LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 11.05.2005 - L 8 RA 43/02
Fundstelle
openJur 2011, 36828
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. S 25 (16) RA 359/99
Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 09.07.2002 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten, ob der Kläger Anspruch auf Rente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit hat.

Der am 00.00.1952 geborene Kläger erlernte von 1968 bis 1971 den Beruf des Bürokaufmanns. Nach einer Bundeswehrzeit bis September 1973 war er seit Oktober 1973 bis 1984 Verkäufer im Außendienst, später selbständiger Versicherungskaufmann. Der Versicherungsverlauf ist von November 1986 bis Februar 1995 leer. Von März 1995 bis Februar 1996 wurden Pflichtbeiträge für eine halbtags ausgeübte Geschäftsführertätigkeit entrichtet. Nach einer vom Sozialgericht eingeholten Arbeitgeberauskunft des Blumenparadieses I (= seit 1994 Lebensgefährtin des Klägers) vom 06.03.2000 war der Kläger dort als kaufmännischer Leiter mit Handlungsvollmacht mit allen Aufgaben im Bereich Einkauf, Buchführung, Bankwesen, Werbung mit dem Ziel der Kostensenkung, der Verbesserung der Ertragslage und der Organisation der bevorstehenden Auflösung des Geschäfts tätig. Dies habe eine umfassende Vorbildung im kaufmännischen Bereich mit Organisationstalent und praktischer Erfahrung im Bereich der Geschäftsführung erfordert. In die internen Belange sei der Kläger einige Tage eingearbeitet worden. Der Kläger habe alle Verhandlungen mit Lieferanten und Banken führen sowie den gesamten Zahlungsverkehr online abwickeln müssen. Das Bruttogehalt habe als frei vereinbarte Pauschalvergütung 2000,00 DM monatlich für Teilzeittätigkeit von 15 bis 20 Stunden wöchentlich nach erforderlichem Aufwand betragen. Ein großer Teil der Arbeit sei online von zuhause aus durchgeführt worden; Anwesenheit im Geschäft sei lediglich zu Verhandlungen mit Vertretern, Banken oder zu besonderen Anlässen (Ausstellungen etc.) nötig gewesen. Vorrangiges Ziel sei - auch wegen gesundheitlicher Einschränkungen, die ein anfänglich versuchtes Einkaufen im Blumengroßmarkt durch den Kläger unmöglich gemacht hätten - die Erledigung der Aufgaben, nicht die Einhaltung bestimmter Arbeitszeiten gewesen. Die Kündigung sei wegen Geschäftsaufgabe zum 31.12.1996 betriebsbedingt erfolgt. Seit März 1996 ist der Kläger arbeitslos bzw. arbeitssuchend gemeldet.

Am 26.04.1999 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Gewährung von Rente wegen Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeit. Er gab an, er leide an Erkrankungen der Wirbelsäule, Hüft- und Kniegelenke.

Die Beklagte holte ein Gutachten des Orthopäden Dr. L vom 16.06.1999 ein. Danach kann der Kläger aus orthopädischer Sicht lediglich leichteste körperliche Arbeiten in wechselnder Körperhaltung zwischen kurzem Sitzen (bis allenfalls ½ Stunde) und kurzem Gehen mit gewissen weiteren Einschränkungen maximal halb- bis untervollschichtig verrichten (letzteres explizit bezogen auf die letzte Tätigkeit als Geschäftsführer eines Blumenladens vom häuslichen Computer aus).

Nach Einholung einer Stellungnahme ihrer beratenden Ärztin Dr. T lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 23.07.1999 den Rentenantrag ab. Der Kläger leide an Verschleiß der Wirbelsäule im Halsbereich ohne Nervenwurzelkompressionssymptomatik, Wirbelsäulenverkrümmung mit Neigung zu behandelbaren Muskelverspannungen sowie leichten Verschleißerscheinungen im Bereich der großen Gelenke ohne wesentliche Funktionsminderung. Damit könne er im bisherigen Berufsbereich weiterhin vollschichtig tätig sein; gleiches gelte für den allgemeinen Arbeitsmarkt.

