VG Arnsberg, Beschluss vom 08.07.2004 - 2 L 824/04
Fundstelle
openJur 2011, 29272
  • Rkr:
Tenor

1. Dem Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung untersagt, die dem Q. I. mit Wirkung vom 1. Juni 2004 zugewiesene Stelle der Besoldungsgruppe A 12 BBesO - II. Säule - mit der Beigeladenen zu besetzen, bevor über das Beförderungsbegehren des Antragstellers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu entschieden worden ist.

2. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der im Verfahren entstandenen außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die von dieser selbst zu tragen sind.

3. Der Streitwert wird auf 2.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

Der Antrag des Antragstellers, der inhaltlich dem Ausspruch in Nr. 1 des Beschlusstenors entspricht, ist zulässig und begründet.

Das nach § 123 Abs. 1 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) zu beurteilende Begehren des Antragstellers setzt die Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruches und eines Anordnungsgrundes voraus.

Der erforderliche Anordnungsgrund ist gegeben. Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, dass die begehrte Regelung notwendig ist, um den von ihm geltend gemachten Beförderungsanspruch zu sichern. Würde das Beförderungsamt - wie vom Q. I. vorgesehen - der Beigeladenen übertragen, würde eine Beförderung des Antragstellers endgültig vereitelt; denn die Stellenbesetzung könnte nach den Vorschriften des Beamtengesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen (Landesbeamtengesetz - LBG) nicht mehr rückgängig gemacht werden.

Der Antragsteller hat auch den erforderlichen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Die vom Q. I. zugunsten der Beigeladenen getroffene Auswahlentscheidung stellt sich bei der im Rahmen des vorliegenden Verfahrens vorzunehmenden summarischen Prüfung als rechtsfehlerhaft dar.

Zwar hat der Beamte grundsätzlich keinen Rechtsanspruch auf Beförderung, weil diese Maßnahme im Ermessen des Dienstherrn steht. Jeder Beamte hat jedoch einen Anspruch darauf, dass der Dienstherr über seine Bewerbung um eine Beförderungsstelle eine am Leistungsgrundsatz ausgerichtete rechtsfehlerfreie Entscheidung trifft. Dieser Anspruch kann durch eine einstweilige Anordnung gesichert werden, wenn die getroffene Auswahlentscheidung fehlerhaft ist. Dies ist nach überschlägiger Prüfung vorliegend der Fall.

Der gesetzliche Rahmen der Auswahlentscheidung wird durch § 7 Abs. 1 LBG festgelegt. Danach ist die Auslese der Bewerber (nur) nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung ohne Rücksicht auf Geschlecht, Abstammung, Rasse, Glauben, religiöse und politische Anschauungen, Herkunft oder Beziehungen vorzunehmen. Die Auswahl unter mehreren Bewerbern sowie die Gestaltung des hierbei anzuwendenden Verfahrens liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Dienstherrn. Seinem Ermessen ist es insbesondere überlassen, welchen (sachlichen) Umständen er bei seiner Auswahl das größere Gewicht beimisst und in welcher Weise er den Grundsatz des gleichen Zugangs zu jedem öffentlichen Amt nach dem Leistungsprinzip verwirklicht, sofern nur dieses Prinzip selbst nicht in Frage gestellt ist. Dementsprechend hat der jeweilige Bewerber nur einen (sicherungsfähigen) Anspruch auf eine sachgerechte, ermessensfehlerfreie Entscheidung.

Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist dem Antragsteller einstweiliger Rechtsschutz in der Gestalt, dass die Besetzung der Beförderungsstelle einstweilen zu unterbleiben hat, zu gewähren.

Für Qualifikationsvergleiche im Rahmen von Auswahlentscheidungen sind in erster Linie aktuelle Beurteilungen maßgebend, die den gegenwärtigen Leistungsstand wiedergeben.

Vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 29. Juli 2003 - 2 BvR 311/03 -, DVBl 2003, 1524 = NVwZ 2004, 95 = Schütz, Beamtenrecht des Bundes und der Länder, ES/A II 1.4 Nr. 105; Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Beschluss vom 19. September 2001 - 1 B 704/01 -, DÖD 2001, 315 = NVwZ-RR 2002, 113; Beschluss der Kammer vom 17. Dezember 2003 - 2 L 1626/03 -.

Darüber hinaus sind nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) unter bestimmten Voraussetzungen auch ältere dienstliche Beurteilungen zu berücksichtigen, und zwar nicht erst auf der Ebene der Hilfskriterien, sondern schon auf der Ebene des Leistungs- und Eignungsvergleichs der Beförderungsbewerber. Ältere dienstliche Beurteilungen vermitteln Erkenntnisse, die über Eignung, Befähigung und fachliche Leistung des Beurteilten unmittelbar Aufschluss geben können und denen deshalb Vorrang gegenüber etwaigen Hilfskriterien zukommt. Zwar verhalten sie sich nicht zum aktuell erreichten Leistungsstand im gegenwärtigen statusrechtlichen Amt. Gleichwohl können sie Rückschlüsse und Prognosen über die künftige Bewährung in einem Beförderungsamt ermöglichen und im Rahmen einer Gesamtwürdigung der vorhandenen dienstlichen Beurteilungen positive oder negative Entwicklungstendenzen aufzeigen. Die zusätzliche Berücksichtigung vorangegangener dienstlicher Beurteilungen ist deswegen mit Blick auf Art. 33 Abs. 2 des Grundgesetzes - GG - geboten, wenn eine Auswahlentscheidung unter aktuell im Wesentlichen gleich beurteilten Beamten zu treffen ist.

Vgl. BVerwG, Urteile vom 19. Dezember 2002 - 2 C 31.01 -, DÖD 2003, 200, vom 27. Februar 2003 - 2 C 16.02 -, ZBR 2003, 420, und vom 21. August 2003 - 2 C 14.02 -, DVBl 2004, 317 = ZBR 2004, 101 = NJW 2004, 870; OVG NRW, Beschlüsse vom 17. Dezember 2003 - 6 B 2172/03 - und vom 22. Dezember 2003 - 6 B 2321/03-; Beschlüsse der Kammer vom 29. Januar 2004 - 2 L 1792/03 - und vom 25. Juni 2004 - 2 L 521/04 -.

Kommt es demnach für die Heranziehung älterer dienstlicher Beurteilungen maßgeblich darauf an, ob ein aktueller Leistungsgleichstand vorliegt, so folgt daraus, dass der Dienstherr der Frage, welche Aussagekraft die zuletzt erstellten dienstlichen Beurteilungen haben, besondere Aufmerksamkeit widmen muss. Um dem gerecht zu werden, darf er sich grundsätzlich nicht darauf beschränken, allein die (gleichlautenden) Gesamturteile in den dienstlichen Beurteilungen der konkurrierenden Beamten in den Blick zu nehmen. Eine solche isolierte Betrachtung der Endnote wird den an einen sachgerechten Qualifikationsvergleich zu stellenden Anforderungen in aller Regel nicht gerecht. Vielmehr ist der Dienstherr gehalten, eine weitere inhaltliche Auswertung der dienstlichen Beurteilungen vorzunehmen und deren Inhalt (außerhalb der textlichen Bestandteile des Gesamturteils) mit der Intention, aussagekräftige Anhaltspunkte für einen eventuellen Qualifikationsvorsprung eines der Bewerber aufzuspüren, weiter auszuschöpfen. Führt die Auswertung der Einzelfeststellungen zu dem Ergebnis, dass ein Beamter für das Beförderungsamt besser qualifiziert ist als seine Mitbewerber, wird die Aussagekraft älterer Beurteilungen relativiert und regelmäßig in den Hintergrund gedrängt.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 27. Februar 2004 - 6 B 2451/03 -; Beschlüsse der Kammer vom 25. Juni 2004 - 2 L 521/04 - und vom 29. Juni 2004 - 2 L 322/04 -.

