SG Düsseldorf, Beschluss vom 20.10.2006 - S 28 AS 235/06 ER
Fundstelle
openJur 2011, 46913
  • Rkr:
Tenor

Es wird festgestellt, dass der Widerspruch des Antragstellers gegen den Bescheid vom 30.5.2006 unter Einbeziehung des Bescheides vom 14.7.2006 aufschiebende Wirkung hat. Es wird angeordnet, dass die seit dem 1.7.2006 aufgerechneten Leistungen dem Antragsteller ausgekehrt werden. Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers dem Grunde nach.

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten über die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs, den der Antragsteller gegen einen Aufhebungs- Rückforderungs- und Aufrechnungsbescheid der Antragsgegnerin erhoben hat.

Der Antragsteller bezieht seit dem 1.1.2005 von der Antragsgegnerin für sich und seine drei im Haushalt lebenden minderjährigen Kinder laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitssuchende - (SGB II). Nachdem die Antragsgegnerin im Oktober 2005 Kenntnis von dem Studium des Antragstellers an der I1- I2- Universität E erhielt und ihn mit Schreiben vom 10.5.2006 angehört hatte, nahm sie mit Bescheid vom 30.5.2006 die Bewilligung von Arbeitslosengeld II an den Antragsteller für die Zeiten Januar 2005 bis April 2006 unter Aufhebung der Bescheide vom 24.11.2004, 30.5.2005 und 14.11.2005 teilweise zurück. Der Antragsteller sei seiner Mitteilungspflicht nicht nachgekommen, so dass die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) erfüllt seien. In dem von der Aufhebung erfassten Zeitraum seien dem Antragsteller Leistungen in Höhe von 8216,94 Euro zu Unrecht gezahlt worden. Die bereits erbrachten Leistungen seien nach § 40 Abs. 2 SGB II in Verbindung mit § 50 SGB X zu erstatten. Ab dem 1.7.2006 ordnete die Antragsgegnerin mit Hinweis auf § 43 SGB II eine Verrechnung mit dem laufenden Anspruch des Antragstellers auf Leistungen nach dem SGB II in monatlichen Raten von jeweils 124,00 Euro an. Die Antragsgegnerin wies abschließend den Antragsteller darauf hin, ein Widerspruch gegen den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid habe gemäß § 39 SGB II keine aufschiebende Wirkung.

Gegen den Bescheid vom 30.5.2006 erhob der Antragsteller am 3.7.2006 Widerspruch. Er wendete sich gegen die Aufhebung der Leistungsbewilligung für die Zeiten Januar 2005 bis April 2006 und die Rückforderung der gewährten Leistungen. Ergänzend beantragte er, die Vollziehung des Rücknahmebescheides vom 30.5.2006, hilfsweise die Vollziehung der Aufrechnung auszusetzen. Er machte im wesentlichen geltend, sein Studium sei ein Freizeitstudium gewesen. Er habe dem Arbeitsmarkt, soweit es ihm aufgrund der Kinderbetreuung möglich gewesen sei, zur Verfügung gestanden. Die Aufrechnung nach § 43 SGB II in zulässiger Höhe von 30% dürften nur seine, nicht aber die Leistungen seiner Kinder betreffen. Die Aussetzung der Vollziehung sei geboten, weil sich ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Aufhebungsbescheides bzw. Folgebescheides ergäben.

Mit Bescheid vom 14.7.2006 half die Antragsgegnerin dem Widerspruch insoweit ab, als die Aufrechnung gemäß Bescheid vom 30.5.2006 auf 104,00 Euro monatlich reduziert wurde. Dies entspreche 30% der dem Antragsteller zustehenden Regelleistung. Ansonsten halte sie ihren Bescheid vom 30.5.2006 aufrecht. Die Aussetzung der Vollziehung sei gemäß § 39 SGB II nicht möglich. Es werde angefragt, ob sich der Widerspruch damit erledigt habe. Mit Änderungsbescheid vom 14.7.2006 stellte die Antragsgegnerin die Leistungen für die Zeit 1.5.2006 bis 30.9.2006 neu fest unter Berücksichtigung der Aufrechnung in Höhe von 104,00 Euro monatlich. Mit Schreiben vom 25.7.2006 bat der Antragsteller um Bescheidung seines Widerspruchs.

