OLG Köln, Beschluss vom 07.09.2004 - 8 Ss OWi 12/04
Fundstelle
openJur 2011, 30747
  • Rkr:
Tenor

Das angefochtene Urteil wird mit seinen Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an das Amtsgericht Köln zurückverwiesen.

Gründe

Das Amtsgericht hat den Betroffenen "wegen einer fahrlässigen Ordnungswidrigkeit gem. §§ 37, 49 StVO" mit einer Geldbuße von 150,00 Euro belegt und ihm ein Fahrverbot für die Dauer eines Monats auferlegt.

Das Amtsgericht hat zum Tatgeschehen folgende Feststellungen getroffen:

"Am 05.04.2003 gegen 4.24 Uhr befuhr der Betroffene mit einem PKW Taxi in L. die Straße A.d.D. in Fahrtrichtung Hauptbahnhof. Vor dem neu gebauten Kreisel L.straße/A.d.D. in Höhe der ehemaligen Hauptpost befindet sich eine Fußgängerampel, die deutlich sichtbar am rechten Fahrbahnrand zusätzlich mit einer Peitschenampel aufgestellt ist. Obwohl diese Fußgängerampel bereits mindestens drei Sekunden auf Rot umgesprungen war, verlangsamte der Betroffene seine Geschwindigkeit nicht und fuhr über die weiterhin Rotlicht zeigende Ampel weiter bis zum Kreis L.straße/A.d.D., wo er von Polizeibeamten, die dies beobachtet hatten, gestellt wurde. ..."

Die bestreitende Einlassung des Betroffenen hat das Amtsgericht aufgrund der Aussage des Polizeibeamten K. für widerlegt gehalten. Dazu heißt es im Urteil:

"Der Zeuge konnte sich als Polizeibeamter bei seiner Vernehmung an den fraglichen Vorfall noch genau erinnern. Er hat ausgesagt, er sei damals gemeinsam mit einer anderen Polizeibeamtin in einem Streifenwagen auf der Straße A.d.D. in Richtung Hauptbahnhof gefahren. Sie seien aus Richtung Ring gekommen. Etwa einhundert Meter vor dem Polizeifahrzeug sei der Betroffene mit seinem Taxi in der- selben Richtung gefahren. Bei der Annäherung an die Fußgängerampel in Höhe der ehemaligen Hauptpost habe er, der Zeuge K., bereits von weitem gesehen, dass diese Ampel auf Rot gestanden habe. Zu diesem Zeitpunkt habe sich der Betroffene noch eine längere Strecke vor der fraglichen Ampel befunden und trotz des Rotlichtes seine gefahrene Geschwindigkeit von etwa 50 km/h nicht verlangsamt. Er habe dann bewusst die Zeit abgeschätzt und bei der Nachfahrt festgestellt, dass es noch mindestens drei Sekunden gedauert habe, bis der Betroffene die immer noch auf Rot stehende Ampel passiert habe... Wenn der Zeuge auch keine näheren Messung der Rotlichtzeit durchgeführt hat, so ergibt sich doch aus seiner Aussage völlig zweifelsfrei, dass der Betroffene die fragliche Lichtzeichenanlage passierte, obwohl diese bereits mehrere Sekunden auf Rot stand. Der Zeuge hat nach seinen Angaben die Rotlichtzeit von dem Zeitpunkt abgeschätzt, als er den Betroffenen, der vor ihm in dieselbe Richtung fuhr, mit unverminderter Geschwindigkeit die Rotlicht zeigende Ampel zufahren sah. Diese Beobachtungen des Zeuge K. sind zur Feststellung eines längeren, qualifizierten Rotlichtverstoßes ausreichend. Bei der langen Rotlicht-

zeit ist auch keine Feststellung dazu nötig, wo sich der PKW des Betroffenen im Verhältnis zur Haltelinie der Ampel befand, als diese von Gelb auf Rot umsprang."

Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen rügt Verletzung formellen und materiellen Rechts.

Die Rechtsbeschwerde hat bereits mit der Sachrüge (vorläufigen) Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht.

Die Beweiswürdigung des Tatrichters trägt die Annahme eines qualifizierten Rotlichtverstoßes (§ 37 Abs. 2 StPO i.V.m. Nr. 132.2 Bußgeldkatalog) nicht.