Der Kläger legte Widerspruch ein im Wesentlichen mit der Begründung, seine gesundheitlichen Beeinträchtigungen seien teils falsch oder unvollständig gewürdigt worden. Sein ihm zuerkannter Grad der Behinderung (GdB) von 60 mit anerkannter Gehbehinderung (Merkzeichen "G") sei nicht berücksichtigt worden. Die Begründung durch den Gutachter Dr. L sei eindeutig. Hinsichtlich der Zumutbarkeit seien die "Vorgaben des Bundessozialgerichts nicht berücksichtigt" worden; er sei seit 1982 ständig in führender oder leitender Position tätig gewesen, und eine weisungsgebundene Tätigkeit ohne Eigenverantwortung sei ihm nicht zumutbar. Eine mögliche Resterwerbsfähigkeit sei auf dem Arbeitsmarkt tatsächlich nicht verwertbar.

Die Beklagte zog medizinische Unterlagen des Versorgungsamts T über den Kläger bei und holte im Anschluss daran ein Gutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. S vom 16.09.1999 ein. In der Anamnese findet sich u.a. die Äußerung des Klägers, inzwischen habe er genug Pflichtbeiträge für einen Rentenantrag angesammelt und deshalb den Antrag gestellt. Zuhause sitze er durchaus effektiv viele Stunden am Computer, mache aber alle zwei Stunden eine Pause, in der er sich z.B. hinlege oder Kaffee trinke. Er suche einen Online-Arbeitsplatz, den er von zuhause aus erledigen könne. Er fühle sich nicht grundsätzlich, aber juristisch erwerbsunfähig. Als Diagnosen nennt das Gutachten eine bekannte Torsionsskoliose bei Zustand nach Morbus Scheuermann, ferner die Diagnosen des orthopädischen Gutachtens. Es bestehe ein Lendenwirbelsäulensyndrom mit Hinweisen auf eine diskrete Wurzelirritation L5 links ohne beweisende Zeichen einer Wurzelkompression, ferner ein Halswirbelsäulensyndrom ohne beweisende Zeichen einer Wurzelkompression. Beweisende seelische Erkrankungen beständen nicht. Der Kläger konsumiere abends regelmäßig Marihuana i.S. eines Schlafmittels; eine Suchterkrankung im engeren Sinne bestehe nicht. Vom nervenärztlichen Fachgebiet beständen keine entscheidend leistungseinschränkenden Veränderungen; im Vordergrund ständen die orthopädischen Leiden. Die letzte Tätigkeit könne vollschichtig ausgeübt werden; leichte körperliche Tätigkeiten ohne Zwangshaltungen seien möglich.

Mit Widerspruchsbescheid vom 03.12.1999 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Hiergegen hat der Kläger am 29.12.1999 Klage erhoben. Er hat u.a. vorgetragen, von 1985 bis 1995 selbständig eine Agentur für den E und die O Versicherung betrieben zu haben. Überwiegend sei er im Außendienst tätig gewesen. Wegen zunehmender gesundheitlicher Beschwerden habe er die Geschäftsziele im Außendienst nicht mehr erreichen können, weshalb die Agenturverträge durch die Versicherer gekündigt worden seien. Zuletzt habe er für das Blumengeschäft die kaufmännische Leitung gehabt. Er habe beim Versorgungsamt einen Verschlimmerungsantrag gestellt, da seine orthopädischen Leiden und ein Asthma bronchiale einen höheren GdB rechtfertigten.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 23.07.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.12.1999 zu verurteilen, dem Kläger ab 01.05.1999 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise Berufsunfähigkeit, zumindest ab 01.01.2001 Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit, zu gewähren.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat an ihrer Entscheidung festgehalten.