Am 17.8.2006 hat der Antragsteller vor dem Gericht Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz erhoben. Er erstrebt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen die Aufhebungsentscheidung vom 30.5.2006 bzw. die Feststellung, dass sein Widerspruch gegen die Erstattungsanordnung aufschiebende Wirkung entfaltet. Es bestünden ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Aufhebungsentscheidung. Der Antragsteller wiederholt insoweit im wesentlichen seinen Vortrag aus dem Widerspruchsverfahren. Ergänzend trägt er vor, soweit der Bescheid vom 30.5.2006 eine Rückforderung anordne, habe der Widerspruch gegen den betreffenden Verwaltungsakt aufschiebende Wirkung. Die aufschiebende Wirkung sei nicht nach § 39 Nr. 1 SGB II im Sinne von § 86 a Abs. 2 Nr. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ausgeschlossen. Zwar werde in der Kommentarliteratur überwiegend die Gegenauffassung vertreten. Nach der neuesten sozialgerichtlichen Rechtsprechung werde aber die Rückforderung gemäß § 50 SGB X von überzahlten Leistungen nach dem SGB II vom Tatbestand des § 39 Nr. 1 SGB II nicht erfasst. Dafür spreche bereits der Wortlaut der Vorschrift, wonach nur bei Verwaltungsakten, die über "Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende" entscheiden, die aufschiebende Wirkung entfalle. Bei einer Rückforderung überzahlter Leistungen nach § 50 SGB X fehle aber der rechtliche Bezug zu den im SGB II normierten Leistungen. Mit der Aufhebung der Bewilligung verlören die ausgezahlten Geldleistungen ihre rechtliche Zuordnung zu einem bestimmten Rechtsgrund, sie würden zur rechtsgrundlosen Bereicherung und stellten keine Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende mehr dar. Eine erweiternde Auslegung des Wortlautes des § 39 Nr. 1 SGB II sei nicht gerechtfertigt, dies im Hinblick auf den Zweck der Existenzsicherung der Leistungen und den Grundsatz der Garantie des effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG), welcher eine enge Auslegung der Ausnahmen zu dem Grundsatz, dass Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung entfalten, gebiete.

Der Antragsteller beantragt,

1.die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 3.7.2006 gegen die Aufhebungsverfügung der Antragsgegnerin vom 30.5.2006 unter Einbeziehung des Bescheides vom 14.7.2006 anzuordnen und 2.festzustellen, dass der Widerspruch gegen den Bescheid vom 30.5.2006 unter Einbeziehung des Bescheides vom 14.7.2006, soweit darin die Erstattung von Arbeitslosengeld II in Höhe von 8216,94 Euro verlangt wird, aufschiebende Wirkung entfaltet.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

An der Rücknahme des Bewilligungsbescheides vom 14.11.2005 betreffend den Zeitraum 1.1.2005 bis 30.4.2006 halte sie nicht fest, weil ihr zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses das Betreiben des Studiums bereits bekannt gewesen sei. Dies ändere aber nichts an der Möglichkeit zur Rücknahme der Leistungen für den Zeitraum 1.1.2005 bis 31.10.2005 im Umfang von 5136,00 Euro. Hinsichtlich der in Frage stehenden aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs gegen Rücknahme- bzw. Rückforderungsentscheidungen unter analoger Anwendung des § 39 Nr. 1 SGB II in Verbindung mit § 86 a Abs. 2 Nr. 4 SGG ergebe sich bislang keine als bindend zu wertende Einschätzung. Diese Frage werde in der Kommentarliteratur als auch in der Rechtsprechung kontrovers diskutiert.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die Gerichtsakten und die Verwaltungsakten Bezug genommen.

II.

Der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes hat Erfolg.

