VG Hamburg, Beschluss vom 11.08.2016 - 9 E 3661/16
Fundstelle
openJur 2016, 10089
  • Rkr:
Tenor

Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin vom 3. August 2016 (9 K 3660/16) gegen den Bescheid vom 2. Juni 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. Juli 2016 wird wiederhergestellt, soweit dort unter Nr. 2.4 für Sonnabend, den ... 2016 und Sonntag, den ... 2016 für den Zeitraum von jeweils 00:00 Uhr bis 04:00 Uhr am Krankenhaus ... ein Immissionsgrenzwert von weniger als 50 dB(A) und vor dem Wohnhaus ... ein Immissionsgrenzwert von weniger als 55 dB(A) festgesetzt wurde.

Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.

Von den Kosten des Verfahrens tragen die Antragstellerin 1/3 und die Antragsgegnerin 2/3.

Der Streitwert wird auf 5.000 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

Die Antragstellerin wendet sich im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes gegen festgesetzte Lärmgrenzwerte für das ... Festival 2016.

Die Antragstellerin betreibt seit 2007 auf dem Gelände ... die Open-Air-Musik- und Kunstveranstaltung ... Das Musikprogramm, das auf sechs Bühnen stattfindet, beginnt in diesem Jahr am Donnerstag, den ... 2016, ab 18.00 Uhr und endet am Sonntag, den ... 2016; hinzu kommen An- und Abreise der erwarteten ca. 20.000 Besucher. Konzerte finden von etwa 16.00 Uhr bis teilweise 6.00 Uhr statt.

Das Veranstaltungsgelände liegt im Geltungsbereich des Baustufenplans ..., festgestellt am ... 1956, in dem es als Industriegebiet nach § 10 BPVO festgesetzt ist. Etwa 300 bis 500 m Luftlinie vom Veranstaltungsgelände entfernt liegt das Krankenhaus ... Es liegt im Geltungsbereich des Bebauungsplans ... vom ... 1980, in dem es als Fläche für den Gemeinbedarf, Krankenhaus, ausgewiesen ist. Das Wohnhaus ..., etwa 400 bis 500 m vom Veranstaltungsgelände entfernt, liegt ebenfalls im Geltungsbereich des Baustufenplans ... vom ... 1956, in dem es als – nicht besonders geschütztes – Wohngebiet nach § 10 BPVO festgesetzt ist.

Mit E-Mail vom 12. Mai 2016 beantragte die Antragstellerin unter Berufung auf die 2015 geänderte Freizeitlärmrichtlinie im Vergleich zum Vorjahr eine Erweiterung der Lärmrichtwerte von 0.00 bis 4.00 Uhr auf 55 dB(A). Zur Begründung führte sie an, die Veranstaltung genieße eine hohe Akzeptanz in der ... Bevölkerung. Es habe seit Jahren keine Beschwerden über die Lautstärke gegeben, auch nicht aus dem Krankenhaus ... Mit diesem sei vereinbart, dass die Lautstärke bei Beschwerden von Patienten sofort verringert werde.

In seiner Sitzung vom 31. Mai 2016 sprach der Regionalausschuss ... dem ... Festival 2016 mehrheitlich eine Standortgebundenheit, soziale Adäquanz und Akzeptanz im Stadtteil zu und befürwortete auf den Nebenbühnen am Freitag und Samstag einen Spielbetrieb von 0.00 Uhr bis 5.00 Uhr bis maximal 55 dB(A), solange es keine Beschwerden vom Krankenhaus ... gebe.

Mit Bescheid vom 2. Juni 2016 setzte die Antragsgegnerin u. a. am Krankenhaus ... für Sonnabend, den ... 2016 und Sonntag, den ... 2016 jeweils für den Zeitraum von 0.00 Uhr bis 2.00 Uhr einen Immissionsgrenzwert von 45 dB(A) und für den Zeitraum von 2.00 Uhr bis 4.00 Uhr einen Immissionsgrenzwert von 35 dB(A) fest. Vor dem Wohnhaus ... setzte sie in den entsprechenden Zeiträumen Immissionsgrenzwerte von 50 dB(A) bzw. 40 dB(A) fest. Gleichzeitig ordnete sie die sofortige Vollziehung ihrer Anordnung an. Zur Begründung berief sie sich auf den besonderen Schutzcharakter, der für das Krankenhaus und dessen Patienten zu wahren sei.