Das Sozialgericht hat zunächst ein Gutachten des Orthopäden Dr. C vom 27.06.2000 eingeholt. Dieser ist zu folgenden Diagnosen gelangt: (1.) S-förmige Wirbelsäulenskoliose, Hauptkrümmung im mittleren und unteren Brustwirbelsäulenabschnitt rechtskonvex, Gegenschwingung der Lendenwirbelsäule nach linkskonvex, jeweils mit Rotation und Teilfixierung, (2.) Zustand nach Morbus Scheuermann an Brust- und Lendenwirbelsäule, (3.) chronisches Lumbalsyndrom durch umschrieben vermehrten Verschleiß des Bandscheibenfaches L5/S1, mögliche sensible S1-Symptomatik links, (4.) ausgeprägter Verschleiß der Halswirbelsäule mit Bewegungseinschränkung und Muskelverspannung, mögliche radikuläre Schmerzausstrahlungen in die Schulter-Arm-Partien, (5.) klinisch initiale, röntgenologisch mittelgradig ausgeprägte Coxarthrosen beidseits, (6.) Zustand nach Morbus Schlatter rechtes Kniegelenk, dringender Verdacht auf retropatellare Knorpelschäden rechtes Knie, aktuell ohne Bewegungseinschränkungen und Reizzustände sowie (7.) Hallux rigidus rechts. Möglich seien noch leichte körperliche Tätigkeiten, die unbedingt in wechselnder Körperhaltung geleistet werden sollten. Nach ca. einer Stunde im Sitzen und etwa 45 Minuten im Stehen nähmen wegen der ausgeprägten Skoliose die Rückenschmerzen zu; bei der Arbeit müsse daher die Körperhaltung nach 45 bis 60 Minuten variiert werden können. Zwangshaltungen, auch zeitweiliges aber regelmäßiges Bücken, und ständige Lasten über 5kg seien nicht abzufordern; kurzfristig und ausnahmsweise könnten Gegenstände bis 15kg angehoben werden. Nicht möglich seien Arbeiten auf Gerüsten, Leitern oder Regalleitern. Einwirkungen von Kälte, Nässe und Zugluft seien zu meiden. Wünschenswert sei Arbeit nur in geschlossenen Räumen; gelegentlich könne aber auch im Freien unter Witterungsschutz gearbeitet werden. Nachtschicht und besonderer Zeitdruck seien nicht mehr möglich, Wechselschicht wohl, allerdings nicht wünschenswert. Gegen häufigen Publikumsverkehr sprächen keine Bedenken. Die Gebrauchsfähigkeit der Hände sei nicht eingeschränkt, auch Bildschirmarbeiten seien grundsätzlich noch möglich, wenn eine variierende Körperhaltung gewährleistet sei und der Kläger nicht länger als eine Stunde ununterbrochen vor dem Bildschirm sitzen müsse; anderenfalls seien zusätzliche Pausen von ca. 5 Minuten nötig. Die zumutbaren Arbeiten seien vollschichtig möglich. Die Gehfähigkeit sei nicht relevant eingeschränkt. Der Kläger verfüge über einen Führerschein und ein Auto; lange Fahrstrecken etwa im Fernverkehr sollten allerdings nicht mehr abgefordert werden. Die jetzigen Krankheiten seien wohl schon deutlich vor Antragstellung im Jahre 1999 eingetreten, wobei sich konkrete Zeitpunkte für das erstmalige Auftreten nicht mehr benennen ließen. Das allabendliche Canabispfeifchen sei als Therapie sicher unzureichend. Eine dauerhafte Hebung der Leistungsfähigkeit sei allerdings auch bei Therapie nicht zu erwarten.

Nach einem nochmaligen Hinweis des Klägers, er leide an einer Asthmaerkrankung, hat das Sozialgericht einen Befundbericht des Internisten Dr. I vom 11.09.2000 eingeholt. Darin sind nur orthopädische Leiden als Diagnosen verzeichnet. In einer ergänzenden Stellungnahme vom 04.10.2000 hat Dr. I ausgeführt, er habe in seinem Befundbericht eine chronisch obstruktive Lungenkrankheit des Klägers schlicht vergessen. Eine Bronchitis habe bei ihm seit 1995 bestanden, seit Ende 1999 seien die Atemwege stärker eingeengt.

Das Sozialgericht hat ein Gutachten der Internistin, Lungen- und Bronchialheilkundlerin Dr. M vom 21.11.2000 eingeholt mit den Diagnosen (1.) Varicosis beider Unterschenkel sowie (2.) chronisch obstruktive Atemwegserkrankung i.S. eines Athma bronchiale und alveoläre Überblähung. Internistischpneumologisch seien körperlich leichte und auch knapp mittelschwere Tätigkeiten vollschichtig möglich, wechselweise im Stehen, Gehen oder Sitzen, wobei ausschließliches oder überwiegendes Sitzen wegen des Krampfaderleidens und der orthopädischen Erkrankungen ungünstig sei; ein Wechsel der Körperhaltung müsse garantiert sein. Die Gehfähigkeit sei nicht eingeschränkt. Mit der Leistungsbeurteilung im vorliegenden orthopädischen Gutachten (Dr. C) werde übereingestimmt, wobei die orthopädischen Leiden zu den größeren Einschränkungen führten.

