VG Aachen, Beschluss vom 30.11.2004 - 2 L 1039/04
Fundstelle
openJur 2011, 34326
  • Rkr:
Tenor

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens, in dem Gerichtskosten nicht erhoben werden.

Gründe

Der sinngemäß gestellte Antrag,

den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu verpflichten, dem Antragsteller für den Monat November 2004 Leistungen nach dem Gesetz über eine bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (GSiG) ohne Anrechnung der Unterhaltleistungen seines Sohnes in Höhe von 181,- EUR zu bewilligen,

hat keinen Erfolg.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist unbegründet.

Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der jeweilige Antragsteller muss glaubhaft machen, dass ihm ein Anspruch auf die geltend gemachte Leistung zusteht (Anordnungsanspruch) und dass das Abwarten einer gerichtlichen Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren für ihn mit schlechthin unzumutbaren Nachteilen verbunden wäre (Anordnungsgrund), vgl. § 123 Abs. 1 und 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO).

Nach diesen Maßstäben fehlt es im vorliegenden Fall an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs.

Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 GSiG haben Anspruch auf Leistungen der beitragsunabhängigen, bedarfsorientierten Grundsicherung Anspruchsberechtigte, die ihren Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus ihrem Einkommen und Vermögen beschaffen können. Gemäß § 3 Abs. 2 GSiG gelten für den Einsatz von Einkommen und Vermögen die §§ 76 bis 88 BSHG und die dazu erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend.

In § 2 Abs. 1 Satz 3 GSiG ist weiter bestimmt, dass Unterhaltsansprüche der Antragsberechtigten gegenüber ihren Kindern und Eltern unberücksichtigt bleiben, sofern deren jährliches Gesamteinkommen im Sinne des § 16 SGB IV unter einem Betrag von 100.000 EUR liegt.

Unter Berücksichtigung dieser normativen Vorgaben hat der Antragsgegner im Bescheid vom 9. November 2004 zu Recht die Höhe der dem Antragsteller im Monat November 2004 zustehenden Grundsicherungsleistungen unter Berücksichtigung der auf Grund einer Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt (Urteil vom 5. Dezember 2003 - 3 UF 121/03 -) erstrittenen und titulierten Unterhaltszahlungen als Einkommen festgesetzt.

Der titulierte Unterhalt ist zunächst einmal Einkommen im Sinne des § 2 Abs. 1 GSiG. Nach § 76 Abs. 1 BSHG gehören zum Einkommen im Sinne dieses Gesetzes alle Einkünfte in Geld oder Geldeswert mit Ausnahme der Leistungen nach dem BSHG, der Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz und der Renten und Beihilfen, die nach dem Bundesentschädigungsgesetz für Schäden an Körper oder Gesundheit gewährt werden bis zur Höhe der vergleichbaren Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz. Der Begriff des Einkommens ergibt sich aus § 1 der Verordnung zur Durchführung des § 76 BSHG (DVO § 76 BSHG). Danach sind bei der Berechnung des Einkommens alle Einnahmen ohne Rücksicht auf ihre Herkunft und Rechtsnatur sowie ohne Rücksicht darauf, ob sie zu den Einkunftsarten im Sinne des Einkommensteuergesetzes gehören oder ob sie der Steuerpflicht unterliegen, einzubeziehen. Dazu gehören nach allgemeiner Auffassung auch tatsächlich zufließende Unterhaltsleistungen, gleich ob sie aufgrund einer rechtlichen oder sittlichen Pflicht oder freiwillig erbracht werden und unabhängig von der Höhe der erbrachten Zahlungen,

vgl. Lehr- und Praxiskommentar, LPK-BSHG, 6. Aufl. 2003, § 76 Rdnrn 25 und 129 jew. m.w.N. auch aus der Rechtsprechung; Schellhorn-Jirasek-Seipp, BSHG, 15. Aufl. 1997, § 76 Rdnr. 8.

Einer Anrechnung des Unterhalts als Einkommen bei der Festsetzung der Grundsicherungsleistungen steht nach der im Eilverfahren allein möglichen summarischen Prüfung auch § 2 Abs. 1 Satz 3 GSiG nicht entgegen.

Die Kammer räumt ein, dass man bei einer ersten Lektüre dieser Vorschrift zu der Auffassung kommen könnte, Unterhalt werde nur dann berücksichtigt, wenn das Einkommen des Unterhaltsverpflichteten 100.000 EUR übersteigt,

so etwa auch Kunkel, Das Grundsicherungsgesetz, ZFSH/SGB 2003, 323 ff. (328), oder auch Quambusch, Kürzung der Grundsicherung wegen familiärer Fürsorglichkeit, ZfSH/SGB 2004, 14 ff. (17).

Unter Berücksichtigung des Wortlauts der Vorschrift und des Sinns und Zwecks der Regelung - vgl. hierzu auch: OVG NRW, B. v. 2.4.2004 - 12 B 1577/03 -

ist eine solche Auslegung nach Auffassung der Kammer aber nicht haltbar.