Das Begehren des Antragstellers ist darauf gerichtet, dass die von ihm angefochtene Entscheidung vom 30.5.20006 unter Einbeziehung des Bescheides vom 14.7.2006 vorerst von Seiten der Antragsgegnerin nicht vollzogen werden darf. Der Bescheid vom 30.5.2006 enthält drei Verwaltungsakte, nämlich den über die Aufhebung der Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II gemäß § 45 SGB X, den über die Rückforderung/Erstattung überzahlter Leistungen gemäß § 50 SGB X sowie den über die Aufrechnung mit Rückforderungen gegen laufende Leistungen der Grundsicherung gemäß § 43 SGB II. In dem Bescheid vom 14.7.2006 wurde bestimmt, dass der monatliche Aufrechnungsbetrag sich ab dem 1.7.2006 auf 104,00 Euro beläuft. Der Antragsteller erstrebt die Feststellung, dass sein Widerspruch gegen diese Bescheide aufschiebende Wirkung zukommt. Wird die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs festgestellt, dürfen Vollzugsmaßnahmen zur Durchsetzung des Verwaltungsaktes nicht durchgeführt werden. Der Antragsteller erreicht damit sein vorrangiges Ziel, dass vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache keine Rückforderungen im Wege der Aufrechnung gegen ihn vorgenommen werden können. Verfahrensrechtlich handelt es sich um einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gemäß § 86 b Abs. 1 SGG. Obgleich in § 86 b Abs. 1 Nr. 1 bis 3 SGG nicht ausdrücklich benannt, beinhaltet der einstweilige Rechtsschutz nach dieser Regelung auch die Möglichkeit, die bereits kraft Gesetzes eingetretene aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage ausdrücklich festzustellen, wenn eine Behörde die aufschiebende Wirkung nicht beachtet bzw. der Verwaltungsakt faktisch vollzogen wird (vgl. Meyer-Ladewig/Leitherer/Keller, SGG, 8. Auflage 2005, § 86 b Rdn. 15). So liegt es hier. Die Antragsgegnerin hält ihre Aufhebungs- Rückforderungs- und Aufrechnungsentscheidungen für sofort vollziehbar und rechnet seit dem 1.7.2006 mit Rückforderungsansprüchen in Höhe von 104,00 Euro monatlich gegen die laufenden Leistungen des Antragstellers auf (vgl. Änderungsbescheid vom 14.7.2006 und aktueller Leistungsbescheid vom 4.10.2006), obgleich der vom Antragsteller erhobene Widerspruch jedenfalls gegen die Aufhebungs- und Rückforderungsentscheidung vom 30.5.2006 aufschiebende Wirkung hat.

§ 86 a Abs. 1 Satz 1 SGG ordnet als Grundsatz die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage an. Der angefochtene belastende, d.h. in eine Rechtsposition eingreifende Verwaltungsakt kann nicht vollzogen werden, es tritt ein Schwebezustand ein, währenddessen vollendete Tatsachen nicht geschaffen werden dürfen. Die aufschiebende Wirkung entfällt in den Fällen des § 86 a Abs. 2 Nr. 1-5 SGG. Einer dieser Fälle liegt hier nicht vor, insbesondere liegt kein durch Bundesgesetz vorgeschriebener Fall vor (§ 86a Abs. 1 Nr. 4 SGG).

Die Antragsgegnerin kann eine sofortige Vollziehung der von ihr nach §§ 45, 50 SGB X getroffenen Aufhebungs- und Rückforderungsentscheidungen nicht auf § 39 SGB II stützen, denn diese sind keine Verwaltungsakte im Sinne des § 39 Nr. 1 SGB II. Die Anwendbarkeit des § 39 SGB II auf Aufhebungs- und Rückforderungsbescheide bei - wie hier - rückwirkender Aufhebung einer Leistungsbewilligung nach §§ 45ff SGB X ist umstritten. Überwiegend wird in der Rechtsprechung vertreten, dass als Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende in der Vergangenheit ausgezahlte Geldbeträge bis zu einer bestands- bzw. rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache über die Rücknahme oder Aufhebung nicht zu erstatten seien. Hierbei wird teilweise mit Rücksicht auf die Zweistufigkeit der Rückabwicklung zu Unrecht erbrachter Leistungen (Rücknahme bzw. Aufhebung nach §§ 45,48 SGB X und Rückforderung nach § 50 SGB X) zwischen der aufschiebenden Wirkung der Aufhebung von Bewilligungsbescheiden für die Vergangenheit einerseits und der Rückforderung geleisteter Zahlungen anderseits unterschieden und vertreten, der Ausschluss der aufschiebenden Wirkung nach § 39 Nr. 1 SGB II erfasse nicht die auf § 50 SGB X gestützte Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen (LSG Niedersachsen-Bremen Beschlüsse vom 22.2.2006 - L 9 AS 127/06 ER - und vom 23.3.2006 - L 9 AS 127/06 ER -; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 26.4.2006 - L 3 ER 47/06 AS -; LSG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 28.7.2006 - L 14 B 350/06 AS ER - und vom 25.8.2006 - L 5 B 549/06 AS ER -; LSG Hamburg Beschlüsse vom 29.5.2006 - L 5 B 77/06 ER AS - und vom 6.6.2006 - L 5 B 401/05 ER AS -; SG Münster Beschluss vom 12.9.2006 - S 5 AS 115/06 ER -). Andere Stimmen erachten § 39 SGB II sowohl auf die rückwirkende Aufhebung von Leistungsbewilligungen als auch auf Erstattungsbescheide für nicht anwendbar (SG Dresden Beschluss vom 23.1.2006 - S 6 AS 1393/05 ER -; LSG Sachsen-Anhalt Beschluss vom 27.4.2006 - L 2 B 62/06 AS ER -). Nach der Gegenauffassung umfasst § 39 SGB II sämtliche belastende Entscheidungen, die sich auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende beziehen und damit auch auf Aufhebungs- und Rückforderungsbescheide, ungeachtet ihrer Zukunfts- oder Vergangenheitsbezogenheit (LSG NRW Beschlüsse vom 31.3.2006 - L 19 B 15/06 AS ER - und vom 26.7.2006 - L 20 B 144/06 AS ER -; LSG Schleswig-Holstein Beschluss vom 5.7.2006 - L 6 B 196/06 AS ER -, wohl auch LSG Baden-Württemberg Beschluss vom 20.3.2006 - L 8 AS 369/06 ER-B -). Der Wortlaut des § 39 SGB II ist nicht eindeutig und daher umstritten. Nach § 39 Nr. 1 SGB II haben Widerspruch und Klage gegen einen Verwaltungsakt, der über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende entscheidet, keine aufschiebende Wirkung. Die Vorschrift kann dahingehend im weiten Sinne verstanden werden, dass alle Entscheidungen gemeint sind, die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende in irgendeiner Weise tangieren. Dazu gehören dann auch Bescheide über die rückwirkende Aufhebung von Leistungen nach dem SGB II und die Festsetzung einer Erstattungssumme überzahlter Leistungen nach dem SGB II (so LSG NRW, aaO; LSG Schleswig-Holstein, aaO). Möglich ist es auch, den Wortlaut im engeren Sinne dahingehend zu verstehen, dass eine Aufhebung von Leistungen in der Vergangenheit und die Festsetzung einer Erstattung nicht gemeint sind, weil sprachlich zwischen einer Leistung und einer "Rückleistung" zu unterscheiden ist (so SG Dresden, aaO und LSG Sachsen-Anhalt, aaO). Vertreten wird auch, als "Entscheidung über Leistungen" seien sowohl die Bewilligung als auch deren Kehrseite die Aufhebung als actus contrarius anzusehen, nicht jedoch die Erstattungsforderung nach § 50 SGB X (LSG Niedersachsen-Bremen, aaO; LSG Hamburg, aaO). Nach dieser Meinung ergibt sich eine Differenzierung im Hinblick auf die Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung. Die Aufhebungsentscheidung unterfällt § 39 SGB II und damit der sofortigen Vollziehung, während die Erstattungsforderung nach § 50 SGB X, die keine Entscheidung über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende darstellt (LSG Hamburg, aaO, geht von einem "aliud" aus; LSG Niedersachsen-Bremen, aaO, von einer "Entscheidung über eine rechtgrundlos erbrachten Leistung"), davon ausgenommen und durch den Widerspruch suspendiert wird. Das Gericht schließt sich der engeren Auslegung an und geht zunächst davon aus, dass die Erstattungsentscheidung vom 30.5.2006 durch den Widerspruch vom 3.7.2006 suspendiert ist und daher vorläufig nicht - auch nicht im Wege der Aufrechnung (dazu weiter unten) - vollzogen werden kann. Gleiches dürfte auch für die Aufhebungsentscheidung vom 30.5.2006 gelten. Nach der Auffassung des Gerichtes bezieht sich der Ausschluss