OLG Hamm, Urteil vom 19.02.2003 - 8 UF 181/02
Fundstelle
openJur 2011, 26013
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. 19 F 515/01
Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 24. Mai 2002 verkündete Urteil des Amtsgerichts - Familiengericht - Gelsenkirchen-Buer abgeändert.

Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin zu Händen ihrer gesetzlichen Vertreterin Kindesunterhalt wie folgt zu zahlen:

a)

von Oktober bis Dezember 2001 monatlich 268,43 &...8364;

b)

laufend ab Januar 2002 monatlich 269,00 &...8364;.

Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen; die weitergehende Klage bleibt abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits werden zu 88 % dem Beklagten und zu 12 % der Klä-gerin auferlegt.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Die Parteien streiten über Kindesunterhalt für die Zeit ab Oktober 2001.

Die am 29. Oktober 1985 geborene Klägerin stammt aus der am 22. April 1980 geschlossenen Ehe zwischen ihrer Mutter und dem Beklagten. Diese Ehe scheiterte und ist mittlerweile rechtskräftig seit Mitte 1999 geschieden.

Die Klägerin ist auf Grund eines ärztlichen Kunstfehlers bei der Geburt schwerstbehindert. Unter anderem ist sie erblindet und leidet unter zerebalen Störungen. Sie bedarf deshalb umfassender Pflege, die von ihrer Mutter geleistet wird. Der hinter dem Arzt stehende Versicherer, die X, ist für die Schadensfolgen eingetreten. Sie hat eine Zahlung über 625.000,00 DM geleistet, die sich aus rückständigem Pflegegeld und Schmerzensgeld zusammensetzt. Mit dieser Zahlung wurde der materielle Schaden bis zum 31. Dezember 1993 abgegolten und der Schmerzensgeldanspruch endgültig geregelt. Darüber hinaus wurde die Zahlung einer Mehrbedarfsrente von 5.000,00 DM monatlich vereinbart. Diese Zusage galt zunächst nur bis zum Jahr 1997, gleichwohl zahlt der Versicherer bis heute die Mehrbedarfsrente in dieser Höhe weiter. Über eine Erhöhung wird zur Zeit verhandelt. Ferner erhält die Klägerin Pflegegeld über 1.300,00 DM monatlich im Jahr 2001 sowie 665,00 &...8364; im Jahr 2002. Dieses Pflegegeld wird von der Klägerin zurückgelegt, da aus ihrer Sicht zur Zeit nicht feststeht, ob sie dieses Geld endgültig behalten kann. Gegebenenfalls ist es mit der Mehrbedarfsrente zu verrechnen. Auch hierüber wird zur Zeit zwischen der Klägerin und dem Versicherer verhandelt. In einer Vereinbarung aus dem Jahr 1993 zwischen der Klägerin und der X heißt es weiter unter Ziffer 2 b) wie folgt:

"Mit der Mehrbedarfsrente von monatlich 5.000,00 DM ab 01.01.1994

sind nicht abgegolten Kosten für die Beschaffung behindertengerechten

Wohnraumes und die Position behindertengerechten Fahrzeuges soweit

sie nach dem 31. Dezember 1993 anfallen."

Schließlich erhält die Klägerin Blindengeld in Höhe von 552,00 DM monatlich im Jahr 2001 bzw. 284,00 &...8364; seit 2002.

Das ausgezahlte Kapital in Höhe von 625.000,00 DM ist teilweise verbraucht, teilweise zinsbringend angelegt worden. Im Jahr 2000 hat die Klägerin Kapitaleinkünfte in Höhe von 14.260,00 DM und im Jahr 2001 über 16.310,33 DM erzielt.

Mit Schreiben vom 13. September 2001 hat die Klägerin den Beklagten zu Zahlung von Kindesunterhalt ab 1. Oktober 2001 auffordern lassen. Mit der am 5. Dezember 2001 eingereichten Klage hat die Klägerin Kindesunterhalt nach der 3. Einkommensgruppe (582,00 DM bzw. 307,00 &...8364;) geltend gemacht.

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes in erster Instanz wird auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil des Amtsgerichts Gelsenkirchen-Buer vom 24. Mai 2002 Bezug genommen.