Zum einen spricht diese Vorschrift zunächst ausdrücklich nur von Unterhaltsansprüchen und nicht von tatsächlich erbrachten Unterhaltsleistungen, die hier auch noch gerichtlich tituliert sind. Der Unterhaltsanspruch ist aber das, was nach den §§ 1601 ff. BGB - zunächst lediglich abstrakt - der Unterhaltsverpflichtete dem Unterhaltsberechtigten schuldet. Unterhaltsleistung ist demgegenüber das, was der Unterhaltsschuldner aufgrund des Unterhaltsanspruchs dem Unterhaltsbedürftigen tatsächlich zuwendet. Nach dem Wortlaut des § 2 Abs. 1 Satz 3 GSiG sollen aber nur die (bislang zwischen Unterhaltspflichtigen und Unterhaltsberechtigten noch gar nicht streitbefangenen) Unterhaltsansprüche privilegiert werden, nicht aber die Unterhaltsleistungen. Es heißt im Gesetzestext nämlich nicht: Abweichend von § 2 Abs. 1 Satz 1 GSiG bleibt "Unterhalt" unberücksichtigt, wenn das jährliche Gesamteinkommen des Unerhaltspflichtigen 100.000 EUR nicht übersteigt. Dies wäre im Übrigen bei einkommens- und vermögensabhängigen Leistungen auch nur schwer vermittelbar.

Für die von der Kammer vertretene Auffassung sprechen letztlich auch Sinn und Zweck dieser Regelung. So dient das GSiG zum einen der Bekämpfung der verschämten Altersarmut; ältere Menschen und Erwerbsunfähige sollten ihr Renteneinkommen zumindest auf ein leicht angehobenes Sozialhilfeniveau aufbessern können, ohne Angst haben zu müssen, auf vorrangige Unterhaltsansprüche gegen Eltern oder Kinder verwiesen zu werden, oder befürchten zu müssen, dass das Sozialamt von sich aus diese Unterhaltsverpflichteten in Höhe der Unterhaltsverpflichtung auf Ersatz der geleisteten Hilfe in Anspruch nimmt. Diese vornehmlich dem "Familienfrieden" zwischen den Generationen dienende Regelung soll nach dem Willen des Gesetzgebers nur dem relativ kleinen Kreis der wirklich gut Verdienenden (Jahreseinkommen nach § 16 SGB IV über 100.000 EUR) vorenthalten bleiben. Ist aber - wie hier - ein Unterhaltsbeitrag schon tituliert, ein entsprechendes zivilgerichtliches Verfahren mithin schon ausgestanden, braucht der "Familienfrieden" nicht (mehr) geschützt zu werden.

In eine ähnliche Richtung weist eine neuere Entscheidung des Verwaltungsgerichts Arnsberg,

Urteil vom 24.6.2004 - 5 K 4677/03 - ZfSH/SGB 2004, 608 ff. (609).

Danach widerspricht die Außerachtlassung der tatsächlich erbrachten Unterhaltsleistungen der Zielsetzung des § 1 GSiG, die ausschließlich auf die Sicherung des Lebensunterhalts der Leistungsberechtigten abzielt. Es soll weder eine Besserstellung noch eine Schlechterstellung von Grundsicherungsberechtigten gegenüber Sozialhilfeempfängern gewährleistet werden. Sinn und Zweck der gesetzlichen Neuregelung ist nicht die Privilegierung von Unterhaltspflichtigen, sondern die Verbesserung der Situation der Antragsberechtigten; nur ihnen soll die Furcht vor einem Regress gegenüber Verwandten genommen werden. Dieses Schutzes bedürfen sie nicht, wenn tatsächlich - erst recht solche auf Grund eines Titels - Leistungen erbracht werden.

Nach der Überzeugung der Kammer hat das VG Arnsberg in der genannten Entscheidung überzeugend dargelegt, dass auch in den Gesetzesmaterialien kein Anhaltspunkt dafür zu finden ist, dass tatsächliche Unterhaltszahlungen nicht als Einkünfte im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 GSiG zu behandeln sind. Schließlich ist dort mit den entsprechenden Nachweisen auch dargelegt, dass die überwiegende Meinung in der Literatur der hier vertretenen Auffassung folgt.

Eine anderweitige Entscheidung ist auch nicht deshalb geboten, weil das Oberlandesgericht Frankfurt in seinem Urteil vom 5. Dezember 2003 die Höhe der Grundsicherung bei der Bestimmung der Unterhaltshöhe berücksichtigt hat. Auch wenn diese Divergenz in der Rechtsprechung für den Antragsteller nicht oder nur schwer nachvollziehbar ist, ist dies die Folge davon, dass unterschiedliche Fachgerichtsbarkeiten über den zivilrechtlichen Unterhaltsanspruch einerseits und den öffentlichrechtlichen Anspruch auf Grundsicherung andererseits entscheiden. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die hier streitige Frage weder vor einem Jahr noch heute obergerichtlich oder gar höchstrichterlich abschließend geklärt ist. Auf Grund dieser Umstände hat die Kammer dem Antragsteller im bereits anhängigen Hauptsacheverfahren (2 K 3196/04) Prozesskostenhilfe bewilligt.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.