OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27.11.2007 - 17 B 1779/07
Fundstelle
openJur 2011, 53283
  • Rkr:
Verfahrensgang
Tenor

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,-- Euro festgesetzt.

Der Tenor soll den Beteiligten vorab per Fax bekannt gegeben werden.

Gründe

Die Beschwerde ist nicht begründet.

Die dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), geben keinen Anlass, den angefochtenen Beschluss abzuändern oder aufzuheben.

Mit dem angefochtenen Beschluss ist dem Antragsgegner vorläufig untersagt worden, die Antragsteller abzuschieben. Das Verwaltungsgericht hat die Entscheidung darauf gestützt, die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen an die Antragsteller sei auf der Grundlage der Altfallregelung des § 104 a AufenthG trotz der im Bundeszentralregister noch nicht getilgten Straftaten des Antragstellers zu 1. nicht ausgeschlossen. Das Beschwerdevorbringen rechtfertigt kein anderes Ergebnis.

Zu Recht wendet sich der Antragsgegner allerdings gegen die Auffassung des Verwaltungsgerichts, die zum Ausschluss nach § 104 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AufenthG führende Verurteilung wegen einer im Bundesgebiet begangenen vorsätzlichen Straftat müsse innerhalb der Voraufenthaltszeit des § 104 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG begangen worden sein. Diese Annahme findet im Gesetz keine Stütze. Verurteilungen wegen Straftaten sind grundsätzlich so lange zu beachten, bis sie durch Zeitablauf oder aufgrund einer Anordnung der Registerbehörde vorzeitig getilgt worden sind.

Vgl. Fehrenbacher, HTK-AuslR/§ 104a/zu Abs. 1 Nr.3.7; Nr. 1.1.5.3 der Anwendungshinweise des Innenministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen zu §§ 104a und 104b AufenthG vom 16. Oktober 2007.

Dies folgt bereits aus dem Wortlaut der Norm. Der mit der konditionalen Konjunktion „wenn" eingeleitete Nebensatz des § 104 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zählt die besonderen Erteilungsvoraussetzungen auf, von denen die Aufenthaltserlaubnis abhängig gemacht wird. Der erste Halbsatz definiert bezogen auf einen Stichtag die erforderliche Voraufenthaltszeit. Daran schließt sich der mit der Konjunktion „und" eingeleitete zweite Halbsatz an, der weitere Erteilungsvoraussetzungen aufzählt. Beide Nebensätze stehen gleichrangig nebeneinander und sind nicht aufeinander bezogen. Die Präsensform der unter Nr. 1 („über ... Wohnraum verfügt") und Nr. 2 („über .... Deutschkenntnisse ... verfügt") aufgeführten Voraussetzungen des zweiten Halbsatzes zeigt auf, dass diese nicht während der Voraufenthaltszeit, sondern gegenwärtig, d.h. im Zeitpunkt der Titelerteilung, vorliegen müssen. Dass für die sich anschließende, hier in Rede stehende laufende Nr. 6 („nicht wegen einer im Bundesgebiet begangenen vorsätzlichen Straftat verurteilt wurde") etwas anderes gelten soll, ist dem Wortlaut nicht zu entnehmen. Die Voraussetzung nach Nr. 6 ist in zeitlicher Hinsicht einschränkungslos formuliert. Sie knüpft allein an eine im Bundesgebiet begangene Straftat an und findet ihre äußerste Grenze allein an § 51 BZRG, wonach die Tat und die Verurteilung dem Betroffenen nach Ablauf der Tilgungsfrist im Rechtsverkehr nicht mehr vorgehalten und nicht zu seinem Nachteil verwertet werden darf.

Die Gesetzesmaterialien untermauern das Auslegungsergebnis. Mit der gesetzlichen Altfallregelung des § 104 a AufenthG soll dem Bedürfnis der seit Jahren im Bundesgebiet geduldeten und integrierten Ausländer nach einer dauerhaften Perspektive in Deutschland Rechnung getragen werden. Die als Erteilungsvoraussetzungen in § 104 a Abs. 1 AufenthG aufgeführten Kriterien sollen diejenigen begünstigen, die faktisch und wirtschaftlich integriert sind und sich rechtstreu verhalten haben.