Das Amtsgericht hat in der angefochtenen Entscheidung die Klage abgewiesen. Zwar hat es das Pflegegeld, das Blindengeld sowie die Mehrbedarfsrente der Regelung des § 1610 a BGB unterstellt und mangels gegenteiliger Sachdarstellung des Beklagten nicht auf den Bedarf der Klägerin angerechnet. Die Klägerin sei jedoch in der Lage, ihren Bedarf aus den Kapitaleinkünften zu decken, so daß ihr Kindesunterhalt nicht zustehe. Die Klägerin habe nicht substantiiert dargelegt, daß sie diese Kapitaleinkünfte benötige, um weiteren Mehrbedarf abzudecken.

Gegen diese Entscheidung wendet sich die Klägerin mit der Berufung.

Sie wendet ein, das Amtsgericht habe durch die Kostengegenüberstellung § 1610 a BGB übergangen. Es habe zwar zu Recht ausgeführt, daß die Mehrbedarfsrente sowie das Blinden- und Pflegegeld nicht angerechnet werden dürften, da der Beklagte nicht schlüssig dargestellt habe, daß die Kosten der krankheitsbedingten Aufwendungen geringer gewesen seien. Entgegen diesen Ausführungen habe es dann aber doch letztendlich diese Gelder berücksichtigt. Das Amtsgericht habe die Einnahmen auch nicht richtig gewertet. Im Jahr 2000 habe sie insgesamt 93.485,99 DM eingenommen, im Jahr 2001 96.784,32 DM. Hier sei jeweils noch das Pflegegeld herauszurechnen, da es auf Grund des ungeregelten Rechtszustandes nicht berücksichtigungsfähig sei. Sie müsse deshalb die Einkünfte aus dem Kapitalvermögen angreifen, um ihre behinderungsbedingten Mehrkosten abdecken zu können. Rechnet man das Pflegegeld heraus und stellt demgegenüber die Kapitaleinkünfte in die Berechnung ein, werde deutlich, daß ein Überschuß nicht erzielt werde. Im übrigen seien mit den aufgeführten Kosten noch nicht alle Lebenshaltungskosten erfasst. Schließlich müsse berücksichtigt werden, daß ihre Mutter wegen der von ihr erbrachten Pflegeleistung nicht erwerbstätig sein könne und deren Bedarf deshalb ebenfalls aus ihren, der Klägerin Einkünften zu decken sei.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des Amtsgerichts abzuändern und nach ihren Schlußanträgen aus der ersten Instanz zu erkennen.

Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Er verweist darauf, daß die krankheitsbedingten Mehraufwendungen grundsätzlich von dem Versicherer zu tragen seien und von diesem auch tatsächlich übernommen würden. Die Zinseinkünfte seien deshalb frei, um den Bedarf der Klägerin abdecken zu können.

Im übrigen würden die Verhandlungen offensichtlich nicht hinreichend gefördert, anderenfalls sei es nicht erklärbar, daß nach wie vor die gleichen Beträge gezahlt würden. Insbesondere hätte auch eine Regelung getroffen werden können, nach der das Pflegegeld nunmehr zur freien Verfügung stünde.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachvortrages der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze sowie auf den Berichterstattervermerk zum Senatstermin vom 19. Februar 2003 Bezug genommen.

Gründe

Die Berufung hat weitgehend Erfolg, denn die Klage ist zum überwiegenden Teil begründet. Der Klägerin steht Kindesunterhalt gegen den Beklagten nach der 1. Einkommensgruppe der Unterhaltstabelle zu (§ 1601, 1602, 1610 BGB), so daß der Beklagte für den Zeitraum Oktober bis Dezember 2001 monatlich 268,43 &...8364; (= 525,00 DM) und ab Januar 2002 von monatlich 269,00 &...8364; zu zahlen hat.

1.

Der Beklagte ist der Klägerin als Vater nach § 1601 BGB zum Unterhalt verpflichtet.

2.