Das Sozialgericht hat bei dem Gutachter Dr. L eine Stellungnahme vom 20.02.2001 eingeholt. Darin ist ausgeführt, durch ein Sekretariatsversehen seien folgende Diagnosen nicht mit in sein Gutachten gelangt: (1.) Hallux rigidus rechts, (2.) Zustand nach Morbus Osgood-Schlatter (= sog. "juvenile Osteochondrose") rechtes Knie, idiopathische Skoliose mit statischer Auswirkung, Primärkrümmung Brustwirbelsäule, Torsionsstadium Moe III, (3.) Morbus Scheuermann sowie (4.) beginnende Coxarthrose beidseits, rechts röntgenologisch stärker ausgeprägt, links klinisch stärker. Bei einem Vergleich mit dem Gutachten Dr. C stimmten die Diagnosen überein, wobei er zusätzlich Schulterbeschwerden aufgrund eines Engpasssyndroms links festgestellt habe. Auch die sozialmedizinische Epikrise stimme überein, wobei Dr. C noch zusätzliche Pausen vorsehe. Da der Kläger ihm gegenüber geäußert habe, nicht einmal die letzte halbtägige Tätigkeit am PC ausüben zu können, gegenüber Dr. C jedoch, dass er sich selbst durchaus für vollschichtig arbeitsfähig halte, könne man insoweit Dr. C nur zustimmen; er halte seine eigene Beurteilung des Leistungsvermögens daher nicht mehr aufrecht.

Auf Antrag des Klägers hat das Sozialgericht nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein Gutachten des Chirurgen Dr. C1 vom 23.10.2001 eingeholt mit folgenden Diagnosen: (1.) S-förmige Wirbelsäulenverkrümmung mit Rotation, wobei die Hauptkrümmung im mittelunteren Brustwirbelsäulenabschnitt mit kompensatorischer Gegenschwingung der Lendenwirbelsäule vorliege; zum Teil Eintritt einer knöchernen Fixierung, (2.) Zustand nach Morbus Scheuermann an Brust- und Lendenwirbelsäule, (3.) chronifiziertes Lumbalsyndrom, insbesondere im Bereich der Wirbelkörper L5/S1 mit fraglicher sensibler Mitbeteiligung des Versorgungsgebietes L5/S1, (4.) schwerstgradiger Verschleiß der Halswirbelsäule mit Bewegungseinschränkung bei der Rotationsbewegung, (5.) diskrete degenerative Veränderungen beider Hüftgelenke, (6.) Zustand nach Morbus Schlatter rechtes Kniegelenk ohne Bewegungseinschränkung, ohne Schmerzsymptomatik, ohne Ergussbildung, (7.) Hallux rigidus, (8.) Varikosis beider Unterschenkel und (9.) durch anderes Gutachten festgestellte chronisch obstruktive Atemwegserkrankung i.S. eines Asthma bronchiale und alveolärer Überblähung. Mittelschwere und schwere Arbeiten seien nicht mehr möglich; leichte Arbeiten sollten in wechselweiser Belastung aus Stehen, Sitzen und Laufen mit regelmäßigen Wechseln bei nicht fixierter Körperhaltung durchgeführt werden, wobei eine definierte Position von bis zu einer Stunde zumutbar erscheine. Kurzfristige Ruhepausen von ca. fünf Minuten innerhalb einer Stunde sollten möglich sein. Die Gebrauchsfähigkeit beider Hände sei nicht eingeschränkt; Bildschirmarbeit sei auch acht Stunden täglich möglich, wenn Gelegenheit zum Wechsel der Körperhaltung bestehe. Die (mit gewissen weiteren Einschränkungen) zumutbaren Tätigkeiten seien vollschichtig möglich. Ob der Kläger Arbeit finden könne, bei der er fünf Minuten pro Stunde eine liegende Haltung einnehmen könne, sei äußerst zweifelhaft. Die Gehfähigkeit sei nicht relevant eingeschränkt, öffentliche Verkehrsmittel benutzbar. Änderungen des Leistungsvermögens im Vergleich zu den Vorgutachten seien nicht zu erkennen. Man habe den Eindruck, dass bei entsprechend langer Untersuchungsdauer eine zunehmend freiere Beweglichkeit zu erzielen sei, ferner einer über Jahre fortentwickelten Fixation auf die einzelnen Leidensabschnitte. Insgesamt sehe es so aus, als ob der Kläger "keine Einstellung zu den persönlichen Beeinträchtigungen, der persönlichen Lebenssituation und seiner beruflichen Zukunft" habe und es insofern voraussichtlich keinerlei Möglichkeiten gebe, ihn wieder in ein geregeltes Arbeitsleben einzugliedern. Eine psychiatrische Begutachtung sei empfehlenswert.