Vgl. BT-Drucks. 16/5065, S. 201 und 202.

Für die Annahme, das vorausgesetzte rechtstreue Verhalten werde nur während der Voraufenthaltszeit eingefordert, finden sich in den Gesetzesmaterialien keinerlei Anhaltspunkte. Solche wären aber zu erwarten gewesen, wenn der Gesetzgeber von der im Ausländerrecht grundsätzlich angenommenen Verwertbarkeit noch nicht getilgter Straftaten,

vgl. Nr. 5.1.2.3 der Vorläufigen Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern zum Aufenthaltsgesetz und zum Freizügigkeitsgesetz/EU,

im Zusammenhang mit der Altfallregelung generell eine Ausnahme hätte machen wollen.

Schließlich sprechen Sinn und Zweck der Regelung, rechtstreues Verhalten zu begünstigen, gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts. Danach blieben selbst Straftaten von mittlerem und schwerem Gewicht außer Betracht, wenn sie außerhalb der Voraufenthaltszeit begangen worden sind. Derartige Straftaten sind regelmäßig geeignet, die vom Gesetzgeber vorausgesetzte gelungene Integration in Frage zu stellen, selbst wenn die Straftat nicht während der Mindestaufenthaltsdauer begangen worden ist.

Dies bedeutet indes nicht, dass der Antragsteller zu 1. eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104 a Abs. 1 AufenthG nicht mehr erlangen könnte. Das Verwaltungsgericht hat auf die Möglichkeit der vorzeitigen Tilgung nach § 49 Abs. 1 BZRG hingewiesen. Eine vorzeitige Tilgung wäre beachtlich, da das Aufenthaltsgesetz keinen Stichtag für das Vorliegen der Voraussetzungen nach § 104 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AufenthG enthält und das Aufenthaltserteilungsverfahren noch nicht abgeschlossen ist.

Unter den hier vorliegenden besonderen Umständen, erscheint ein Erfolg des vom Antragsteller zu 1. bei der Registerbehörde gestellten Antrags auf vorzeitige Tilgung nicht als ausgeschlossen. Nach dem Sinn und Zweck des Bundeszentralregisters ist das öffentliche Interesse zwar grundsätzlich darauf gerichtet, dass die eintragungspflichtigen Verurteilungen bis zum Ablauf der gesetzlichen Fristen im Register verbleiben. Es ist auch nicht die Aufgabe der Registerbehörde, durch eine Entscheidung über die vorzeitige Tilgung der Eintragungen von Strafurteilen im Ergebnis selbst anstelle der nach dem Gesetz zuständigen Ausländerbehörde darüber zu befinden, ob die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels vorliegen. Dies schließt eine vorzeitige Tilgung im Zusammenhang mit aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen in absoluten Ausnahmefällen aber nicht generell aus. Eine vorzeitige Tilgung dürfte in solchen Fallgestaltungen zu erwägen sein, bei denen ein Festhalten an den registerrechtlichen Regelungen für den Betroffenen eine unbillige, mit Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung unvereinbare Härte darstellt.

Vgl. Hase, BZRG, § 49, Rdn. 6 - 8.

Dass derartige Härten im Zusammenhang mit Bleiberechtsregelungen von der Registerbehörde in der Vergangenheit vereinzelt bejaht worden sind und zu einer vorzeitigen Tilgung geführt haben, hat das Bundesamt für Justiz als zuständige Registerbehörde auf fernmündliche Anfrage gegenüber dem Verwaltungsgericht bestätigt. In der angegriffenen Entscheidung wird im einzelnen dargelegt, warum ein derartiger Härtefall hier vorliegen könnte (BA Seite 4). Mit diesen Erwägungen setzt sich die Beschwerde nicht auseinander.

Der Senat teilt die Auffassung des Antragsgegners, dass es im Rahmen eines Antrages auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach der Altfallregelung nicht seine Aufgabe sein kann, in jedem Einzelfall zu prüfen, ob ein absoluter Ausnahmefall für eine vorzeitige Tilgung nach § 49 BZRG in Betracht kommen könnte und bejahendenfalls einen diesbezüglichen Antrag zu stellen. Hierfür bietet das Gesetz, insbesondere § 104 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AufenthG, keinen Anhalt. Die Ausländerbehörde ist auf die Prüfung des Vorliegens der Erteilungsvoraussetzungen beschränkt.