Der Beklagte hat weder dargelegt noch gar bewiesen, daß er außer Stande ist, der Klägerin Unterhalt nach der ersten Einkommensgruppe der Düsseldorfer Tabelle (Regelbetrag) zu zahlen. Zwar ist er arbeitslos und bezieht zur Zeit lediglich Arbeitslosengeld, das mit rd. 840,00 &...8364; nur in Höhe von ca. 110,00 &...8364; über dem eigenen notwendigen Selbstbehalt liegt. Der Beklagte erzielt jedoch zum einen weitere Nebeneinkünfte. Zum anderen verfügt er über eine abgeschlossene Berufsausbildung als Maurer und hinreichende Berufserfahrung. Es kann deshalb davon ausgegangen werden, daß er bei Entfaltung der erforderlichen Erwerbsbemühungen in der Lage ist, auf dem Arbeitsmarkt eine Vollerwerbstätigkeit zu erhalten, die ihm die Zahlung des Regelbetrages ermöglicht.

Dagegen hat die Klägerin nicht substantiiert vorgetragen, daß dem Beklagten die Annahme einer Erwerbsbeschäftigung möglich ist, die ihm die Zahlung höheren Unterhalts ermöglicht.

3.

Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts ist die Klägerin auch als bedürftig anzusehen, da sie nicht in der Lage ist, sich selbst zu unterhalten (§ 1602 Abs. 1 BGB). Weder ist die Klägerin gehalten, den Stamm ihres Vermögens einzusetzen (§ 1602 Abs. 2 BGB), noch reichen ihre laufenden Einkünfte zur Bedarfsdeckung in vollem Umfang aus.

a)

Zu Recht hat allerdings das Amtsgericht die von der X gezahlte Mehrbedarfsrente sowie das Pflege- und das Blindengeld der Regelung des § 1610 a BGB unterstellt. Auf Grund ihrer schweren Behinderung hat die Klägerin nämlich Mehraufwendungen zu tragen, die mit der Mehrbedarfsrente bzw. dem Blinden- und Pflegegeld abzudecken sind. Hierdurch sollen die schädigungsbedingten Mehraufwendungen kompensiert werden, so daß diese Zahlungen als soziale Leistungen im Sinne des § 1610 a BGB anzusehen sind. Der Beklagte hat demgegenüber nicht dargelegt, daß die Kosten der behinderungsbedingten Aufwendungen niedriger sind als diese Leistungen. Denn er behauptet lediglich, daß die sozialen Leistungen ausreichend seien, um den Mehrbedarf abzudecken, nicht jedoch, daß die gezahlten Sozialleistungen den Mehrbedarf der Klägerin überschreiten und daher zum Teil zur Deckung des allgemeinen Bedarfs heranzuziehen seien.

b)

Der Senat hält es dagegen für unangemessen, die von der Klägerin erzielten Kapitaleinkünfte aus dem Abfindungsbetrag in vollem Umfang bedarfsdeckend zu berücksichtigen. Dabei kann offen bleiben, ob auch Kapitaleinkünfte aus einem Schmerzensgeld der Regelung des § 1610 a BGB unterfallen. Dies soll nach Auffassung des OLG Düsseldorf (FamRZ 1992, 1097) nicht der Fall sein, da die Zweckbestimmung des Schmerzensgeldes nicht dahin gehe, den Unterhaltsverpflichteten zu entlasten. Nach gegenteiliger Auffassung sind auch Einkünfte aus der Anlage von Schmerzensgeld für den eigenen Unterhalt zu verwenden und mindern deshalb den Unterhaltsanspruch (so etwa BGH FamRZ 88, 2031). Auch die Anwendung dieser - dem Beklagten günstigere - Rechtsauffassung steht jedoch unter dem Vorbehalt, daß die Anrechnung des Schmerzensgeldes auf den Unterhaltsbedarf im Einzelfall der Billigkeit entspricht. Dies ist nach Auffassung des Senats hier nicht der Fall, da der Klägerin nicht verwehrt werden kann, die Kapitaleinkünfte zum Teil als Rücklage für zukünftige Aufwendungen anzusparen.

