LG Duisburg, Urteil vom 21.02.2007 - 11 S 39/06
Fundstelle
openJur 2011, 47430
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. 10 C 812/04
Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Amtsgerichts Duisburg-Ruhrort vom 02.01.2007 (10 C 812/04) wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsrechtszuges.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger kann die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Es bleibt nachgelassen, Sicherheit durch Stellung einer selbstschuldnerischen, unwiderruflichen, unbefristeten und unbedingten Bürgschaft einer Großbank, Genossenschaftsbank oder öffentlich-rechtlichen Sparkasse mit Sitz in der Europäischen Union zu erbringen.

Die Revision wird zugelassen.

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 695,91 € festgesetzt.

Gründe

I. Der Kläger begehrt Schadensersatz in Zusammenhang mit einer Kollision des von der damals achtjährigen gesteuerten Fahrrades und seinem abgestellten Fahrzeug. Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass aufgrund des geringen Alters eine Haftung gemäß § 828 Abs. 2 BGB entfalle. Insoweit habe bereits nach dem unstreitigen Vortrag bzw. dem klägerischen Vortrag eine typische Überforderungssituation vorgelegen. Eine Beweisaufnahme über Einzelumstände sei daher entbehrlich gewesen.

Der Kläger verfolgt mit der Berufung weiterhin sein erstinstanzliches Begehren. Eine verkehrstypische Überforderungssituation habe hier nicht vorgelegen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes sei die Heraufsetzung des deliktsfähigen Alters für Kinder auf Schadensereignisse im motorisierten Straßenverkehr begrenzt. Demgegenüber mache es für ein achtjähriges Kind keinen Unterschied, ob es gegen einen Zaun, eine Straßenlaterne oder ein parkendes Fahrzeug fahre. Die Beklagte hafte daher sehr wohl für die von ihr nicht ausreichend beachtete Sorgfalt.

Der Kläger beantragt,

unter Abänderung des am 02.01.2006 verkündeten Urteils des Amtsgerichts Duisburg-Ruhrort, die Beklagte zu verurteilen,

an den Kläger 695,91 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 17.09.2004 sowie Nebenkosten in Höhe von 68,61 € zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte verteidigt das amtsgerichtliche Urteil. Das Amtsgericht sei zu Recht von einer Überforderungssituation ausgegangen. Die Beklagte habe einen Richtungswechsel in die Fahrbahnmitte unter Beachtung des rückwärtigen und des entgegenkommenden Verkehrs machen müssen und gleichzeitig die Situation am nicht abgeschlossenen Betriebsvorgang des klägerischen Fahrzeugs berücksichtigen müssen. Daneben habe sie nicht abschätzen können, wann und wie weit die Fahrzeugtür sich plötzlich öffnen würde.

II. Die zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg.

Das Amtsgericht hat in der Sache richtig entschieden; die Kammer nimmt zunächst zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug. Das Berufungsvorbringen gibt zu einer hiervon abweichenden Entscheidung nach Ansicht der Kammer keine Veranlassung.

Das Amtsgericht ist insbesondere zu Recht davon ausgegangen, dass eine Haftung der Beklagten bereits mangels Deliktsfähigkeit gemäß § 828 Abs. 2 Satz 1 BGB ausgeschlossen ist.

Zwar besteht in der jüngsten Rechtsprechung inzwischen Einigkeit darüber, dass für den Ausschluss der Deliktsfähigkeit der 7- bis 9-Jährigen in Zusammenhang mit der Anwendung des § 828 Abs. 2 BGB nicht schon ausreichend ist, dass überhaupt ein Unfall mit einen Kraftfahrzeug vorliegt (wie es der Wortlaut zunächst vermuten lassen könnte), sondern es entscheidend darauf ankommt, ob eine sogenannte Überforderungssituation vorliegt (vgl. BGH NJW 2005, 354; 2005, 356; NJW-RR 2005, 327). Die Norm des § 828 Abs. 2 BGB soll lediglich den Fällen einer typischen Überforderung der betroffenen Kinder durch die spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs Rechnung tragen (vgl. BGH a.a.O.). Insbesondere die Erläuterung in den Gesetzesmaterialien, dass im motorisierten Straßenverkehr das deliktsfähige Alter heraufzusetzen ist, weil bei dort plötzlich eintretenden Schadensereignissen in der Regel die altersbedingten Defizite eines Kindes beim Einschätzen von Geschwindigkeiten und Entfernungen zum Tragen kämen (vgl. BT-Drucksache 14/7752 S. 26 f.), zeigt deutlich, dass für den Gesetzgeber bei diesem Aspekt nicht das bloße Vorhandensein eines Motors im Fahrzeug ausschlaggebend war, sondern vielmehr der Umstand, dass die Motorkraft zu Geschwindigkeiten führt, die zusammen mit der Entfernung eines Kraftfahrzeugs von einem Kind vor Vollendung des zehnten Lebensjahres nur sehr schwer einzuschätzen sind (vgl. BGH a.a.O.). Die Heraufsetzung der Deliktsfähigkeit soll danach auf im motorisierten Straßen- oder Bahnverkehr plötzlich eintretende Schadensereignisse begrenzt werden, bei denen die altersbedingten Defizite eines Kindes, wie z. B. Entfernungen und Geschwindigkeiten nicht richtig einschätzen zu können, regelmäßig zum Tragen kommen. Außerhalb dieses Bereichs, z. B. auch im nicht motorisierten Verkehr (u.a. ordnungsgemäß parkenden Autos), sind die Anforderungen, denen das Kind ausgesetzt ist, im Allgemeinen geringer (vgl. LG Duisburg, Urteil vom 04.12.2003, 12 S 206/03), so dass die Deliktsfähigkeit hier bereits mit Vollendung des siebten Lebensjahrs anzunehmen ist.