Hiergegen legte die Antragstellerin unter dem 27. Juni 2016 Widerspruch ein, den die Antragsgegnerin, nachdem sie am Freitag, den 22. Juli 2016 Akteneinsicht gewährt und eine Entscheidung für die 31. Kalenderwoche angekündigt hatte, mit Widerspruchsbescheid vom 25. Juli 2016 (30. Kalenderwoche) zurückwies. Zur Begründung bezog sie sich ergänzend auf Rechtsprechung, nach der nächtliche Musikveranstaltungen neben Krankenhäusern nicht in Betracht kämen. Das Interesse der Patienten an einem effektiven Lärmschutz genieße Vorrang vor dem kulturell-wirtschaftlichen Interesse der Antragstellerin und der Besucher des Festivals. Die Leitung des Krankenhauses ... könne nicht für die einzelnen Patienten sprechen, die ihr kaum bekannt sein dürften. Eine Lärmpegelregulierung auf Zuruf sei kein gleichwirksames Mittel.

Am 3. August 2016 hat die Antragstellerin den vorliegenden Antrag im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gestellt und Klage erhoben. Zur Begründung beruft sie sich ergänzend auf die Lärmvorbelastung, die von dem Hafengebiet ausgehe, in dem das Veranstaltungsgelände liege.

Die Antragsgegnerin macht im vorliegenden Verfahren ergänzend geltend, das Fehlen von Beschwerden in den vergangenen Jahren sei auf ihre auch damals getroffenen immissionsschutzrechtlichen Anordnungen zurückzuführen. Es sei unklar, ob etwaige Beschwerden von Patienten hinreichend umgesetzt werden könnten. Da die Antragstellerin mehrere Veranstaltungen durchführe, sei das ... Festival nicht der jährliche gesellschaftliche Höhepunkt der Region. Schließlich habe die Antragsgegnerin auch weitere Veranstaltungen in der Nähe anderer Krankenhäuser in den Blick zu nehmen.

II.

A.

Der Antrag hat überwiegend Erfolg. Er ist zulässig (hierzu unter 1.) und im tenorierten Umfang begründet (dazu unter 2).

1. Der Antrag ist zulässig, insbesondere gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1, 2. Alt. VwGO statthaft, da der Klage der Antragstellerin gegen den Bescheid vom 2. Juni 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. Juli 2016 gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO keine aufschiebende Wirkung zukommt.

2. Der Antrag ist überwiegend begründet. Bedenken gegen die formelle Rechtmäßigkeit der Vollziehungsanordnung (§ 80 Abs. 3 VwGO) bestehen nicht. In der Sache überwiegt das Interesse der Antragstellerin, von der sofortigen Vollziehung der streitigen Immissionsbegrenzungen vorläufig verschont zu bleiben, das Interesse der Öffentlichkeit an deren sofortigen Vollziehung, soweit jeweils von 0.00 Uhr bis 4.00 Uhr am Krankenhaus ... ein Immissionsgrenzwert von weniger als 50 dB(A) und vor dem Wohnhaus ... ein Immissionsgrenzwert von weniger als 55 dB(A) festgesetzt wurde. Denn nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage dürfte die Klage der Antragstellerin insoweit Erfolg haben. Die angefochtene Anordnung der Antragsgegnerin ist insoweit voraussichtlich rechtswidrig und verletzt die Antragstellerin in ihren Rechten.

