OLG Köln, Beschluss vom 15.12.2004 - 2 Ws 521/04
Fundstelle
openJur 2011, 34472
  • Rkr:

1.

Der Umstand, dass Vollzugslockerungen möglicherweise zu Unrecht unterblieben sind, findet bei der Prüfung, ob eine Maßregel zur Bewährung ausgesetzt werden kann, grundsätzlich keine Berücksichtigung.

2.

Verbleibende Zweifel bei der Prognoseentscheidung gehen zu Lasten des Untergebrachten. Der Grundsatz "in dubio pro reo" gilt insofern nicht.

Tenor

Die sofortige Beschwerde wird auf Kosten des Untergebrachten verworfen.

Gründe

I.

Der Untergebrachte ist erstmals 1973 straffällig geworden. Nach seiner ersten Inhaftierung im Jahre 1975 hat er bis heute insgesamt nur etwa zwei Jahre außerhalb von Haftanstalten verbracht, weil er immer wieder wegen in der Haft oder kurz nach der Haftentlassung begangener Straftaten zu Freiheitsstrafen verurteilt wurde. Zu den von ihm begangenen oder zumindest versuchten Delikten - wegen der Einzelheiten wird auf die angefochtene Entscheidung Bezug genommen - gehören neben Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung, Diebstahl, Urkundenfälschung, Verkehrsdelikten und Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz auch räuberische Erpressung (AG Iserlohn, Urteil vom 29.08.1978 - 9 Ls/35 Js 2123//77 9 - 3/78), gefährliche Körperverletzung (Urteil des AG Iserlohn vom 03.09.1981 - 9 Ls 65 Js 399/81) und Vergewaltigung (LG Hagen, Urteil vom 05.01.1982 - 42 KLs 33 Js 105/80). Seit dem 26.12.1999 wird die Sicherungsverwahrung des Untergebrachten vollzogen, die durch Urteil des Landgerichts Dortmund vom 10.07.1987 (KLs 46 Js 19/87 (IV) M 5/87) wegen schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung neben einer Freiheitsstrafe von acht Jahren gegen ihn verhängt wurde. Die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Krefeld vom 21.12.1999 (33 StVK 472 + 473/99), dass die Sicherungsverwahrung zu vollziehen ist, beruht u. a. auf dem Gutachten des Psychiaters Dr. P., in dem er zu folgendem Ergebnis gelangt war:

"Die zusammengefassten Befunde zeigen, dass Herr M. in den Jahren seiner Inhaftierung keine nachweisbare Persönlichkeitsentwicklung und Verhaltensänderung erkennen lässt. Er hat zwar seine querulatorische und kämpferische Haltung gegen das Justizsystem zumindest vorübergehend aufgegeben und es ist gelungen, ihn mit Unterstützung von ehrenamtlichen Helfern und einer für einen Gefangenen ungewöhnlich häufigen therapeutischen Behandlung durch die Anstaltspsychologin in seiner Stimmung und Haltung zu stabilisieren. Es gelang jedoch nicht, die schwere Störung der Persönlichkeit mit der extremen Beziehungsstörung, der fehlenden Empathie für andere Menschen und der hohen und dauerhaften inneren Anspannung und Depressivität zu verbessern.

Für Herrn M. gibt es keinen sozialen Empfangsraum, der für ihn den erforderlichen Halt und für die Öffentlichkeit die notwendige Sicherheit gewährleisten könnte. Wie oben bereits dargelegt, fehlt es für ein erfolgreiches Leben in einer sozialtherapeutischen Wohngemeinschaft an entscheidenden Bedingungen, nämlich der Drogenabstinenz und der uneingeschränkten Bereitschaft, sich mit anderen Menschen offen und konstruktiv auseinander zu setzen." (S. 41 ff. des Gutachtens= Bl. 295 ff. d. A.)

Die Entwicklung des Untergebrachten in der Sicherungsverwahrung verlief - abgesehen von zunehmenden gesundheitlichen Problem (chronische Lungenerkrankung, Herzinfarkt) - positiv. Drogenmissbrauch konnte nicht mehr festgestellt werden. Er geht seiner Arbeit engagiert und zuverlässig nach. Die durchgeführte Psychotherapie hat zu einer verbesserten sozialen Anpassungsfähigkeit und erhöhten Frustrationstoleranz geführt. Die Beziehung zu seinen Angehörigen hat sich stabilisiert. Außerdem unterhält er Kontakt zu einer Gruppe ehrenamtlicher Betreuer sowie zu einer Mitarbeiterin des "M." e. V. Diese Einrichtung hat ihm im Falle seiner Entlassung aus der Sicherungsverwahrung die Aufnahme in ein Wohnprojekt zugesagt. Die zuständige Psychologin der Justizvollzugsanstalt stellte allerdings immer noch erhöhte Psychopathiewerte fest:

"Dies bedeutet, dass Herr M. zwar einerseits seine Interessen zielstrebig und energisch verfolgt und durchzusetzen weiß, dies aber ggf. egozentrisch und rücksichtslos tut, engeren emotionalen Kontakten gegenüber vorsichtig ist und sich insgesamt nicht gerne kontrollieren und einschränken lässt." (S. 8 der Stellungnahme der JVA Aachen vom 16.12.2004 = Bl. 605 d. A.)