Die Prüfungsbeschränkung im Titelerteilungsverfahren hat indes nicht zur Folge, dass der Antragsgegner stets zur umgehenden Aufenthaltsbeendigung berechtigt wäre, wenn der Ausländer einen diesbezüglichen Antrag bei der Registerbehörde - wie hier - gestellt hat. Einem Ausländer kann eine Duldung erteilt werden, wenn dringende humanitäre oder persönliche Gründe seine vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern (§ 60 a Abs. 2 Satz 3 AufenthG).

Dringende persönliche Gründe liegen vor, wenn sich bei der erforderlichen Interessenabwägung ergibt, dass dem privaten Interesse des Ausländers an einem vorübergehenden Aufenthalt im Bundesgebiet ein deutlich höheres Gewicht zukommt als der umgehenden Ausreise.

Vgl. Armbruster, HTK-AuslR/§ 60a AufenthG/zu Abs. 2 Satz 3 Nr. 4.

Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Der Antragsteller zu 1. hält sich seit 1993 (mehr als 14 Jahre), die Antragstellerin zu 2., seine Ehefrau, und der Antragsteller zu 3., der inzwischen 17jährige gemeinsame Sohn, seit 1995 (mehr als 12 Jahre) im Bundesgebiet auf. Der Antragsteller zu 4. ist im März 1997 im Bundesgebiet geboren. Die älteste Tochter ist im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach der Altfallregelung kommt für die Antragsteller in Betracht, wenn dem Antrag auf vorzeitige Tilgung der Straftaten aus dem Bundeszentralregister entsprochen wird. Das vom Antragsteller eingeleitete Verfahren auf vorzeitige Tilgung ist zeitlich begrenzt; dem Verfahren können unter den hier vorliegenden besonderen Umständen hinreichende Erfolgsaussichten nicht von vornherein abgesprochen werden. Die Folgen der vorzeitigen Abschiebung sind für die Antragsteller gravierend, wohingegen sich für eine umgehende Aufenthaltsbeendigung wenig ins Feld führen lässt. Den Antragstellern droht nämlich durch die Abschiebung ein vollständiger Rechtsverlust. So geht der ebenfalls mit ausländerrechtlichen Verfahren befasste 18. Senat des beschließenden Gerichts davon aus, dass ein möglicher Anspruch nach der Bleiberechtsanordnung wie der Anspruch nach § 104 a AufenthG voraussetzt, dass der Betreffende sich (geduldet bzw. ausreisepflichtig) in Deutschland aufhält.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 30. August 2007 - 18 B 1349/07 -.

Auf der anderen Seite sind überwiegende Interessen der Allgemeinheit für eine umgehende Aufenthaltsbeendigung nicht erkennbar und werden auch nicht vorgetragen. Der Antragsteller zu 1. hat sich seit seiner letzten Verurteilung wegen Diebstahls geringwertiger Sachen (10 Kugelschreiberminen im Gesamtwert von 10,-- DM) im Jahr 1998 straffrei geführt. Die Aufnahme einer Beschäftigung steht in Aussicht. Das öffentliche Interesse wird zudem durch das Anliegen des Gesetzgebers vorgeprägt, Ausländern mit mehrjährigem Aufenthalt unter bestimmten Bedingungen einen Aufenthaltstitel zu verschaffen und so zu einem gewissen Rechtsfrieden beizutragen.

Vgl. Präambel der Anwendungshinweise des Innenministeriums des Landes Nordrhein- Westfalen zu §§ 104a und 104b AufenthG.

Dies spricht gewichtig dafür, den Antragstellern die Chance einer Partizipation an der Altfallregelung zu erhalten.

Angesichts der bestehenden dringenden persönlichen Gründe für einen vorübergehenden weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet und dem Fehlen bedeutsamer öffentlicher Interessen daran, an der Durchsetzung der Ausreisepflicht gleichwohl festzuhalten, dürfte das dem Antragsgegner nach § 60 a Abs. 2 Satz 3 AufenthG eröffnete Ermessen auf eine derzeitige Unterlassung der Abschiebung reduziert sein.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 3 Nr. 1 GKG.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar.