VG Köln, Urteil vom 23.08.2006 - 8 K 5020/05
Fundstelle
openJur 2011, 45801
  • Rkr:
Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Die Kläger sind Eigentümer des im unbeplanten Innenbereich liegenden und mit einem Einfamilienhaus bebauten Grundstücks S. Straße 00 in I. .

Unter dem 14. April 2005 erteilte die Beklagte der Beigeladenen u. a. einen Bau- schein für die Bebauung des südlich angrenzenden Grundstücks G.---graben 00 in I. - Gemarkung I. , Flur 00 Flurstücke 0000, 0000 (S1. ) - mit einem Mehrfamilienhaus. Wegen der Einzelheiten der erteilten Baugenehmigung wird auf die Baugenehmigungsakte (Beiakte 3) Bezug genommen. Am 11. Mai 2005 erhielten die Kläger Kenntnis von der erteilten Baugeneh- migung.

Am 8. Juni 2005 erhob der Kläger zu 1 Widerspruch gegen die erteilte Baugenehmigung und machte zur Begründung unter anderem geltend, die geplante Bebauung des Nachbargrundstücks mit einem Mehrfamilienhaus stelle eine massive und rücksichtslose Bebauung dar, durch die der Wert seines Grundstücks sinke und dieses seinen kleinstädtischen Charakter verliere.

Der Widerspruch des Klägers zu 1 wurde mit Widerspruchsbescheid des Landrats des Rhein-Sieg-Kreises vom 18. Juli 2005, dem Kläger zugestellt am 21. Juli 2005, zurückgewiesen. Zur Begründung wurde im Widerspruchsbescheid u. a. ausgeführt, es sei weder ein Verstoß gegen bauordnungsrechtliche noch gegen bauplanungsrechtliche Vorschriften ersichtlich, insbesondere füge sich das Vorhaben in jeder Beziehung in die nähere Umgebung ein.

Die Kläger haben am Montag, dem 22. August 2005 Klage erhoben. Zur Begründung wiederholen und vertiefen sie das Vorbringen des Klägers zu 1 im Verwaltungsverfahren. Ergänzend wird geltend gemacht, die zum Grundstück der Kläger weisenden Abstandsflächen T 15 und T 16 seien falsch berechnet, da als maßgeblicher Bezugspunkt in den Baugenehmigungsunterlagen die Oberkante Brüstungshöhe herangezogen worden sei. Tatsächlich sei aber die Oberkante Geländer maßgeblich. Deshalb liege die Abstandsfläche T 15 auf dem Grundstück der Kläger, was nicht zulässig sei. Auch die zu dem östlich gelegenen Neubaugrundstück weisenden Abstandsflächen T 17 und T 21 seien falsch berechnet, da das Schmalseitenprivileg sowohl für das dreigeschossige Gebäudeteil als auch für das um 2 m zurückgesetzte Staffelgeschoss in Anspruch genommen worden sei und zudem die Abgrabung für die Tiefgaragenzufahrt nicht berücksichtigt worden sei. Gegebenenfalls müssten deshalb die östlich gelegenen Reihen- hausgrundstücke mit Baulasten versehen werden.

Für die Klägerin zu 2, die im Widerspruchsverfahren nicht beteiligt war, wurde die Klage in der mündlichen Verhandlung zurückgenommen.

Der Kläger beantragt,

den der Beigeladenen erteilten Bauschein vom 14. April 2005 zur Errichtung eines Mehrfamilienhauses auf dem Grundstück G.---graben 00 in I. und den diesbezüglichen Widerspruchsbescheid des Landrats des Rhein-Sieg-Kreises vom 18. Juli 2005 aufzuheben

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er wiederholt und vertieft die Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden.

Die Beigeladene beantragt ebenfalls,

die Klage abzuweisen.

Sie macht unter anderem geltend, die für den vorliegenden Nachbarstreit allein maßgebliche Verletzung subjektiver Rechte der Kläger sei nicht gegeben. Ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme komme schon deshalb nicht in Betracht, da sich das Bauvorhaben in die nähere Umgebung einfüge. Hinsichtlich des geltend gemachten Abstandsflächenverstoßes komme es vorliegend nur auf die Abstandsflächen T 15, T 16 und T 20 an, da nur diese den maßgeblichen Grenzabstand zum Grundstück der Kläger betreffen. Insoweit sei aber ein Abstandsflächenverstoß selbst dann nicht gegeben, wenn man die Oberkante des Geländers als maßgeblichen Bezugspunkt für die Berechnung heranziehe, da das Geländer ausweislich der Baugenehmigungsunterlagen an der Innenseite der Attika befestigt sei und von der Außenseite Brüstung einen Abstand von weiteren 0,50 m aufweise.

Das Gericht hat die Örtlichkeit anlässlich der mündlichen Verhandlung 23. August 2006 in Augenschein genommen.

Wegen der Einzelheiten der mündlichen Verhandlung sowie wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge ergänzend Bezug genommen.

Gründe

Soweit die Klage für die Klägerin zu 2 zurückgenommen wurde, ist das Verfahren einzustellen.

Im Übrigen ist die zulässige Anfechtungsklage unbegründet.

Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten, vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

Voraussetzung eines Abwehrrechts des Nachbarn gegen das Vorhaben des Bauherrn ist, dass das Vorhaben materiell in einer nicht durch einen rechtmäßigen Dispens ausräumbaren Weise gegen öffentlichrechtliche Vorschriften verstößt, die auch dem Schutz des Nachbarn zu dienen bestimmt sind.

Dies ist vorliegend nicht der Fall. Der von dem Beklagten unter dem 14. April 2005 erteilte Bauschein zur Errichtung eines Mehrfamilienhauses verstößt nicht gegen öffentlich rechtliche Vorschriften, die auch dem Schutz des Klägers als Nachbarn zu dienen bestimmt sind.

Die erteilte Baugenehmigung verstößt nicht gegen dem Schutz des Klägers als Nachbarn dienende bauordnungsrechtliche Vorschriften.

Das Vorhaben hält zum Grundstück des Klägers den nach der Vorschrift des § 6 der Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen (BauO NRW) notwendigen Abstand ein.

Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 BauO NRW sind vor Außenwänden von Gebäuden Flächen von oberirdischen Gebäuden freizuhalten (Abstandflächen); diese müssen auf dem Grundstück selbst liegen. Die Tiefe der Abstandsfläche bemisst sich gemäß § 6 Abs. 4 BauO NRW nach der Wandhöhe und wird nach § 6 Abs. 5 BauO NRW vorliegend mit dem Maß 0,8 H berechnet.

Davon ausgehend liegt ein Abstandsflächenverstoß zum Nachteil des Klägers durch das Bauvorhaben der Beigeladenen nicht vor. Die zum Grundstück des Klägers weisenden Abstandsflächen T 15 und T 16 sind im Ergebnis zutreffend berechnet und liegen nicht auf dem Grundstück des Klägers. Dabei kann dahinstehen, ob als maßgeblicher Bezugspunkt für die Berechnung grundsätzlich die Oberkante der Außenwand oder die Oberkante des darüber befindlichen Geländers maßgeblich ist. Selbst wenn man das Geländer als für die Bestimmung der Wandhöhe zu berücksichtigendes Bauteil ansehen würde,

zum Meinungsstand vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Beschluss vom 30. September 1996 - 10 B 2178/96 -; Gädtke/Temme/Heintz, Landesbauordnung Nordrhein- Westfalen, 10. Auflage, § 6 Rdn. 200, 201,

würde dies an dem Ergebnis der vorgenommenen Abstandsflächenberechnung nichts ändern. Denn das Geländer ist ausweislich der mit Grünstempel versehenen Baugenehmigungsunterlagen (Bl. 39, 40 BA3) von der Außenwand um 0,50 m zurückversetzt, so dass bei einer von der Oberkante des Geländers ausgehenden Abstandsflächenberechnung nicht nur die Erhöhung um 0,63 m gegenüber der Oberkante Brüstung, sonder auch der gegenüber der Oberkante Brüstung um 0,50 m größere Abstand des Geländers zum Grundstück des Klägers zu berücksichtigen wäre. Nimmt man die Oberkante Brüstung als Bezugspunkt, ergibt sich für die Abstandsfläche T 15 bei der dann maßgeblichen Höhe von 9,71 m eine einzuhaltende Abstandsfläche von 7,77 m bei einem tatsächlichen Abstand von 8,00 m. Nimmt man die Oberkante Geländer als Bezugspunkt, ergibt sich eine einzuhaltende Abstandsfläche von 8,27 m bei einem tatsächlichen Abstand von 8,50 m. Im einen wie im anderen Fall befindet sich die Abstandsfläche an gleicher Stelle auf dem Grundstück der Beigeladenen. Gleiches gilt für die Abstandsfläche T 16.

Soweit der Kläger eine Falschberechnung der Abstandsflächen T 17 und T 21 rügt, kommt eine Verletzung subjektiver Rechte des Klägers nicht in Betracht. Die Abstandsflächen T 17 und T 21 sind nicht dem Grundstück des Klägers zugewandt. Es kann deshalb im vorliegenden Verfahren dahinstehen, ob eine unzulässige doppelte Inanspruchnahme des Schmalseitenprivilegs vorliegt, weil Außenwand und Staffelgeschosswand nicht als einheitliche Wand zu sehen sind und ob die Abgrabung für die Tiefgaragenzufahrt abstandsflächenrechtlich relevant ist. Die insoweit in Rede stehenden Abstandsflächen betreffen allein die nicht im Eigentum des Klägers stehenden Reihenhausgrundstücke östlich des streitgegenständlichen Bauvorhabens. Insoweit kommt eine Verletzung subjektiver Rechte des Klägers nicht in Betracht, ein allgemeiner Gesetzesvollziehungsanspruch steht diesem nicht zu.

Das streitgegenständliche Bauvorhaben verletzt auch in bauplanungsrechtlicher Hinsicht subjektive Rechte des Klägers nicht.

Ob sich das Wohngebäude hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung insgesamt nach § 34 Abs. 1 des Baugesetzbuchs in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und das Ortsbild nicht beeinträchtigt, ist unerheblich. Denn § 34 BauGB ist insoweit nicht generell nachbarschützend. Das Maß der baulichen Nutzung betrifft vorrangig städtebauliche Gesichtspunkte und lässt den Gebietscharakter - der vorliegend durch die Wohnbebauung gewahrt wird - unberührt. Auch Beeinträchtigungen des Ortsbildes sind zwar nach § 34 Abs. 1 Satz 2 BauGB bodenrechtlich bedeutsam, aber nicht nachbarschützend.

Bei der vorzunehmenden planungsrechtlichen Beurteilung nach § 34 BauGB kann ein Verstoß gegen Nachbarrechte nur in Betracht kommen, wenn das Vorhaben in einer das Gebot der Rücksichtnahme verletzenden Art und Weise für den Nachbarn beeinträchtigend wirkt. Es ist wie ausgeführt unerheblich, ob das Vorhaben sich hinsichtlich des Maßes der Bebauung in jeder Hinsicht objektiv in die Eigenart der näheren Umgebung im Sinne des § 34 BauGB einfügt; entscheidend ist allein, ob es sich für den Nachbarn als rücksichtslos erweist. Das Gebot der Rücksichtnahme ermöglicht einen Ausgleich widerstreitender Interessen der Nach- barn bei der Verwirklichung baulicher Anlagen. Ob es verletzt ist, lässt sich jeweils nur unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles entscheiden. Erforderlich ist dabei eine Abwägung zwischen den Interessen des Rücksichtnahmeberechtigten und des Rücksichtnahmeverpflichteten. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung des berechtigten Nachbarn ist, um so mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Umgekehrt muss der Bauherr um so weniger Rücksicht nehmen, je verständlicher und unabweisbarer die von ihm verfolgten Interessen sind. Danach liegt eine Verletzung des Rücksichtnahmegebotes dann vor, wenn die durch das Bauvorhaben hervorgerufene Beeinträchtigung unter Berücksichtigung der wechselseitigen Interessen für den Nachbarn nicht mehr zumutbar ist.

Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 25. Februar 1977 - 4 C 22.75 -, BVerwGE 52, 122 ff (126).

Eine solche unzumutbare Beeinträchtigung der Belange des Klägers liegt hier nicht vor. Wie ausgeführt sind die landesrechtlichen Regelungen über die Einhaltung erforderlicher Abstandflächen, die auch der Sicherung der ausreichenden Belichtung, Besonnung und Belüftung sowie der Wahrung des Sozialfriedens dienen, vorliegend eingehalten. Das Abstandflächenrecht stellt in Bezug auf diese Belange eine Konkretisierung des Gebots nachbarlicher Rücksichtnahme dar, so dass insoweit für die Annahme eines Verstoßes gegen das Rücksichtnahmegebot regelmäßig kein Raum ist, wenn die Abstandflächenvorschriften eingehalten sind,

vgl. BVerwG, Urteil vom 11. Januar 1999 - 4 B 128.98 -, NVwZ 1999, 879.

Besonderheiten für die Annahme, der Kläger würde trotz der eingehaltenen Abstandflächen in den hierdurch geschützten oder anderen Belangen unzumutbar beeinträchtigt, sind nach dem Eindruck, den das Gericht anlässlich des Ortstermins gewonnen hat, keineswegs gegeben. Die Lage der beiden benachbarten Grundstücke und die Bebauung des Grundstücks der Beigeladenen mit einem Mehrfamilienhaus bietet keinen Anlass, einen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme trotz Einhaltung der Abstandsflächen - etwa im Hinblick auf eine erdrückende Wirkung - anzunehmen. Die Situation entspricht von der Ausgangslage her einem der Standardfälle, die der gesetzlichen Regelung in § 6 BauO NRW zu Grunde liegen. Schon angesichts des Umstands, dass ausweislich der Baugenehmigungsunterlagen die Höhe des Bauvorhabens der Beigeladenen lediglich 1,12 m über der Firsthöhe des Hauses des Klägers liegt und der Abstand zwischen den beiden Häusern etwa 13 Meter beträgt, ist eine erdrückende Wirkung auszuschließen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind erstattungsfähig, da diese einen Antrag gestellt und daher ein Kostenrisiko übernommen hat (§§ 162 Abs. 3, 154 Abs. 3 VwGO)

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 167 Abs. 1 und 2 VwGO, 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozessordnung.

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