In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, daß ein Teil des Abfindungsbetrages schon für Aufwendungen - so etwa auch für den von dem Beklagten mit veranlaßten Grundstückskauf - aufgezehrt ist. Darüber hinaus ist davon auszugehen, daß die Klägerin auf Grund ihrer schweren Behinderung lebenslang auf Pflege angewiesen sein wird. Zur Zeit wird diese Pflege zwar von ihrer Mutter erbracht. Jedoch ist im Rahmen einer vorausschauenden Planung auf Seiten der Klägerin auch Vorsorge für die Zeit zu treffen, in der ihre Mutter hierzu körperlich nicht mehr in der Lage sein wird. Um auch dann noch weiterhin eine Pflege im eigenen Heim sicher gewährleisten zu können, ist die Klägerin berechtigt, hierfür Rücklagen zu bilden. Der Klägerin kann im Hinblick auf ihre konkrete Situation nicht angesonnen werden, die Kapitaleinkünfte jetzt vollständig zu verbrauchen und damit Gefahr zu laufen, später auf eine Heimunterbringung angewiesen zu sein. Zwar stünde in diesem Fall immer noch der Kapitalstock zur Verfügung, um die Pflege zu gewährleisten. Dieser - durch die Inflation noch geminderte und zum Teil schon verbrauchte - Kapitalstock wird jedoch aller Voraussicht nach nicht ausreichen, um in jedem Fall die häusliche Pflege sicher zu stellen. Auch der Umstand, daß die Westfälische Provinzial letztendlich für den Schadensfall in voller Höhe einzustehen hat, führt nicht zu einer anderen Beurteilung. Denn der Versicherer wird darauf bedacht sein, möglichst eine kostensparende Betreuung, also eine Heimunterbringung zu gewährleisten. Darüber hinausgehende Vergünstigungen wird die Klägerin aus eigenen Mitteln zu zahlen haben.

Bei dieser Beurteilung hat der Senat nicht unberücksichtigt gelassen, daß die Klägerin ohnehin bereits jetzt - auf Grund der sich hinziehenden Verhandlungen mit der X - die Kapitaleinkünfte teilweise einsetzen muß, um ihren behinderungsbedingten Mehrbedarf abzudecken. Die Klägerin hat im Jahr 2001 Gesamteinkünfte von rd. 96.784,00 DM erzielt. Zieht man hiervon die Kapitaleinkünfte mit 16.310,00 DM und das Pflegegeld über 15.600,00 DM im Hinblick auf die mit Einführung der Pflegeversicherung entstandene Rechtsunsicherheit ab, verbleibt ein Betrag von 64.874,00 DM zur Deckung des behinderungsbedingten Mehrbedarfs.

Dieser belief sich aber im Jahre 2001 schon auf 71.560,00 DM. Der von der Klägerin angegebene Kostenaufwand für den Mehrbedarf in Höhe von sogar rund 87.792,00 DM ist um die im Grundbedarf enthaltenen allgemeinen Wohnkosten, um die von dem Versicherer zu tragenden behinderungsbedingten Wohnmehrkosten, um die nicht substantiierten Kosten für juristische Auseinandersetzungen und um einen Teil der - allgemeinen - Pkw-Kosten auf 71.560,00 DM zu kürzen. Darin enthalten ist der mit 25.560,00 DM nachvollziehbar dargelegte Verdienstausfall der die Pflege leistenden Mutter der Klägerin. Zur Deckung des Fehlbetrages von (71.560,00 DM - 64.874,00 DM =) 6.686,00 DM mußte die Klägerin daher schon 2001 auf einen wesentlichen Teil ihrer Kapitaleinkünfte zurückgreifen mit künftig steigender Tendenz angesichts der Zinsentwicklung auf dem Kapitalmarkt.

Hält man die Klägerin aber für befugt, einen Teil des ihr nach Deckung des Mehrbedarfs verbleibenden Kapitalertrages in Höhe von (16.300,00 DM - 6.686,00 DM =) 9.614,00 DM zur Bildung von Rücklagen einzusetzen, ist sie zur Deckung ihres allgemeinen Grundbedarfs auf Barunterhalt des Beklagten jedenfalls in Höhe des Regelbetrages angewiesen.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 91, 92 ZPO; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit rihtet sich nach §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.