der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage im § 39 SGB II nur auf Entscheidungen über laufende Leistungen. Die Aufhebung bewilligender Bescheide über Leistungen in der Vergangenheit dürfte von der Anwendung des § 39 SGB II auszunehmen sein. Das ergibt sich aus einer an Sinn und Zweck der Vorschrift orientierten Auslegung. Bei der zukunftsgerichteten Entscheidung über bereits bewilligte, aber noch laufende bzw. noch auszuzahlende Leistungen liegt es im Hinblick auf ggf. schwierig oder überhaupt nicht durchzusetzende Rückforderungen im öffentlichen Interesse, Änderungs- und Aufhebungsbescheide umsetzen zu können, ohne im Regelfall die Entscheidung über Widerspruch und Klage abwarten zu müssen (LSG Sachsen-Anhalt, aaO) Die Interessenlage bei Aufhebungen von bereits in der Vergangenheit zur Auszahlung gelangten Leistungen ist anders zu beurteilen. Diese Leistungen sind vom Sozialleistungsträger bereits ausgeschüttet worden. An dieser Sachlage kann auch eine sofortige Vollziehung nichts mehr ändern. Auch ist vor dem Hintergrund, dass in anderen Bereichen des Sozialversicherungsrechtes bzw. des Sozialhilferechtes Widerspruch und Anfechtungsklage gegen Aufhebungen von Leistungen in der Vergangenheit und daraus resultierenden Erstattungsforderungen Suspensiveffekt entfalten, wenig nachvollziehbar, weshalb der Gesetzgeber im Bereich der Grundsicherung für Arbeitssuchende Rechtsbehelfe gegen Aufhebungsentscheidungen für die Vergangenheit und Erstattungsforderungen von der aufschiebenden Wirkung hat ausnehmen wollen. Sowohl im Bereich des Arbeitslosengeldes I und der früheren Arbeitslosenhilfe (vgl. § 336 a Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung - SGB III) als auch im Bereich der Sozialhilfe (vgl. § 93 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - SGB XII), welche der Grundsicherung nach SGB II in ihren Zielsetzungen verwandt sind, fehlt es an einer dem § 39 SGB II entsprechenden Regelung. Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Aufhebung von in der Vergangenheit bewilligten und bereits ausgezahlten Sozialleistungen sowie gegen Erstattungsforderungen haben hier entsprechend des Regelfalls nach § 86 a Abs. 1 SGG aufschiebende Wirkung. So ordnet § 336 a SGB III die sofortige Vollziehung nur bei Herabsetzung und Entziehung laufender Leistungen an. Das Fehlen einer entsprechenden Formulierung in § 39 SGB II zwingt nicht zu dem Schluss, dass der Gesetzgeber im SGB II die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen anders regeln wollte als im SGB III und auch Aufhebungsentscheidungen für die Vergangenheit und Erstattungsforderungen mit einbezogen sehen wollte (LSG Rheinland-Pfalz 26.4.2006, aaO), zumal bei einer solchen weiten Auslegung des § 39 Nr. 1 SGB II im Sinne des Einbeziehens aller Entscheidungen, die Leistungen nach dem SGB II tangieren, die nachfolgende Regelung (Nr. 2) überflüssig wäre, da auch Verwaltungsakte, die den Übergang eines Anspruchs bewirken, im weiteren Sinne über Leistungen nach dem SGB II entscheiden (LSG Hamburg 6.6.2006, aaO). Der Hinweis auf eine "klarstellende" Funktion des § 39 Nr. 2 SGB II (so LSG NRW 31.3.2006, aaO) kann nicht überzeugen. Der Sinn und Zweck des Wegfalls der aufschiebenden Wirkung der Rechtsbehelfe gegen Entscheidungen über laufende Leistungen liegt im Wesentlichen darin, dass der Leistungsträger dem Versicherten bzw. Hilfebedürftigen als Leistungsempfänger im Streitfall bereits bewilligte Leistungen nicht weiter auszahlen muss, weil deren Rückforderung ggf. nicht oder nur schwerlich durchsetzbar ist. Diese Gesichtspunkte greifen bei Rückleistungen nicht, da der Hilfebedürftige über die in der Vergangenheit erhaltenen Leistungen bereits verfügen konnte und in aller Regel auch verfügt hat (LSG Rheinland Pfalz 26.4.2006, aaO; ähnlich LSG Sachsen-Anhalt, aaO). Auch ist es zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Sozialleistungsträger in der Regel nicht erforderlich, dass diese bereits erbrachte Leistungen sofort zurückfordern können, ohne dass zuvor geklärt ist, ob der Leistungsempfänger tatsächlich einen Anspruch hatte oder nicht (LSG Berlin Brandenburg, 25.8.2006, aaO). Im Ergebnis ist daher die sprachlich unklare Regelung des § 39 SGB II keine geeignete Grundlage für eine Ausnahme von der allgemeinen Regelung im § 86 a Abs. 1 SGG, wonach Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung haben. Aus den Gesetzesmaterialen ergibt sich ebenfalls kein Anhaltspunkt dafür, dass der Gesetzgeber auch die Fälle der Leistungsaufhebung für die Vergangenheit und die Erstattungsbescheide mit erfassen wollte (LSG Sachen-Anhalt, aaO, mit Hinweis auf BT-Drucksache 15/1561 zu § 39, S. 63). Dementsprechend hat der Widerspruch gegen den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 30.5.2006 aufschiebende Wirkung, so dass analog § 86 b Abs. 1 Satz 1 SGG eine entsprechende Feststellung auszusprechen war.

Im weiteren kann es dahin stehen, ob auch der Widerspruch gegen die Aufrechnungsentscheidungen der Antragsgegnerin vom 30.5.2006 und 14.7.2006 aufschiebende Wirkung entfaltet (bejahend LSG Rheinland-Pfalz Beschluss vom 17.1.2006, - L 3 ER 128/05 AS -; Eicher/Spellbrink, SGB II, § 43 Rdn. 34, verneinend LSG Schleswig-Holstein, aaO). Die seit dem 1.7.2006 und fortlaufend durchgeführte Aufrechnung gegen die laufenden Leistungen des Antragstellers ist bereits deshalb rechtswidrig und von der Antragsgegnerin zu unterlassen bzw. rückgängig zu machen, weil der gegen die Aufhebungs- und Rückforderungsentscheidung vom 30.5.2006 erhobene Widerspruch vom 3.7.2006 - wie oben festgestellt - aufschiebende Wirkung hat und infolgedessen die Vollziehbarkeit der Erstattung bis zum bestands- bzw. rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens gehemmt ist. Maßnahmen zur Durchsetzung der Rückforderungen von Seiten der Antragsgegnerin verbieten sich daher. Das gilt auch für eine Aufrechnung der Rückforderungsansprüche gegen die laufenden Leistungen des Antragstellers nach § 43 Satz 1 SGB II, denn eine solche dürfte einen vollziehbaren Erstattungsanspruch nach § 50 SGB X voraussetzen (str., a.A. Eicher/Spellbrink, aaO, § 43 Rdn. 9 m.w.N.). Nach § 86 Abs. 1 Satz 2 SGG kann das Gericht die Aufhebung bzw. Rückgängigmachung der Vollziehung anordnen. Das Gericht hat insoweit im Rahmen seines Ermessens die Auskehrung der aufgerechneten Leistungen ab dem 1.7.2006 an den Antragsteller angeordnet.

Die Kostenentscheidung beruht auf der analogen Anwendung des § 193 SGG.

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