a) Die Antragsgegnerin kann ihre Verfügung allerdings entgegen der Ansicht der Antragstellerin aller Voraussicht nach auf § 24 Satz 1 BImSchG stützen. Nach dieser Vorschrift kann die zuständige Behörde im Einzelfall die zur Durchführung des § 22 BImSchG erforderlichen Anordnungen treffen. Nach § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 BImSchG sind nicht genehmigungsbedürftige Anlagen so zu errichten und zu betreiben, dass schädliche Umwelteinwirkungen verhindert werden, die nach dem Stand der Technik vermeidbar sind, und nach dem Stand der Technik unvermeidbare schädliche Umwelteinwirkungen auf ein Mindestmaß beschränkt werden. Die Veranstaltung der Antragstellerin fällt in den Anwendungsbereich des § 22 BImSchG (vgl. VG Würzburg, Beschl. v. 30.5.2016, W 5 E 16.483, juris, Rn. 52, für Freilichttheater-Festspiele mit Musicals und Rockevents). Das Festivalgelände am ... ist nämlich eine ortsfeste Einrichtung i. S. d. § 3 Abs. 5 Nr. 1 BImSchG und damit eine Anlage, denn der Anlagenbegriff des § 3 Abs. 5 BImSchG ist weit zu fassen (vgl. VG Gießen, Beschl. v. 2.7.2004, 8 G 2673/04, NVwZ-RR 2005, 103). Dem entspricht es, dass die Freizeitlärmrichtlinie der Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft für Immissionsschutz (LAI) vom 6. März 2015 (im Folgenden: Freizeitlärmrichtlinie) Grundstücke, auf denen in Zelten oder im Freien Diskothekenveranstaltungen, Lifemusik-Darbietungen, Rockmusikdarbietungen, Platzkonzerte, regelmäßige Feuerwerke, Volksfeste o.a. stattfinden, als Anlage i. S. d. § 3 Abs. 5 BImSchG definiert. Vom Anwendungsbereich des § 22 BImSchG werden auch Veranstaltungen erfasst, die – wie das ... Festival – nur einmal jährlich stattfinden (vgl. VGH Kassel, Urt. v. 25.2.2005, 2 UE 2890/04, NVwZ-RR 2006, 531).

b) Die im Widerspruchsverfahren unterbliebene Anhörung der Antragstellerin wird voraussichtlich ebenfalls nicht zu einer Aufhebung der angegriffenen Auflagen führen. Ein Verstoß gegen die Anhörungspflicht des § 28 HmbVwVfG ist nach § 45 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 HmbVwVfG heilbar, weil die Anhörung im verwaltungsgerichtlichen (Hauptsache-) Verfahren nachgeholt werden kann.

c) Die angegriffenen Anordnungen erweisen sich nach summarischer Prüfung als materiell rechtswidrig, soweit sie für das Krankenhaus ... einen Immissionsgrenzwert von weniger als 50 dB(A) und vor dem Wohnhaus ... einen Immissionsgrenzwert von weniger als 55 dB(A) festsetzen. Sie sind insoweit nicht i. S. d. § 24 Satz 1 BImSchG zur Beschränkung schädlicher Umwelteinwirkungen nach § 22 Abs. 1 Satz 1 BImSchG erforderlich, weil die von dem Vorhaben der Antragstellerin ausgehenden Lärmimmissionen insoweit die Erheblichkeitsschwelle des § 3 Abs. 1 BImSchG nicht überschreiten dürften.

aa) Die Erheblichkeit immissionsbedingter Beeinträchtigungen gemäß § 3 Abs. 1 BImSchG bemisst sich danach, ob sie das den Betroffenen in der jeweiligen Situation zumutbare Maß überschreiten. Sie wird entscheidend durch die bebauungsrechtliche Situation bestimmt, in der sich störende und gestörte Nutzung befinden (BVerwG, Urt. v. 24.4.1991, 7 C 12/90, NVwZ 1991, 884). Für die Beurteilung der Zumutbarkeit sind insbesondere Art, Ausmaß und Dauer der fraglichen Immissionen, ihre soziale Adäquanz und allgemeine Akzeptanz in der Bevölkerung sowie die Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit des davon betroffenen Gebiets von Bedeutung (OVG Münster, Beschl. v. 25.5.2016, 4 B 581/16, BeckRS 2016, 47491; VGH München, Beschl. v. 12.5.2004, 24 CE 04.1230, NVwZ 2005, 719).

