OLG Hamm, Urteil vom 06.12.2004 - 3 U 183/04
Fundstelle
openJur 2011, 34775
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. 8 O 232/99
Tenor

Auf die Berufung des Beklagten wird das am 21. April 2004 verkündete Urteil der 8. Zivilkammer des Landgerichts Hagen abgeändert.

Es wird festgestellt, dass der Rechtsstreit vor dem Landgericht durch den Vergleich vom 19.11.2003 nicht erledigt ist.

Die Kosten des Berufungsverfahrens werden der Klägerin auferlegt, allerdings werden die Gerichtskosten des Berufungsverfahrens niedergeschlagen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

Die Parteien schlossen in der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht am 19.11.2003 einen Widerrufsvergleich, der unter Ziffer III lautet: "Beide Parteien behalten sich den Widerruf des Vergleichs durch schriftliche Anzeige zur Gerichtsakte bis zum 17.12.2003 vor". Der Widerrufsschriftsatz der Prozessbevollmächtigten des Beklagten ging am 17.12.2003 im gemeinsamen Nachtbriefkasten der Justizbehörden Hagen (Amtsgericht und Landgericht) und am 18.12.2003 bei dem Landgericht Hagen ein. Das Landgericht hat festgestellt, dass der Rechtsstreit durch den Vergleich vom 19.11.2003 erledigt sei. Es hat die Auffassung vertreten, der Widerrufsschriftsatz sei innerhalb der Widerrufsfrist nicht zur Gerichtsakte gelangt. Auf die tatsächlichen Feststellungen in dem angefochtenen Urteil wird Bezug genommen (§ 540 I Nr. 1 ZPO). Dagegen wendet sich der Beklagte mit der Berufung. Er hält den Widerruf für rechtzeitig.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil das Landgerichts Hagen vom 21.4.2004 abzuändern und feststellen, dass der Rechtsstreit vor dem LG Hagen - 8 O 232/99 - durch den Vergleich vom 19.11.2003 nicht beendet (nicht erledigt) ist.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie vertritt im Wesentlichen die Auffassung, dass der Beklagte den Vergleich nicht rechtzeitig widerrufen habe.

Wegen der weiteren Einzelheiten des zweitinstanzlichen Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und das Sitzungsprotokoll zum Senatstermin vom 6. Dezember 2004 Bezug genommen.

II.

1.

Die Berufung ist zulässig (§ 511 I ZPO). Ein Feststellungsurteil, welches die Erledigung des Rechtsstreits durch den Vergleich ausspricht, ist ein die Instanz abschließendes Endurteil (BGH, NJW 1996, 3345; Zöller/ Stöber, ZPO, 24. Aufl., § 794 Rn. 15a).

2.

Die Berufung ist begründet. Der Beklagte hat den Widerrufsvergleich rechtzeitig widerrufen. Eine Frist für den Eingang eines Widerrufsschriftsatzes bei Gericht wird auch dann gewahrt, wenn der Schriftsatz vor Fristablauf in die Verfügungsgewalt des Gerichts gelangt, auch wenn im Vergleich "Anzeige zu den Gerichtsakten" oder "Einreichung zur Geschäftsstelle" vereinbart ist (BVerfG, Beschluss vom 3.10.1979, 1 BvR 726/78, BVerfGE 52, 203 ff = NJW 1980, 580; Münzberg, in: Stein/ Jonas, ZPO, 22. Aufl., 2002, § 794 Rn. 87). Gerade die Formulierung "Widerruf … zur Gerichtsakte" ist auslegungsbedürftig, weil sie zeitlich und räumlich schwer zu fixieren ist (so bereits Bergerfurth, NJW 1969, 1798). Es liegt außerhalb des Einflussbereichs der Parteien, ob und wann ein bei einer zentralen Postannahmestelle eingegangener Schriftsatz zur Geschäftsstelle und dort – innerhalb der zeitlich beschränkten Dienstzeit - zu den Akten gelangt. Das hat allein justizinterne Gründe (vgl. BVerfGE 52, 203, 212). Es liegt im Interesse beider Parteien, den Widerruf nicht Erfordernissen zu unterstellen, auf die die Parteien keinen Einfluss haben (so BGH, NJW 1980, 1752, 1753 mit Anm. Grundmann, JR 1980, 331).