Das Sozialgericht hat ein Gutachten des Neurologen, Psychiaters und Psychotherapeuten PD Dr. C2 vom 05.03.2002 eingeholt. In der Anamnese ist ausgeführt, der Kläger fühle sich eigentlich nicht arbeitsunfähig. Er sei auch im Internet sehr aktiv, wo er die erste deutsche Auktion historischer Schreibgeräte betreibe. Er sitze (nach seinen Angaben) von morgens bis abends am Computer, "vom Aufstehen bis zum Hinlegen"; dies sei ihm möglich, weil er zwischendurch nach eigenem Willen aufstehen und umhergehen könne. Auf nervenärztlichem Gebiet bestehe eine sensible L5/S1-Wurzelsymptomatik im linken Oberschenkelbereich. Psychopathologische Befunde seien auszuschließen. Daneben lägen die orthopädischen und internistischen Diagnosen vor. Der Kläger könne noch körperlich leichte Arbeiten überwiegend im Sitzen verrichten, wobei ein Wechsel der Körperhaltung garantiert sein müsse. Die Arbeiten seien ohne Bücken, Knien oder sonstige Zwangshaltungen auszuführen. Lasten bis 5kg könnten gehoben und getragen werden, ausnahmsweise und kurzfristig könnten solche bis 15kg angehoben werden. Möglich seien Arbeiten auf Regalleitern und mit Treppensteigen, im Freien mit Witterungsschutz i.S. angepasster Kleidung, solche ohne besondere Nässe-, Hitze-, Kälte- und Zuglufteinwirkungen und/oder atembelastende Stoffe, Lärm und Schmutz. Nicht möglich seien Nachtschicht sowie Akkord- und Fließbandarbeiten. Möglich seien Arbeiten an Schreibmaschine oder PC, mit durchschnittlichen Anforderungen an Reaktionsfähigkeit, Übersicht, Aufmerksamkeit, Verantwortungsbewusstsein und Zuverlässigkeit sowie geistig schwierige Aufgaben. Die Gebrauchsfähigkeit der Hände sei nicht eingeschränkt. Der Kläger könne noch vollschichtig arbeiten und bei Möglichkeit des zwischenzeitlichen Wechsels der Körperhaltung unter betriebsüblichen Bedingungen. Die Gehfähigkeit sei nicht eingeschränkt, ebenso die Benutzung eines KFZ. Auch Arbeiten als kaufmännischer Angestellter seien vollschichtig ohne große Schmerzen möglich. Der Kläger habe auch jetzt von einer ganztägigen Beschäftigung am Schreibtisch berichtet.

Mit Urteil vom 09.07.2002 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Der Kläger könne nach dem Ergebnis der im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren eingeholten Gutachten noch jedenfalls körperlich leichte Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung vollschichtig unter betriebsüblichen Bedingungen verrichten und besitze auch Wegefähigkeit. Auch der Gutachter Dr. L habe seine ursprünglich andere Einschätzung später aufgegeben. Der Kläger sei auch nicht berufsunfähig. Dabei könne dahinstehen, ob als seine letzte Tätigkeit die bei einer Versicherungsgesellschaft ausgeübte Tätigkeit eines Organisationsleiters oder die eines Geschäftsführers bzw. kaufmännischen Leiters eines Blumengeschäftes anzusehen sei. In jedem Falle sei er günstigstenfalls als Angestellter mit regelmäßig dreijähriger Ausbildung einzustufen; beide Tätigkeiten fußten auf der Ausbildung des Klägers zum Bürokaufmann. Betriebliche Fortbildungen zum Organisationsleiter, von denen der Kläger berichtet habe, seien ungeeignet, eine noch höhere Eingruppierung i.S.d. beruflichen Mehrstufenschemas der Rechtsprechung zu rechtfertigen. Insoweit fehle es an einem Hochschulstudium oder an einer noch höheren Qualifikation. Entsprechend habe der Kläger versicherungspflichtig auch stets unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze Beiträge entrichtet. Er sei mit seinem Restleistungsvermögen noch zumutbar verweisbar auf die körperlich leichten Tätigkeiten eines Bürokaufmannes oder eines Geschäftsführers bzw. kaufmännischen Leiters. Bei solchen Tätigkeiten fielen je Stunde etwa sieben Minuten persönlicher Verteilzeit an (LSG NRW vom 30.10.2000 - L 3 RJ 125/98), die der Kläger für Ruhepausen nutzen könne. Auch nach neuem Rentenrecht seien die Anspruchsvoraussetzungen nicht erfüllt.