Fehlt es, wie hier, an einer normativen Konkretisierung der Erheblichkeitsschwelle, bedarf es einer Beurteilung der Zumutbarkeit anhand der Umstände des jeweiligen Einzelfalls, insbesondere unter Berücksichtigung der Eigenart der einzelnen Immissionen (Art, Ausmaß, Dauer, Häufigkeit, Lästigkeit) und der speziellen Schutzwürdigkeit des betroffenen Gebiets (VGH München, Beschl. v. 22.11.2005, 22 ZB 05.2679, NJOZ 2006, 2965; VG Würzburg, Beschl. v. 30.5.2016, W 5 E 16.483, juris). Für diese Beurteilung kann vorliegend die Freizeitlärmrichtlinie als Orientierungshilfe herangezogen werden (vgl. BGH, Urt. v. 26.9.2003, V ZR 41/03, NJW 2003, 3699; OVG Münster, Beschl. v. 25.5.2016, 4 B 581/16, BeckRS 2016, 47491). Sie findet nach ihrer Ziff. 1 Anwendung für Freizeitanlagen, und zwar insbesondere für Grundstücke, auf denen in Zelten oder im Freien Diskothekenveranstaltungen, Lifemusik-Darbietungen, Rockmusikdarbietungen, Platzkonzerte, regelmäßige Feuerwerke, Volksfeste o. a. stattfinden. In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass die von Sachverständigen ausgearbeitete Freizeitlärmrichtlinie den Gerichten als Entscheidungshilfe dienen kann (BVerwG, Urt. v. 24.4.1991, 7 C 12/90, NVwZ 1991, 884; OVG Münster, a. a. O.).

Die Freizeitlärmrichtlinie sieht Immissionsrichtwerte vor, oberhalb derer in der Regel mit erheblichen Belästigungen zu rechnen ist (Ziff. 4.1 bis 4.3). Für seltene Veranstaltungen mit hoher Standortgebundenheit oder sozialer Adäquanz und Akzeptanz ist vorgesehen, dass diese trotz Überschreitung der allgemeinen Immissionsrichtwerte auf der Grundlage einer Sonderfallbeurteilung zulässig sein können (Ziff. 4.4). Dabei ist bei zu erwartenden Überschreitungen des Beurteilungspegels vor den Fenstern im Freien von 70 dB(A) tags und/oder 55 dB(A) nachts deren Zumutbarkeit explizit zu begründen und es sollen Überschreitungen eines Beurteilungspegels nachts von 55 dB(A) nach 24.00 Uhr vermieden werden. Schon die Freizeitlärmrichtlinie selbst lässt dabei Raum für eine Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls. Dazu gehören insbesondere die Anzahl der Störereignisse sowie ihr Anlass, der unter dem Gesichtspunkt der sozialen Adäquanz für die Beurteilung der Erheblichkeit von Beeinträchtigungen von Bedeutung ist. Danach können bei sehr seltenen Veranstaltungen von herausragender Bedeutung für die örtliche Gemeinschaft selbst Lärmwirkungen noch als unerheblich zu bewerten sein, welche die in der Freizeitlärmrichtlinie für seltene Veranstaltungen vorgesehenen Richtwerte überschreiten (vgl. BGH, Urt. v. 26.9.2003, V ZR 41/03, NJW 2003, 3699; OVG Münster, Beschl. v. 25.5.2016, 4 B 581/16, BeckRS 2016, 47491). Je gewichtiger der Anlass für die Gemeinde oder die Stadt ist, desto eher ist der Nachbarschaft zuzumuten, an wenigen Tagen im Jahr Ruhestörungen hinzunehmen (vgl. VGH Kassel, Urt. v. 25.2.2005, 2 UE 2890/04, NVwZ-RR 2006, 531).

bb) Gemessen an diesen Maßstäben sind nach Abwägung und Ausgleich der widerstreitenden Interessen im vorliegenden konkreten Einzelfall nach Auffassung der Kammer vor dem Krankenhaus ... Immissionen von 50 dB(A) und vor dem Wohnhaus ... Immissionen von 55 dB(A) in der Zeit von 0.00 Uhr bis 4.00 Uhr in zwei Nächten noch zumutbar i. S. d. Ziffer 4.4.2 der Freizeitlärmrichtlinie:

Einschlägig sind hier die für Sonderfälle bei seltenen Veranstaltungen mit hoher Standortgebundenheit oder sozialer Adäquanz und Akzeptanz nach Ziff. 4.4 der Freizeitlärmrichtlinie vorgesehenen Richtwerte. Die Antragsgegnerin nimmt zu Recht nicht in Abrede, dass es sich bei dem ... Festival 2016 um eine Veranstaltung handelt, die i. S. d. Ziff. 4.4.1 der Freizeitlärmrichtlinie eine hohe Standortgebundenheit aufweist. Alternative Standortflächen sind nicht ersichtlich, der Charakter des Festivals wird maßgeblich auch durch die Hafenatmosphäre geprägt. Die Veranstaltung ist zudem von hoher sozialer Adäquanz und Akzeptanz geprägt, wie insbesondere die Stellungnahme des Regionalausschusses ... vom 31. Mai 2016 belegt.

Für solche Sonderfälle führt die Freizeitlärmrichtlinie in Ziff. 4.4.2 lit. a) Beurteilungspegel von 70 dB(A) tags und 55 dB(A) nachts auf, die – erst – im Falle einer Überschreitung einer expliziten Begründung der Zumutbarkeit bedürfen. Daraus ist zu folgern, dass diese Werte grundsätzlich als zumutbar zu erachten sind (VGH Kassel, Beschl. v. 28.8.2015, 9 B 1586/15, BeckRS 2016, 45758; VG Neustadt a. d. Weinstraße, Urt. v. 9.5.2016, 4 K 1107/15.NW, BeckRS 2016, 46692).

Die Kammer sieht auch in Ansehung der Umstände des vorliegenden konkreten Einzelfalls im Hinblick auf das Wohnhaus ... keinen Anlass für eine Abweichung von den Richtwerten für Sonderfälle gemäß Ziff. 4.4.2 lit. a) Freizeitlärmrichtlinie. Im Hinblick auf das Krankenhaus ... hält sie einen Abschlag hiervon von 5 dB(A) für vertretbar. Im Einzelnen:

(1) Die Kammer verkennt nicht, dass eine Störung der Nachtruhe meist eine erhebliche Einwirkung auf die Gesundheit oder das Wohlbefinden darstellt (vgl. BGH, Urt. v. 26.9.2003, V ZR 41/03, NJW 2003, 3699; VG Gelsenkirchen, Urt. v. 21.6.2007, 8 K 3694/06, BeckRS 2007, 27515). Zu berücksichtigen ist aber auch, dass die Nachtruhe nicht generell geschützt wird (BGH, a. a. O.). In diesem Zusammenhang ist zugunsten der Antragstellerin und der Besucher des Festivals zu gewichten, dass die angegriffenen Immissionsbegrenzungen die Nächte auf Samstag und Sonntag betreffen (vgl. Ziff. 4.4.3 Punkt 2 Freizeitlärmrichtlinie), so dass die darauffolgenden Tage allgemein arbeits- bzw. schulfrei sind und sich die in ihrer Nachtruhe beeinträchtigten Anwohner durch längeres Ausschlafen erholen können (vgl. OVG Koblenz, Urt. v. 14.9.2004, 6 A 10949/04, juris, Rn. 20).

(2) Auf Seiten der betroffenen Nachbarn ist ferner in Rechnung zu stellen, dass sie bereits in den Stunden vor Mitternacht einer höheren Gesamtbelastung ausgesetzt werden (vgl. VGH Kassel, Urt. v. 25.2.2005, 2 UE 2890/04, NVwZ-RR 2006, 531). Jedenfalls für Teile der Anwohner der ...straße dürfte freilich die Möglichkeit bestehen, sich der Veranstaltung tagsüber zeitweise zu entziehen, zumal sie in die Hamburger Sommerferien fällt. Dass die Anzahl der Tage mit seltenen Veranstaltungen auf dem betreffenden Gelände i. S. d. Ziff. 4.4.2 lit. d) Freizeitlärmrichtlinie 18 pro Kalenderjahr übersteigt, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Die meisten der Veranstaltungen, die die Antragstellerin auf dem Veranstaltungsgelände durchführt, dürften keine Sonderfälle i. S. d. Ziff. 4.4.1 Freizeitlärmrichtlinie sein. Das Musikprogramm der Tagesveranstaltung ... für Jugendliche endet laut Veranstaltungsbeschreibung um 22.00 Uhr, die Tanzveranstaltung ... ebenfalls. ... ist eine Kinderferienfreizeit mit Workshops, die um 18.00 Uhr enden. Lediglich im Rahmen der Veranstaltungen ... und ... dauert das Programm an vier Tagen bis in die Nacht.