Soweit das Amtsgericht unter Berücksichtigung dieser Grundsätze eine Überforderungssituation im oben genannten Sinne bejaht hat, ist dies nach Ansicht der Kammer nicht zu beanstanden.

Insoweit ist die Annahme einer Überforderungssituation nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil die Beklagte ein parkendes Fahrzeug beschädigt hat; der Bundesgerichtshof führt vielmehr aus, dass sich in besonders gelagerten Fällen auch im ruhenden Verkehr eine spezifische Gefahr des motorisierten Verkehrs verwirklichen kann (vgl. BGHZ 29, 163 (ein wegen Motorschaden auf der Straße liegengebliebenes Fahrzeug); VersR 1995, 90 (ein unter Verstoß gegen die StVO abgestelltes Fahrzeug)).

Daneben weicht der hier zu entscheidende Fall in maßgeblichen Punkten von den vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fällen ab, in denen die Deliktsfähigkeit eines 7- bis 9-Jährigen Kindes in Zusammenhang mit der fahrlässigen Beschädigung eines Kraftfahrzeuges bejaht worden ist. Unabhängig von den zum Teil umstrittenen Einzelheiten hinsichtlich der Dauer ist jedenfalls unstreitig, dass beide hinteren Türen auf der Fahrerseite und der Beifahrerseite zum Zeitpunkt der Kollision offen standen. Weiterhin haben sich unstreitig mehrere Personen (der Kläger und der Zeuge ) in unmittelbarer Nähe zum Fahrzeug an den geöffneten Türen befunden und sich bewegt. Dies stellt nach Ansicht der Kammer bereits einen wesentlichen Unterschied zu einer grundsätzlich vollständig unbeweglichen Laterne, einem Zaun o.ä. dar. Insoweit umfassen die spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs nicht nur den sich bewegenden Fahrzeugverkehr, sondern auch abgestellte Fahrzeuge, an denen Türen geöffnet werden oder längere Zeit offen stehen. Hinzu kommt, dass sich das beklagte Kind als Verkehrteilnehmer auf der Straße bewegt hat und im Zuge der beabsichtigten Vorbeifahrt an dem auf der Straße parkenden Fahrzeug sich zeitnah in mehrere Richtungen orientieren musste. Wie das Amtsgericht zutreffend ausgeführt hat, war es zum einen gehalten, aufgrund der erforderlichen Orientierung zur Mitte der Straße hin sowohl den möglicherweise entgegenkommenden Verkehr als auch den möglicherweise rückwärtig überholenden Verkehr im Blick zu behalten. Daneben musste das beklagte Kind gleichzeitig das parkende Fahrzeug und die Bewegungen in dessen unmittelbarer Nähe im Blick behalten. Die minderjährige Beklagte musste sich also möglichst schnell und sicher auf mehrere, unterschiedliche Gefahren des motorisierten Verkehrs einstellen, was einen durchschnittlichen Minderjährigen, der das 10. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, grundsätzlich überfordert. Diese Überforderungssituation ist nach Ansicht der Kammer auch nicht schon dadurch ausgeschlossen, dass sich zum Zeitpunkt der Kollision unstreitig kein sich bewegendes Fahrzeug auf der Straße befunden hat. Dieser Umstand ändert nichts daran, dass sich das beklagte Kind auf seiner Fahrt auf der Straße jedenfalls auf etwaigen fließenden Verkehr auf der Straße achten musste und damit in mehrfacher Hinsicht Aufmerksamkeit aufbringen musste.

Unter diesen Umständen kommt es auf die weiteren im Streit stehenden Tatsachen, wie lange die hintere linke Tür aufgestanden hat, ob zusätzlich die vordere Tür der Fahrseite offen gestanden hat, ob die Beklagte mit anderen Kindern "Fangen gespielt" hat und ob sie direkt gegen die Tür gefahren ist oder zunächst gegen das Seitenblech des klägerischen Fahrzeugs gefallen ist, nicht an. Das Amtsgericht ist daher zu Recht den Beweisangeboten nicht nachgegangen.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung der vorläufigen Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

IV. Die Revision wird gemäß § 543 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 2 ZPO zugelassen, da eine Entscheidung des Revisionsgerichts zur Fortbildung des Rechts, insbesondere zur Frage der Grenzziehung zwischen den spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs und den übrigen Gefahren für einen minderjährigen Verkehrsteilnehmer, erforderlich ist.