesen. Nördlich des Industriegebietes, d. h. dem Betrieb der Beigeladenen, liegt ein eingeschränktes Gewerbegebiet, zu dem auch das Grundstück des Klägers gehört. Praktisch befinden und befanden sich in diesem Gebiet nur Wohnhäuser. Daher sind nach den Festsetzungen des Bebauungsplanes in dem als Gewerbegebiet bezeichneten Bereich nur Büro-, Geschäfts-, Verwaltungs- und Sozialgebäude, dazu allgemein Wohnungen für Aufsichts- und Bereitschaftspersonen sowie Betriebsinhaber und Betriebsleiter zulässig. Um die immissionsschutzrechtlichen Auswirkungen des Industriegebietes im Süden von dem eingeschränkten Gewerbegebiet im Norden - einem faktischen Wohngebiet - abzumildern, sieht der Bebauungsplan an der Schnittstelle, d. h. dem heutigen Flurstück 283 vor, dass dieser Bereich mit standortgerechten, hochwachsenden Gehölzen, nicht unter zwei Meter zu bepflanzen ist. Wenn der Beklagte nunmehr statt dieser umfangreichen Bepflanzung im Wege der Befreiung von der Beigeladenen nur noch verlangt, dass nur ein fünf Meter schmaler Streifen noch bepflanzt werden muss und die übrige Fläche nicht mehr als Schutzgürtel dienen soll, sondern sogar als Lagerfläche Bestandteil des Gewerbebetriebes sein darf, so läuft diese Abweichung dem planerischen Grundkonzept, das eine soweit wie mögliche Trennung zwischen dem Industriebetrieb und der Wohnnutzung vorsieht, zuwider.

Darüber hinaus sind auch die nachbarlichen Belange des Klägers beeinträchtigt. Auch wenn das Staatliche Amt für Umwelt und Arbeitsschutz OWL gegen den geplanten Verzicht des Beklagten auf die Anpflanzungspflicht auf dem Flurstück 283 aus der Sicht des Immissionsschutzes keine Bedenken geäußert hat, weil durch die vollständige Bepflanzung des Flurstücks angeblich keine Emissionen beeinflusst werden, so sind gleichwohl nachbarliche Belange des Klägers beeinträchtigt. Der im Bebauungsplan vorgesehene Grüngürtel zwischen dem Industriebetrieb des Beigeladenen und den nördlich angrenzenden Wohngrundstücken, wobei das Grundstück des Klägers am unmittelbarsten betroffen ist, sollte nicht nur den Zweck haben, Lärmimmissionen abzumildern, sondern auch Geruchs- und Staubeinwirkungen. Mindestens bezüglich der Staubimmissionen dürfte es einen Unterschied machen, ob ein 30 Meter breiter Grüngürtel angepflanzt wird oder lediglich ein fünf Meter breiter bepflanzter Schutzstreifen.

Zwischen dem Industriegebiet und den Wohnhäusern im Norden sollte aber gleichzeitig auch ein optisch wahrnehmbarer Abstand geschaffen werden. Wenn statt einer ca. 30 Meter breiten Anpflanzung von standortgerechten, hochwachsenden Gehölzen nicht unter zwei Meter Höhe nur ein fünf Meter breiter Schutzstreifen gepflanzt werden muss und der übrige Bereich zu einem zum Industriebetrieb gehörenden Lagerplatz erklärt wird, werden nachbarliche Belange des Klägers beeinträchtigt. Durch die Errichtung und Genehmigung des Lagerplatzes rückt der Industriebetrieb nicht nur faktisch näher an das Grundstück des Klägers heran, was durch die Festsetzungen des Bebauungsplanes gerade verhindert werden sollte. Der Kläger hat durch die fehlende Begrünung den Industriebetrieb auch ständig vor Augen. Die optische Trennung zwischen dem Industriebetrieb und den Wohnhäusern sollte offensichtlich ebenfalls dazu beitragen, die sich ergebenden Spannungen zwischen den unterschiedlichen Nutzungen abzubauen, denn wenn die Bewohner der Wohnhäuser den Industriebetrieb nicht ständig vor Augen haben, dürften sich die Spannungen, die sich aus den unterschiedlichen Nutzungen ergeben, eher verringern als vergrößern. Das aber war Planungsabsicht. Diese wird durch die Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans zu Lasten des Klägers aufgegeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und 3 VwGO. Die Entscheidungen über die vorläufige Vollstreckbarkeit und die Abwendungsbefugnis beruhen auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.