Sie befürwortet - wie auch der zuständige Sozialarbeiter - die Erprobung der gemachten Fortschritte im Rahmen entlassungsvorbereitender Lockerungsmaßnahmen, weil noch nicht zuverlässig abgeschätzt werden könne, ob die gezeigten Fortschritte nicht nur zielorientiert unter den Bedingungen der Sicherungsverwahrung erreicht wurden, sondern bereits so verfestigt sind, dass sie auch den Belastungen des Alltags standhalten:

"Von einer akuten Gefährlichkeit ist daher bei ihm wohl nicht mehr unbedingt auszugehen, sie könnte sich längerfristig dann wieder entwickeln, wenn Herr M. bestehende Beziehungen abbrechen lässt, seine Alltagsstabilität verliert und zu schaffende, Halt gebende Räume verlässt." (S. 9 der Stellungnahme der JVA Aachen vom 16.12.2004 = Bl. 606 d. A.)

Die Strafvollstreckungskammer hat zur Vorbereitung ihrer Entscheidung ein externes Gutachten eingeholt. Dieses Gutachten bestätigte im Kern die Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt und kam zu dem Ergebnis, dass von einem Fortbestehen der Gefährlichkeit auszugehen sei, weil aufgrund der fehlenden Erprobung keine Aussagen zum weiteren Verhalten des Untergebrachten in Freiheit möglich sind.

Die Strafvollstreckungskammer hat in der angefochtenen Entscheidung die Aussetzung der Maßregel zur Bewährung abgelehnt, weil gegenwärtig noch keine Grundlage für die Erwartung gegeben sei, dass der Untergebrachte außerhalb der Sicherungsverwahrung keine rechtswidrigen Taten mehr begehen werde. Auch sie hielt die Erprobung des Untergebrachten im Rahmen von Lockerungen für unabdingbar und befürwortete sie nachdrücklich.

Mit der fristgerecht eingelegten sofortige Beschwerde wendet sich der Untergebrachte gegen die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer. Er beanstandet, dass es für ihn immer noch keine Fortschreibung des Vollzugsplans gebe. Er vertritt die Auffassung, dass Lockerungen nicht geeignet seien, seine Fortschritte zu erproben. Jedenfalls dürfe es ihm aber nicht zum Nachteil gereichen, dass solche bislang nicht erfolgt seien, obwohl er sie wiederholt gefordert habe.

II.

Die zulässige sofortige Beschwerde ist nicht begründet. Die Strafvollstreckungskammer ist zu Recht zu der Auffassung gelangt, dass die Voraussetzungen für eine Aussetzung der Maßregel zur Bewährung derzeit noch nicht festgestellt werden können.

Es ist allerdings unverkennbar, dass der Untergebrachte insbesondere in der Zeit, seit dem die Sicherungsverwahrung vollstreckt wird, deutliche Fortschritte in Richtung auf seine Resozialisierung gemacht hat. Die ihm in dem Gutachten des Sachverständigen Dr. P. bescheinigten Defizite hat er "abgearbeitet". Für eine positive Prognose fehlt aber noch die Bewährung des Untergebrachten im Rahmen zunehmend großzügiger ausfallender Vollzugslockerungen bis hin zur Beurlaubung in das Wohnheim, wie sie die Strafvollstreckungskammer ausdrücklich angeregt hat.

Der Auffassung des Verurteilten, derartige Lockerungen seien nicht geeignet, seine Fortschritte zu erproben, teilt der Senat nicht. Im Rahmen der Bedingungen einer Inhaftierung oder Sicherungsverwahrung können bestimmte Verhaltensweise zielorientiert auf die erwünschte Entlassung hin gezeigt werden, die so unter den Bedingungen des Alltags in Freiheit nicht aufrecht erhalten werden. Gerade darauf und nicht in erster Linie auf ein "Wohlverhalten in der Haft bzw. Sicherungsverwahrung" kommt es aber an. Ein schrittweises Heranführen an Alltagssituationen ist deshalb unerlässliche Voraussetzung für die Erstellung einer positiven Prognose, insbesondere nach einer so langen Haftzeit wie sie der Untergebrachte bislang schon hinter sich gebracht hat. Denn gerade das Verhalten anlässlich solcher Belastungserprobungen stellt einen geeigneten Indikator für die künftige Legalbewährung des Verurteilten dar (BVerfG, NJW 2004, 739, 744 m. w. N.). Dies entspricht auch der Auffassung der mit dieser Sache befassten Mitarbeiter der Anstalt und der externen Sachverständigen.