(3) Für die Zumutbarkeit der tenorierten Immissionsgrenzen streitet demgegenüber maßgeblich die herausragende Bedeutung des ... Festivals für die örtliche Gemeinschaft. Nach Auffassung der Antragsgegnerin, die die Veranstaltung deshalb durch Haushaltsmittel fördert, kommen „im Rahmen der Mittelvergabe aus der Kultur- und Tourismustaxe zum Zweck „Attraktivierung der Musikstadt“ [...] inhaltlich klar fokussierten Musikfestivals mit internationalen Künstlerinnen und Künstlern“, wozu u. a. ... zähle, „eine vorrangige Rolle zu“. „Zentrale große Festivals“ wie z. B. ... „können nicht weg gedacht werden ohne, dass dies mit einem spürbaren Verlust des kulturellen Lebens und der Wahrnehmung Hamburgs nach außen einher ginge“ (Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft über die Verwendung der Haushaltsmittel aus der Hamburgischen Kultur- und Tourismustaxe im Haushaltsjahr 2016, Bü-Drucks. 21/2659 vom 22.12.2015, S. 2).

Vor diesem Hintergrund vermag die Kammer der im vorliegenden Verfahren mit Blick auf die weiteren Veranstaltungen der Antragstellerin vertretenen Auffassung der Antragsgegnerin, das ... Festival sei nicht der jährliche gesellschaftliche Höhepunkt der Region, nicht zu folgen, zumal die Besucherzahlen der anderen Veranstaltungen ausweislich der beigezogenen Sachakte weit hinter denen des ... Festivals zurückbleiben (...: max. 2.000 Besucher; ...: max. 500 Besucher pro Tag; ...: max. 5.000 Besucher; ...: max. 3.000 Besucher; ...: max. 3.000 Besucher; ...: 150 Kinder und Jugendliche, ... max. 200).

(4) Zu berücksichtigen ist außerdem die bebauungsrechtliche Situation, in der sich störende und gestörte Nutzung befinden. Wo die Erheblichkeitsgrenze verläuft, richtet sich nämlich nach der Schutzwürdigkeit und der Schutzbedürftigkeit der Umgebung, wobei sich dies bei Immissionen nicht unabhängig von etwaigen Vorbelastungen bewerten lässt. Ist der Standort schon durch Belästigungen in einer bestimmten Weise vorgeprägt, so vermindern sich entsprechend die Anforderungen des Rücksichtnahmegebotes. Im Umfang der Vorbelastung können deshalb Immissionen zumutbar sein, auch wenn sie sonst in einem vergleichbaren Gebiet nicht mehr hinnehmbar wären (vgl. OVG Berlin, Beschl. v. 28.1.2010, OVG 10 S 31.09, juris, Rn. 14). Dementsprechend bestimmt Ziff. 2 Abs. 4 Freizeitlärmrichtlinie, dass eine besondere Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme bestehen kann, wenn aufgrund baulicher Entwicklungen in der Vergangenheit Wohngebiete und Freizeitanlagen eng zusammen liegen. Sofern an störenden Anlagen alle verhältnismäßigen Emissions-Minderungsmaßnahmen durchgeführt sind, kann die Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme dazu führen, dass die Bewohner mehr an Geräuschen hinnehmen müssen als die Bewohner von gleichartig genutzten Gebieten, die fernab derartiger Anlagen liegen.