Gegen das am 26.07.2002 zugestellte Urteil hat der Kläger am 26.08.2002 Berufung eingelegt und auf eine schmerztherapeutische Behandlung im N-hospital M hingewiesen (Attest vom 29.10.2002). Er trägt vor, die Gutachter Dr. C und Dr. L unterstellten fälschlich, dass er sich selbst für vollschichtig erwerbsfähig halte. Eine entsprechende Äußerung gegenüber Dr. C habe er nie gemacht.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 09.07.2002 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 23.07.1999 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.12.1999 zu verurteilen, an den Kläger ab dem 01.05.1999 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit, hilfsweise ab dem 01.01.2001 Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit, nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für richtig. Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen seien bei Rentenantragstellung erfüllt gewesen.

Der Senat hat einen Befundbericht des Dr. T1 (Klinik für spezielle Schmerztherapie J) vom 29.01.2003 eingeholt. Dieser nennt als Diagnosen Schmerzkrankheit sowie HWS-, BWS- und LWS-Syndrom. Der Kläger sei dort erstmals am 04.10.2001, letztmals 12.12.2002 behandelt worden; er sei pharmakologisch auf das Opioidanalgetikum Valoron 50mg und Valoron Tropfen sowie Saroten eingestellt. Eine wesentliche Besserung des Gesundheitszustandes sei noch nicht eingetreten.

Im Befundbericht des Anästhesisten und speziellen Schmerztherapeuten T2 vom 01.04.2003 ist als Diagnose ein chronisches Schmerzsyndrom der Wirbelsäule genannt.

Der Senat hat ein Gutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. F vom 23.01.2004 eingeholt, das dieser unter Hinzuziehung einer testpsychologischen Untersuchung des Klägers durch den Diplom-Psychologen I1 erstellt hat. Dem Gutachter hat der Kläger eine von ihm gefertigte Mappe zu seinem Tagesablauf vorgelegt(Aktenbestandteil). Danach verbringt er fünf Stunden täglich mit Arbeit für die Betreuung seiner (über 1000seitigen) Homepage und den Versand von Füllfederhaltern. Der Kläger habe gleich zu Beginn deutlich gemacht, es gehe ihm darum, zu zeigen, dass er nicht drogensüchtig und auch nicht vermindert leistungsbereit sei. Genau diesen Eindruck habe er dann jedoch erzeugt. Angesichts des recht aktiven Tagesablaufs lasse sich eine verminderte Leistungsfähigkeit mindestens für leichte Bürotätigkeiten nicht feststellen. Ein körperlicher Anhalt für die von ihm nach körperlicher Anstrengung als notwendig benannten oft tagelangen Pausen finde sich nicht. Es bestehe zwar eine deutliche Torsionsskoliose; der Kläger habe jedoch während des etwas über zweistündigen Gesprächs eine durchaus entspannte Sitzhaltung einnehmen können, und das Gangbild sei flott und raumgreifend gewesen, auch bei längeren Wegen innerhalb des Krankenhauses zu verschiedenen Untersuchungen. Auch hätten sich keine Hinweise auf unerwünschte Nebenwirkungen der Morphingaben gezeigt, die die berufliche Leistungsfähigkeit minderten. Den Weg von Altena nach Recklinghausen habe der Kläger im eigenen PKW zurückgelegt. Eine affektive Störung oder eine Störung der geistigen Leistungsfähigkeit habe sich weder klinisch noch testpsychologisch nachweisen lassen. Auch das EEG zeige keinen wesentlichen Medikamenteneffekt. Bereits seit langem nehme er Marihuana ein und sehe dies selbst als aus medizinischen Gründen erfolgend an. Angesichts der Lebensgestaltung, die zum Teil auf Schonung und Versorgung ausgerichtet sei, ergebe sich jedoch eher der Verdacht, dass Marihuana auch wesentlich wegen der psychotropen Effekte eingenommen werde. Es sei zudem anzuzweifeln, dass Morphium die einzig sinnvolle Therapieoption für die Rückenbeschwerden darstelle. Neben der ausgeprägten Torsionsskoliose gebe es Hinweise auf eine Meralgia paraesthetica links, die jedoch vom Kläger selbst nicht als schlimm empfunden werde und auch sonst keinen wesentlichen Einfluss auf die Leistungsfähigkeit habe. Höhergradige, insbesondere radikuläre neurologische Symptome ließen sich nicht feststellen. Geistige bzw. seelische Defizite lägen nur in Form des langjährigen Marihuanamissbrauchs vor, der sich jedoch ebenfalls beruflich nicht leistungsmindernd auswirke. Gedächtnisschwäche oder Unkonzentriertheit seien nicht feststellbar. Es habe sich durchaus der Eindruck vom Vorliegen einer Rentenneurose ergeben. Im Wesentlichen aufgrund der skoliotischen Veränderungen der Wirbelsäule könnten nur noch leichte Tätigkeiten ausgeübt werden, die einen Wechsel der Körperhaltung ermöglichen sollten, wobei es jedoch bei überwiegend sitzender Tätigkeit ausreiche, dass gelegentliches Aufstehen und Umhergehen erfolgen könne, wie dies bei Büroarbeiten durchweg möglich sei. Vorzugsweise sollten die Tätigkeiten in geschlossenen Räumen ausgeübt werden. Zusätzlich beständen Einschränkungen für Akkord- und Fließbandarbeiten wegen der damit verbundenen Zwangshaltungen; aus diesem Grund sollten auch Leiter- und Gerüstarbeiten nicht verlangt werden. Eine Einschränkung des geistigen Leistungsvermögens bestehe nachweislich nicht. Ein KFZ könne benutzt werden; eine Beeinträchtigung der Fahreignung habe sich auch mit Blick auf die Morphingabe nicht objektivieren lassen. Mehr als 500m könnten in 15 Minuten zurückgelegt werden. Öffentliche Verkehrsmittel könnten uneingeschränkt benutzt werden; das Warten in wetterfester Kleidung an der Haltestelle sei zumutbar. Unter diesen Einschränkungen könne der Kläger vollschichtig, regelmäßig und unter betriebsüblichen Bedingungen arbeiten.