Insbesondere kommt es für die Frage der Rechtzeitigkeit auf die Mitwirkung von Justizbediensteten nicht an (BVerfGE 52, 203, 212; BVerfG, NJW 1986, 244; BGH, NJW-RR 1989, 1214, 1215). Der Auffassung des Landgerichts, der Beklagte hätte am 17.12.2003 durch einen Anruf bei der Geschäftsstelle dafür Sorge tragen können, dass der Schriftsatz zu den Gerichtsakten gelangt, ist vor diesem Hintergrund nicht beizutreten. Die Widerrufsfrist endet am Tag des Fristablaufs um 24.00 Uhr (vgl. nur BVerfGE 52, 203, 211). Entgegen der Auffassung der Klägerin kann es deshalb auch nicht darauf ankommen, ob der Widerrufsschriftsatz persönlich auf der Geschäftsstelle abgegeben werden konnte oder musste. Mit der Abgabe auf der Geschäftsstelle (oder Ablage in ein Fach der Geschäftsstelle auf der Wachtmeisterei) ist ein Schriftsatz - wörtlich genommen - im Übrigen immer noch nicht zu den Gerichtsakten gelangt. Akten, auch Retentakten, können falsch zugetragen, verfächert oder sonst außer Kontrolle geraten sein. Das zeigt, dass die Klägerin den Vergleich selbst nicht wortwörtlich versteht, weil sie "Gerichtsakten" mit "Geschäftsstelle" gleichsetzt. Gerade in Fristfragen muss aber klar erkennbar sein, was der Bürger zu tun hat, um einen Rechtsverlust zu vermeiden (BVerfGE 52, 203, 212). Es ist deshalb nicht notwendig, dass ein Schriftsatz körperlich einer bestimmten Akte zugeordnet wird. Für den geplanten elektronischen Rechtsverkehr (vgl. BT-Drucks. 15/4067 vom 28.10.2004 mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Justizkommunikationsgesetz) wären Differenzierungen zwischen dem Eingang eines elektronischen Dokuments in der virtuellen Poststelle des Gerichts und einer elektronisch geführten Prozessakte noch weniger einzusehen. Vor diesem Hintergrund ist die Formulierung, wonach der Vergleichswiderruf durch "schriftliche Anzeige zur Gerichtsakte" zu erfolgen habe, letztlich einem Fall der unschädlichen Falschbezeichnung gleichzustellen (vgl. Jungk, BRAK-Mitteilungen 2004, 160).

3.

In der Sache weist der Senat darauf hin, dass der Rechtsstreit noch nicht entscheidungsreif ist. Zu der Frage, ob die unzureichende Thromboseprophylaxe vor der Hysterektomie am 23.10.1996 als medizinisch grober Behandlungsfehler zu bewerten ist, hat der (gynäkologische) Sachverständige bisher nicht Stellung genommen. Die Annahme eines groben Behandlungsfehlers ist zwar eine juristische Wertung, beruht jedoch auf tatsächlichen Anhaltspunkten (BGH, VersR 1996, 148; BGH, NJW 2001, 2791; Steffen/ Dressler, Arzthaftungsrecht, 9. Aufl., Rn. 518; Laufs/ Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., § 110 Rn. 4; Palandt/ Sprau, BGB, 64. Aufl., § 823 Rn. 162, jeweils m. w. N.). Ohne fachliche Würdigung durch den Sachverständigen wird sich nicht klären lassen, ob ein grober Behandlungsfehler vorliegt. Zu der weiteren Frage, ob die Thrombose rechtzeitig erkannt wurde (S. 2 des Schriftsatzes der Klägerin vom 18.4.2002/ Bl. 150 d.A.), wird das Landgericht (unter Beiziehung der Behandlungsunterlagen) ebenfalls noch Feststellungen zu treffen haben.

Seine Passivlegitimation stellt der Beklagte zu Unrecht in Frage. Er macht geltend, dass er die Heparingabe dem Anästhesisten überlassen habe, der wiederum das Pflegepersonal instruiert habe. Gleichwohl bleibt der Beklagte als Operateur verantwortlich für die Thromboseprophylaxe. Dies gehört nicht zu den Aufgaben des Anästhesisten. Wenn der Beklagte diese Aufgabe auf den Anästhesisten oder auf Pflegepersonal delegiert, z. B. weil er als Belegarzt nicht anwesend ist, ist er gem. § 831 BGB verantwortlich, wenn die Anordnung nicht beachtet wird. Es handelt sich nicht um pflegerische Leistungen, für die die Klinik verantwortlich ist, sondern um (delegierte) ärztliche Leistungen.

4.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf § 91 I 1 ZPO, §§ 8 I 1, II 1 GKG a.F., 72 I Nr. 1 GKG und §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.

Die Revision ist nicht zuzulassen. Die Voraussetzungen des § 543 II ZPO liegen nicht vor. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordern eine Entscheidung des Revisionsgerichts nicht.

Das Urteil beschwert die Klägerin mit weniger als 20.000,- € (Art. 26 Nr. 8 EGZPO).