Allerdings steht dem Dienstherrn bei der Würdigung von Einzelfeststellungen einer Beurteilung - wie bei der dienstlichen Beurteilung insgesamt - ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu. Die Entscheidung des Dienstherrn, bestimmte Einzelfeststellungen zur Begründung eines Qualifikationsvorsprunges heranzuziehen oder nicht, ist demnach nur dann fehlerhaft, wenn der in diesem Zusammenhang anzuwendende Begriff oder der gesetzliche Rahmen, in dem sich der Dienstherr frei bewegen kann, verkannt worden ist oder er von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist, allgemein gültige Wertmaßstäbe nicht beachtet oder sachfremde Erwägungen angestellt hat. Hat der Dienstherr sich aufdrängenden oder zumindest naheliegenden Unterschieden in den dienstlichen Beurteilungen der jeweiligen Konkurrenten keine Bedeutung beigemessen, so trifft ihn - mit Blick auf das Gebot effektiver Rechtsschutzgewährung - insoweit eine erhöhte Begründungs- und Substantiierungspflicht.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 27. Februar 2004 a. a. O. sowie Beschlüsse vom 27. September 1996 - 6 B 2009/96 - und vom 17. Dezember 2003 - 6 B 2172/03 -.

Ausgehend hiervon erscheint nach überschlägiger Prüfung die Entscheidung des Dienstherrn, die Beigeladene dem Antragsteller bei der Besetzung der streitbefangenen Stelle vorzuziehen, als fehlerhaft.

Der Antragsgegner hat dargelegt, dass er im Rahmen der Auswahlentscheidung anhand der aktuellen Beurteilungen keinen Qualifikationsvorsprung des Antragstellers oder der Beigeladenen festgestellt habe. Eine Prognose über die Bewährung in dem streitbefangenen Beförderungsamt könne aus den Beurteilungen nicht abgeleitet werden. Daher sei die Auswahlentscheidung nach Hilfskriterien zu treffen gewesen. Hierbei sei zuerst das Beförderungsdienstalter zugrunde gelegt worden. Der zuletzt am 13. Januar 1995 beförderte Antragsteller müsse insoweit hinter der bereits am 21. Juni 1994 zur Regierungsamtfrau ernannten Beigeladenen zurückstehen.

Diese Auswahlentscheidung stellt sich im Rahmen des vorliegenden Verfahrens als rechtswidrig dar. Das Q. I. hat es dabei bewenden lassen, im Rahmen des Qualifikationsvergleichs anhand der aktuellen dienstlichen Beurteilungen allein deren Gesamturteile (jeweils "4 Punkte") in den Blick zu nehmen und hieraus abzuleiten, dass ein Gleichstand vorliege. Diese Vorgehensweise begründet ein Abwägungsdefizit; denn eine inhaltliche Ausschöpfung der zu vergleichenden dienstlichen Beurteilungen war nach Lage der Dinge geboten; sie drängte sich aufgrund deutlicher inhaltlicher Unterschiede geradezu auf. Insbesondere hat das Q. außer Acht gelassen, dass der Antragsteller in der dienstlichen Beurteilung vom 27. August 2002 in zwei Hauptmerkmalen (Leistungsergebnis und Sozialverhalten) um eine ganze Notenstufe besser beurteilt worden ist als die Beigeladene. Das Leistungsergebnis und das Sozialverhalten des Antragstellers "übertreffen" nach dem Urteil sowohl des Erstbeurteilers als auch des Endbeurteilers die Anforderungen "in besonderem Maße" (5 Punkte), wogegen die Beurteilung der Beigeladenen vom 19. August 2002 ausweist, dass das Leistungsergebnis und das Sozialverhalten die Anforderungen (lediglich) "übertreffen". Ausgehend hiervon erschließt sich nicht, dass in qualitativer Hinsicht ein Gleichstand zwischen dem Antragsteller und der Beigeladenen gegeben sein soll. Vielmehr spricht bei einem Vergleich der Benotung dieser beiden Hauptmerkmale viel dafür, dass der Antragsteller über einen aktuellen Qualifikationsvorsprung verfügt, zumal der Bewertung der Hauptmerkmale angesichts der Schematisierung des Beurteilungssystems eine besondere Aussagekraft beigemessen werden muss.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 27. Februar 2004, a. a. O. sowie Beschluss vom 27. Mai 2004 -6 B 456/04- ; Beschlüsse der Kammer vom 25. Juni 2004 -2 L 521/04- und vom 29. Juni 2004 -2 L 322/04- .