Nach diesen Maßstäben ist im vorliegenden Fall entscheidend zu berücksichtigen, dass das Veranstaltungsgelände seit 1956 durch den Baustufenplan ... als Industriegebiet ausgewiesen ist. Hieran unmittelbar angrenzend weist der Baustufenplan ... selbst den Bereich, in dem sich das Wohnhaus ... befindet, als Wohngebiet aus. In Kenntnis dieser situativen Vorbelastung wurde das Gebiet des Krankenhauses ... 1980 durch den Bebauungsplan ... 5 als Fläche für den Gemeinbedarf, Krankenhaus, ausgewiesen. Der Plangeber hat dabei auch die Immissionsschutzproblematik gesehen. Nach der Begründung zum Bebauungsplan war er sich darüber im Klaren, dass das Plangebiet mit den vom Gesetzgeber seinerzeit in Aussicht genommenen Immissionsgrenzwerten von 62 dB(A) tags und 52 dB(A) nachts an das Industriegebiet mit Immissionsgrenzwerten von 72 dB(A) bzw. 62 dB(A) grenzt (S. 6 der Begründung zum Bebauungsplan ... 5). Diese situativen Besonderheiten vermindern in rechtlicher Hinsicht die Schutzwürdigkeit des angrenzenden Plangebiets selbst dann, wenn das ausgewiesene Industriegebiet tatsächlich nur noch vergleichsweise gering industriell genutzt wird (vgl. OVG Berlin, Beschl. v. 28.1.2010, OVG 10 S 31.09, juris, Rn. 15; OVG Münster, Urt. v. 25.1.2010, 7 D 97/09.NE, juris, Rn. 88).

(5) Diese Gesichtspunkte vorangestellt, erachtet die Kammer unter Abwägung aller ersichtlichen Belange im vorliegenden Einzelfall am Wohnhaus ... einen Beurteilungspegel von 55 dB(A) [hierzu (a)] und am Krankenhaus ... einen Beurteilungspegel von 50 dB(A) [hierzu (b)] im Zeitraum von 0.00 Uhr bis 4.00 Uhr noch als zumutbar.

(a) Umstände, die dafür sprechen könnten, den in der Freizeitlärmrichtlinie für Sonderfälle nachts grundsätzlich als zumutbar erachteten Beurteilungspegel von 55 dB(A) am Wohnhaus ... weiter zu begrenzen, sind nicht ersichtlich und werden auch von der Antragsgegnerin nicht geltend gemacht. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang auch, dass es sich entgegen der Annahme der Antragsgegnerin nicht um ein reines, sondern um ein nicht besonders geschütztes Wohngebiet handelt, für das nach Ziff. 4.1 lit. d) Freizeitlärmrichtlinie selbst im Normalfall um jeweils 5 dB(A) höhere Immissionsrichtwerte gelten als für das von der Antragsgegnerin zugrunde gelegte reine Wohngebiet gemäß Ziff. 4.1 lit. e) Freizeitlärmrichtlinie. Zur Bestimmung der in einem nicht besonders geschützten Wohngebiet i. S. d. § 10 Abs. 4 Abschnitt „Wohngebiet W“ BPVO zulässigen Nutzungen ist nämlich vornehmlich auf die Regelungen über allgemeine Wohngebiete nach § 4 BauNVO zurückzugreifen (OVG Hamburg, Urt. v. 13.2.2002, 2 Bf 22/97, juris, Rn. 36).

(b) Hinsichtlich des Krankenhauses ... erscheint der Kammer unter Berücksichtigung der besonderen Schutzbedürftigkeit der Patienten, die bereits tagsüber einem höheren Lärmpegel als üblich ausgesetzt sind (vgl. VG Gelsenkirchen, Urt. v. 21.6.2007, 8 K 3694/06, BeckRS 2007, 27515), ein Beurteilungspegel von 50 dB(A) noch vertretbar.

Nicht außer Acht gelassen werden kann im Ausgangspunkt, dass die Freizeitlärmrichtlinie die Richtwerte für Sonderfälle nach Ziff. 4.4 nicht nach Gebieten differenziert, insbesondere Krankenhäuser nicht ausnimmt.