Der Umstand, dass dem Untergebrachten jedenfalls bis zur Entscheidung der Strafvollstreckungskammer mit Ausnahme einer jährlichen Ausführung zu seinen Geschwistern keine Vollzugslockerungen gewährt wurden, obwohl er wiederholt darum ersucht hatte, rechtfertigt keine andere Entscheidung. Die Voraussetzung der Aussetzung der Maßregel zur Bewährung, nämlich die Erwartung, dass künftig keine erheblichen rechtswidrigen Taten mehr begangen werden, muss positiv festgestellt werden. Der Grundsatz "in dubio pro reo" aus dem Erkenntnisverfahren gilt hier nicht, vielmehr gehen bei der Prognoseentscheidung - anders als bei der Feststellung der dafür maßgeblichen Tatsachen - verbleibende Zweifel zu Lasten des Untergebrachten. Dies hat der Bundesgerichtshof für die Bewährungsentscheidung gemäß § 56 StGB ausdrücklich so festgestellt (BGHR StGB § 56 Abs. 1 [Sozialprognose 13]). Entsprechendes gilt für die bei der Entscheidung über die Aussetzung einer Maßregel zur Bewährung anzustellende Prognose, denn sie ist ebenso wie die Strafaussetzung zur Bewährung an die Erwartung geknüpft, dass es nicht zu weiteren Taten kommen wird (ebenso Stree, in Schönke/Schröder Strafgesetzbuch, 26. Aufl., 2001, § 67e Rdnr. 7; Tröndle/Fischer, Strafgesetzbuch, 52. Aufl., 2004, § 67d Rdnr. 7).

Es ist auch nicht Aufgabe des Verfahrens gemäß §§ 67e StGB, 462a StPO, darüber zu befinden, ob die Vollzugslockerungen in der Vergangenheit zu Recht nicht gewährt wurden. Hierüber ist ggf. auf Antrag des Untergebrachten im Verfahren gemäß §§ 108 ff. StVollzG zu entscheiden (OLG Frankfurt, NStZ-RR 2001, 311, 313f.; 2004, 62f.). Der Senat ist insoweit aufgrund der Konzentration der Rechtsbeschwerden gemäß § 116 StVollzG beim Oberlandesgericht Hamm auch nicht zu zuständig.

Eine andere Entscheidung ist derzeit auch noch nicht aus Gründen der Verhältnismäßigkeit geboten. Der Senat geht hierbei von folgenden Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts aus:

"Materiell fordert das Übermaßverbot, die Sicherungsbelange und den Freiheitsanspruch des Untergebrachten im Einzelfall abzuwägen (vgl. BVerfGE 70, 297 ). Der Richter hat im Rahmen der erforderlichen Gesamtwürdigung die von dem Täter ausgehenden Gefahren zur Schwere des mit der Maßregel verbundenen Eingriffs ins Verhältnis zu setzen. Dabei kommt es insbesondere darauf an, ob und welche Art rechtswidriger Taten von dem Untergebrachten drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt. Je länger die Unterbringung andauert, umso strenger sind die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzugs. Der Einfluss des gewichtiger werdenden Freiheitsanspruchs stößt jedoch dort an Grenzen, wo es nach Art und Maß der von dem Untergebrachten drohenden Gefahren vor dem staatlichen Schutzauftrag für die Rechtsgüter des Einzelnen und der Allgemeinheit unvertretbar erscheint, den Untergebrachten in Freiheit zu entlassen (vgl. BVerfGE 70, 297 )..." (BVerfG, NJW 2004, 739, 742)

Die Sicherungsverwahrung wird seit nahezu fünf Jahren vollzogen. Die zehn-Jahres-Frist des § 67d Abs. 3 StGB, nach deren Ablauf es für den weiteren Vollzug der Sicherungsverwahrung nicht mehr ausreicht, dass keine positive Sozialprognose gestellt wird, sondern eine negative Sozialprognose erforderlich ist, ist damit bei weitem noch nicht erreicht. Angesichts der Bedeutung der Rechtsgüter, die durch eine erneute einschlägige Straftaten des Untergebrachten beeinträchtigt würden - insbesondere körperliche Unversehrheit und sexuelle Selbstbestimmung - erscheint es allein wegen des Zeitablaufs noch nicht geboten, auf die zusätzliche und aus Sicht des Senats besonders bedeutsame Erkenntnisquelle der Bewährung des Untergebrachten im Rahmen von Vollzugslockerungen zu verzichten.

Der Senat geht - gerade auch im Hinblick auf die besondere Bedeutung von Vollzugslockerungen für die in Zukunft zu treffenden Entscheidungen - davon aus, dass nach der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer damit begonnen wurde, den Untergebrachten durch schrittweise Vollzugslockerungen auf ein Leben in Freiheit vorzubereiten und ihn dabei zugleich zu erproben, damit dessen grundrechtlich garantierter Freiheitsanspruch zeitgerecht realisiert werden kann (vgl. BVerfG, NJW 1998, 2202, 2204) . Hierzu gehört auch die Fortschreibung des Vollzugsplans, damit der Untergebrachte eine Perspektive und Motivation für seine weitere Mitarbeit erlangt.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 StPO.