Der Tatrichter muss für das Rechtsbeschwerdegericht nachprüfbar darlegen, dass seine Überzeugung auf tragfähigen tatrichterlichen Erwägungen beruht (ständige Senatsrechtsprechung, vgl. nur Senat VRS 106, 214 m.N.). Schlussfolgerungen dürfen sich nicht so sehr von einer festen Tatsachengrundlage entfernen, dass sie letztlich nicht mehr als einen schweren Verdacht begründen (ständige Senatsrechtsprechung, vgl. nur Senat a.a.O.).

Wegen der erheblichen Auswirkungen im Rechtsfolgenausspruch muss insbesondere auch die Feststellung, dass das Rotlicht - im maßgebenden Zeitpunkt des Überfahrens der Haltelinie (dazu unten) - länger als eine Sekunde andauerte, vom Tatrichter nachvollziehbar aus der Beweiswürdigung hergeleitet werden (ständige Senatsrechtsprechung, vgl. nur Senat a.a.O.).

Diesen Anforderungen genügt die Beweiswürdigung im angefochtenen Urteil nicht. Der Tatrichter hat seine Überzeugung vom Vorliegen eines qualifizierten Rotlichtverstoßes allein auf die Schätzung des Polizeibeamten K. gestützt, die Lichtzeichenanlage habe bereits mehr als drei Sekunden Rotlicht gezeigt, als der Betroffene diese passiert habe. Zeitschätzungen sind jedoch wegen der Ungenauigkeit des menschlichen Zeitgefühls in der Regel mit einem erheblichen Fehlerrisiko behaftet (OLG Hamm, Beschluss vom 16.01.1997 - 3 Ss OWi 1540/96; vgl. BayObLG VRS 103, 449 = NZV 2002, 518 = NStZ RR 2002, 345; OLG Düsseldorf, DAR 2003, 85; Senat VRS 100, 140). Infolgedessen bedarf es in einem solchen Fall einer Darlegung tatsächlicher Anhaltspunkte, die eine Überprüfung der Schätzung auf ihre Zulässigkeit zulassen - z. B. der Zählweise beim Mitzählen (vgl. dazu Senat VRS 106, 214),

der Geschwindigkeit des Betroffenen und seine Entfernung von der Ampelanlage bei Lichtwechsel auf Rot oder zumindest der Beschreibung eines während der Rotlichtdauer abgelaufenen, zeitlich eingrenzbaren Vorgangs, an dem sich der Zeuge bei seiner Schätzung orientiert hat (Senat VRS 100, 140 mit Nachweisen).

Freie Schätzungen aufgrund bloß gefühlmäßiger Erfassung der verstrichenen Zeit sind zur Feststellung von Zeitintervallen im Sekundenbereich ungeeignet (BayObLG a.a.O.; vgl. Senat VRS 100, 140).

Die Ausführungen im angefochtenen Urteil lassen befürchten, dass sich der Tatrichter bei seiner Überzeugungsbildung auf eine bloß freie Schätzung des Polizeibeamten verlassen hat. Dass dessen Schätzung auf nachvollziehbaren Grundlagen beruht, lässt sich den Urteilsgründen nicht entnehmen.

Darüberhinaus ergibt sich die Ungeeignetheit der Schätzung des Polizeibeamten für die Annahme eines qualifizierten Rotlichtverstoßes auch daraus, dass der Zeuge ersichtlich darauf abgestellt hat, wann der Betroffene die Ampel passiert hat. Ist - wie nach den Urteilsgründen hier - eine Halterlinie vorhanden, dann ist für die Bemessung der Rotlichtdauer grundsätzlich der Zeitpunkt maßgebend, in dem das Fahrzeug des Betroffenen die Haltelinie überfährt (Senat VRS 100, 140 m.N.).

Wenngleich aufgrund der bisher getroffenen Feststellungen davon ausgegangen werden könnte, dass der Betroffene jedenfalls gegen § 37 Abs. 2 Nr. 1 Satz 7 StVO verstoßen hat, muss das Urteil insgesamt aufgehoben werden, da die Frage, ob es sich um einen qualifizierten oder nur um einen einfachen Rotlichtverstoß handelt, den Schuldumfang betrifft und die hierzu zu treffenden Feststellungen untrennbar mit den Schuldfeststellungen verknüpft sind (ständige Senatsrechtsprechung, vgl. nur Senat VRS 106, 214).

Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:

Sollte dem Betroffenen ein qualifizierter Rotlichtverstoß nicht nachgewiesen werden können, wird im Hinblick auf seine verkehrsrechtlichen Vorbelastungen zu erörtern sein, ob die Anordnung eines Fahrverbots unter dem Gesichtspunkt einer beharrlichen Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers (§ 25 Abs. 1 StVG) in Betracht kommt.