Bei dieser aktuellen Beurteilungslage kommt dem Umstand, dass der Antragsteller im Klageverfahren 2 K 1031/03 eine (weitere) Verbesserung seiner dienstlichen Beurteilung anstrebt, keine ausschlaggebende Bedeutung zu. Ob dieses Begehren Aussicht auf Erfolg hat, insbesondere, ob die aufgrund der Beurteilerbesprechung vom 15. Juli 2002 von der Endbeurteilerin vorgenommene Absenkung des Gesamturteils sowie der vom Erstbeurteiler mit "5 Punkten" bewerteten Hauptmerkmale "Leistungsverhalten" und "Mitarbeiterführung" auf jeweils 4 Punkte rechtswidrig gewesen ist, kann offen bleiben. Denn schon aufgrund der gegenwärtigen Fassung der dienstlichen Beurteilung vom 27. August 2002 drängt sich auf, dass der Antragsteller über einen Qualifikationsvorsprung vor der Beigeladenen verfügt.

Zu Unrecht wendet der Antragsgegner ein, den mit "5 Punkten" bewerteten Hauptmerkmalen in der dienstlichen Beurteilung des Antragstellers dürfe kein entsprechender Stellenwert beigemessen werden, weil im Rahmen der Beurteilerbesprechung keine Notwendigkeit gesehen worden sei, sämtliche Hauptmerkmale von "5 Punkten" auf "4 Punkten" abzusenken; die Hauptmerkmale seien nur insoweit herabgesetzt worden, als dies zur Herbeiführung der Schlüssigkeit mit der Endnote erforderlich gewesen sei. Es bedarf keiner weiteren Ausführungen, dass dem Dienstherrn das nachträglich vorgebrachte Argument, eine bestimmte Einzelfeststellung in einer von ihm selbst verantwortlich erstellten dienstlichen Beurteilung entspreche nicht dem tatsächlichen Beurteilungsstand, aus Rechtsgründen abgeschnitten ist. Dies gilt erst recht, wenn es - wie hier - um die Bewertung von Hauptmerkmalen geht, denen innerhalb des schematisierten Beurteilungssystems besondere Bedeutung zukommt.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 und 3, 162 Abs. 3 VwGO. Die Beigeladene hat ihre eventuell entstandenen außergerichtlichen Kosten selbst zu tragen, weil sie keinen Antrag gestellt und sich damit am Kostenrisiko des Verfahrens nicht beteiligt hat.

Grundlage der Streitwertfestsetzung sind die §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 Satz 2 des Gerichtskostengesetzes in der bis zum 30. Juni 2004 geltenden Fassung (GKG a.F.). Die §§ 53 Abs. 3 Nr. 1, 52 Abs. 2 des Gerichtskostengesetzes in der ab 1. Juli 2004 geltenden Fassung (GKG n.F.) sind nicht anwendbar, weil das Verfahren vor dem 1. Juli 2004 anhängig geworden ist (§ 72 Nr. 1 GKG n.F.).