Ferner ist zu berücksichtigen, dass den Interessen der Patienten auch nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, auf die sich die Antragsgegnerin stützt, nicht generell Vorrang zukommt. Der Bundesgerichtshof hat vielmehr ausgeführt, in Krankenhäusern und sonstigen Kliniken sei eine Störung der Nachtruhe „meist“ eine wesentliche Immission, sodann aber festgehalten, dass Vorhaben, insbesondere Volksfeste und ähnlichen Veranstaltungen, im Einzelfall Vorrang vor den schutzwürdigen Belangen Dritter haben können (BGH, Urt. v. 26.9.2003, V ZR 41/03, NJW 2003, 3699). Damit ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auch im Hinblick auf Krankenhäuser eine Abwägung der widerstreitenden Interessen erforderlich. Die von der Antragstellerin in Bezug genommenen – freilich nicht entscheidungstragenden und auf einen Immissionsrichtwert von 70 dB(A) bezogenen – Ausführungen des OVG Koblenz, neben einem Krankenhaus komme eine nächtliche Musikveranstaltung nicht in Betracht (OVG Koblenz, Urt. v. 14.9.2004, 6 A 10949/04, NJW 2005, 772; dies zitierend VG Neustadt a. d. Weinstraße, Urt. v. 22.7.2013, 5 K 894/12.NW, BeckRS 2013, 53637), stehen dem ebenfalls nicht entgegen. Das Veranstaltungsgelände befindet sich vorliegend nicht neben dem Krankenhaus, sondern mehrere hundert Meter entfernt.

Für einen Immissionsgrenzwert von 50 dB(A) spricht ein Vergleich zu den Richtwerten, die bei dem Betrieb einer in den Anwendungsbereich der Technischen Anleitung zum Schutz gegen Lärm (TA Lärm) fallenden Anlage sogar dauerhaft zumutbar wären. Da hier industriell genutzte und dem Wohnen dienende Gebiete aneinandergrenzen, dürfte eine Gemengelage gemäß Ziff. 6.7 TA Lärm gegeben sein, so dass ein geeigneter Zwischenwert zwischen dem für Industriegebiete maßgeblichen Beurteilungspegel von ganztägig 70 dB(A) und dem für Krankenhäuser einschlägigen Beurteilungspegel von 35 dB(A) nachts zu bilden wäre, der die Immissionsrichtwerte für Kern-, Dorf- und Mischgebiete nicht überschreitet. Ziff. 6.1 lit. c) TA Lärm legt hierfür nachts einen Beurteilungspegel von 45 dB(A) fest. In Anbetracht der Privilegierung des Volksfestlärms (vgl. VGH München, Beschl. v. 22.11.2005, 22 ZB 05.2679, BeckRS 2005, 31325) und des Umstandes, dass es vorliegend nicht um Dauerlärm, sondern um eine seltene Veranstaltung geht, erscheint für jeweils bis zu vier Stunden in zwei Nächten im Jahr ein Immissionsgrenzwert von 50 dB(A) vertretbar.

Zudem hält die Antragsgegnerin selbst eine Reduktion der zulässigen Pegel am Krankenhaus gegenüber dem Wohngebiet um 5 dB(A) für angemessen (vgl. Bescheid vom 2. Juni 2016, S. 7).

Dass sich die Leitung des Krankenhauses ... mit einer Anhebung des Immissionsgrenzwerts über 50 dB(A) hinaus einverstanden erklärt hätte, ist schon nicht substantiiert dargetan. Davon abgesehen weist die Antragsgegnerin zu Recht darauf hin, dass die Krankenhausleitung kaum pauschal auf die Individualrechtsgüter der ihr nicht bekannten Patienten verzichten könnte (vgl. Jarass, BImSchG, 11. Aufl. 2015, § 3 Rn. 64).

(6) Da sich die Zumutbarkeit anhand einer umfassenden Abwägung aller Umstände des konkreten Einzelfalles bemisst, der hier die Besonderheit aufweist, dass die zu schützenden Gebiete unmittelbar an ein Industriegebiet angrenzen, in dem die Veranstaltung stattfindet, greifen die Bedenken der Antragsgegnerin nicht durch, sie müsse auch weitere Veranstaltungen in der Nähe anderer Krankenhäuser in den Blick nehmen.

B.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Da die Antragstellerin die vollständige Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage für die betreffenden Zeiträume beantragt hat, ist sie insoweit unterlegen, als dies über die tenorierten Immissionsgrenzwerte hinausgeht. Die daraus resultierende Beschwer bemisst die Kammer mit 1/3. Die Streitwertfestsetzung richtet sich nach §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG. Für eine Reduzierung des Streitwerts im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes bleibt kein Raum, da es sich angesichts der unmittelbar bevorstehenden Veranstaltung um eine Vorwegnahme der Hauptsache handelt.

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