Der Kläger hat hierzu u.a. eine Stellungnahme des Geschäftsführenden Direktors Dr.H der International Association for Cannabis as Medicine vom 25.02.2004 vorgelegt. Darin wird zusammengefasst, Cannabisprodukte könnten bei Schmerzen und Schlafstörungen erfolgreich medizinisch verwendet werden. Es beständen keine Anzeichen dafür, dass der Kläger Cannabis missbräuchlich oder abhängig verwendet habe. Entweder fehlten dem Gutachten Dr. F Begründungen für die vorgetragenen Behauptungen, oder sie könnten aus sachlicher Sicht nicht überzeugen. Das Gutachten sei durch mangelnde Kenntnisse und Vorurteile geprägt. Es vermittle sich der Eindruck, der Gutachter habe seine negative undifferenzierte Einstellung zu Cannabis auf den Begutachtenden, der schließlich diese in den Augen des Gutachters schädliche Droge konsumiere, übertragen.

Der Senat hat hierzu eine ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen Dr. F vom 29.06.2004 eingeholt. Darin ist u.a. ausgeführt, es stimme schon, dass er nicht unerhebliche Vorbehalte gegen die Einnahme von THC-Produkten habe. Unberührt davon sei allerdings die Begründung dieser Einnahme durch den Kläger nicht unbedingt rational nachvollziehbar. So gebe es z.B. ebenso wirksame, aber ungefährliche Schlafmittel, die auch nicht illegal besorgt werden müssten. Die medizinische Verordnung von THC sei im Übrigen etwas anderes als die zusätzliche Einnahme durch den Kläger, von der der behandelnde Arzt lediglich wisse. Den Begriff der Rentenneurose (nach der in der Beweisanordnung ausdrücklich gefragt gewesen sei) habe er in dem Sinne benutzt, dass Krankheitssymptome überbewertet und ein möglicher Ausweg sich für den Betroffenen nur in der Erlangung einer Rente darstelle, so dass er in diesem Wunsch im Rahmen einer neurotischen Fehlhaltung fixiert sei.

Auf Antrag des Klägers hat der Senat nach § 109 SGG ein Gutachten des Anaesthesisten und speziellen Schmerztherapeuten Dr. T1 (N-hospital M) vom 30.03.2005 eingeholt. Hinsichtlich des Marihuana-Konsums teilt dieser Sachverständige die Ansicht des Gutachters Dr. F. Das Gutachten gelangt zu den Diagnosen (1.) Schmerzkrankheit, (2.) somatoforme Schmerzstörung und (3.) algogenes Psychosyndrom. Der Kläger könne dauerhaft und vollschichtig leichte Arbeiten verrichten in wechselnder Position stehend, gehend und sitzend mit gewissen weiteren Einschränkungen. Wegefähigkeit bestehe.

Der Senat hat ein in dem Rechtsstreit L 8 RA 62/99 erstattetes berufskundliches Gutachten des Ingenieurs T aus dem Jahre 2001 auszugsweise zum Gegenstand des Berufungsverfahrens gemacht; auf dieses Gutachten (Bl. 534 - 545 Gerichtsakte) wird Bezug genommen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Der Inhalt war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Gründe

Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet.

Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid vom 23.07.1999 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.12.1999 verletzt den Kläger nicht i.S.v. § 54 Abs. 2 SGG in seinen Rechten. Die Beklagte hat es zu Recht abgelehnt, dem Kläger Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit bzw. wegen Erwerbsminderung zu gewähren.

Zur Begründung nimmt der Senat zunächst nach § 153 Abs. 2 SGG Bezug auf die zutreffenden Entscheidungsgründe des sozialgerichtlichen Urteils.

Ergänzend ist auszuführen, dass die im Berufungsverfahren durchgeführte weitere Beweisaufnahme die Beurteilung des Leistungsvermögens des Klägers durch das Sozialgericht einschränkungslos bestätigt hat. Der vom Senat gehörte neurologischpsychiatrische Sachverständige Dr. F hat in seinem Gutachten vom 23.01.2004 unter Berücksichtigung einer ausführlichen testpsychologischen Untersuchung des Klägers durch einen Diplom-Psychologen weder höhergradige (insbesondere radikuläre) neurologische Symptome noch geistige bzw. seelische Defizite feststellen können und - bei recht aktivem Tagesablauf - keine Anhaltspunkte für die Notwendigkeit der vom Kläger behaupteten oft tagelangen Pausen nach körperlicher Anstrengung gesehen. Vielmehr sei der Kläger regelmäßig zu vollschichtig leichten Tätigkeiten bei wechselnder Körperhaltung - z.B. Bürotätigkeiten - in der Lage. Das Gutachten des Dr. F, mit dem der Senat eine langjährige Arbeitserfahrung besitzt und der ihm als ausgesprochen gründlich untersuchender und beurteilender Sachverständiger bekannt ist, ist in sich plausibel, widerspruchsfrei und überzeugend. Die Anwürfe in der vom Kläger gegen das Gutachten vorgelegten Äußerung des Geschäftsführenden Direktors der International Association für Cannabis as Medicine, Dr. H, vom 25.02.2004 hat Dr. F im Hinblick auf seine Leistungsbeurteilung beim Kläger in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 29.06.2004 überzeugend entkräftet. Im Übrigen steht das rentenrechtsrelevante Ergebnis seines Gutachtens in Übereinstimmung mit sämtlichen anderen vom Sozialgericht eingeholten Gutachten. Das einzig im Sinne des Klägers positive Gutachten des Dr. L aus dem Verwaltungsverfahren hat dieser Sachverstände später im Anschluss an ein weiteres (gründlicheres) Gutachten selbst korrigiert.

Insgesamt liegt daher ein geschlossenes Beweisergebnis vor, das für den Kläger als Bürokaufmann eine ausreichende Restleistungsfähigkeit aufzeigt und einen Rentenanspruch ausschließt. Denn mit dieser Restleistungsfähigkeit kann der Kläger etwa in der EDV-gestützten Registratur, wie sie in dem zum Gegenstand des Berufungsverfahrens gemachten berufskundklichen Gutachten des Ingenieurs T beschrieben ist, oder bei ähnlichen Arbeiten auf der Ebene des Bürokaufmanns - gerade auch mit seinen durch seine private Tätigkeit nachgewiesenen ausgeprägten EDV-Kenntnissen - vollschichtig und regelmäßig tätig sein.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG bestehen nicht.

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