OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 17.01.2002 - 19 B 99/02
Fundstelle
openJur 2011, 18914
  • Rkr:
Verfahrensgang
Tenor

Die Beschwerde wird auf Kosten der Antragsteller zurückgewiesen.

Der Streitwert wird für das Zulassungsverfahren auf (4.000,- DM : 1,95583 =) 2045,1675 Euro festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, durch die der Antragsgegner verpflichtet wird, die Antragstellerin zu 1. von der Teilnahmepflicht an der vom 18. bis 26. Januar 2002 stattfindenden Klassenfahrt zu befreien, im Ergebnis zu Recht abgelehnt.

Die im Beschwerdeverfahren dargelegten Gründe, auf die die Prüfung durch das Oberverwaltungsgericht im Beschwerdeverfahren zunächst beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) in der Fassung des Art. 1 des Gesetzes zur Bereinigung des Rechtsmittelrechts im Verwaltungsprozess vom 20. Dezember 2001, BGBl. I 3987), zeigen über das vom Verwaltungsgericht berücksichtigte erstinstanzliche Vorbringen hinausgehende erhebliche Gesichtspunkte auf, die die tragende Erwägung, aus der das Verwaltungsgericht einen besonderen Ausnahmefall für eine Befreiung im Sinne von § 11 Abs. 1 der Allgemeinen Schulordnung (ASchO) verneint hat, zu erschüttern geeignet sind. Das Verwaltungsgericht hat in zutreffender Orientierung an dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. August 1993 - 6 C 8.91 -, NVwZ 1994, 578 ff., zu Grunde gelegt, dass zur Herbeiführung eines schonenden Ausgleichs im Konflikt der Grundrechte der Antragsteller mit dem staatlichen Erziehungs- und Bildungsauftrag eine zumutbare, nicht diskriminierende (organisatorische) Möglichkeit einer Teilnahme an der Klassenfahrt unter Wahrung der religiösen Überzeugung der Antragstellerin zu 1. besteht, indem ihr 15 Jahre alter Bruder sie als "Mahram" im Sinne des angeführten religiösen Gebotes begleitet. Weigert sich hingegen, wie die Antragsteller mit eidesstattlicher Versicherung nunmehr vortragen, der genannte Bruder so stark und nachhaltig, dass er mit (gewaltfreien) erzieherischen Mitteln nicht bewegt werden kann, die Antragstellerin zu 1. zu begleiten, und droht die Familie an dem Konflikt zu zerbrechen, sprechen beachtliche Gründe dafür, dass es unzumutbar ist, die Antragstellerin darauf zu verweisen, dass sie in Begleitung des Bruders an der Klassenfahrt teilnehmen kann.

Gleichwohl kann der Beschwerde bei der weiter gehenden Prüfung von Amtswegen, ob der Antrag nach § 123 VwGO auf der Grundlage erheblichen Beschwerdevorbringens im Ergebnis begründet ist, nicht stattgegeben werden. Denn die Antragstellerin zu 1. benötigt keine Befreiung nach § 11 Abs. 1 ASchO im Hinblick auf die bevorstehende Klassenfahrt und folglich auch nicht den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung. Sie hat ein sehr eindrückliches Bild der Beschränkungen und Zwänge, denen sie insbesondere als Mädchen mit ihren religiösen Vorstellungen unterworfen ist, und der Ängste, die sich für sie daraus mit Blick auf zu erwartende Situationen bei einer Klassenfahrt ergeben, gezeichnet. In ihrer eidesstattlichen Versicherung vom 11. Januar 2002 führt sie aus: Sie sei gläubige Muslimin und versuche weitgehend, ihr Leben nach ihrer Religion auszurichten. Klassenfahrten beschränkten sie wesentlich darin, ihr Leben so zu gestalten, wie es ihr Glaube von ihr verlange. Die Antragstellerin zu 1. verweist auf

- ihre ständige Furcht, auf Klassenfahrten könne in ihrem Essen Schweinefleisch sein, das sie aus religiösen Gründen nicht esse, - ihre Furcht, die fünf notwendigen täglichen Waschungen und Gebete nicht vor- nehmen zu können, - ihre psychische Belastung bei Nichteinhaltung der Regeln, - ihre Furcht, ihre Mitschülerinnen könnten sie seltsam finden, wenn sie so dusche, wie es ihr Glaube ihr allein ermögliche, - ihre Furcht, sich sogar vor ihren Mitschülerinnen unbekleidet zeigen zu müssen, - ihre Furcht, ihr Kopftuch zu verlieren, - ihre ständige Hektik in Sorge darum, nie ohne Kopftuch zu sein.

Auch wenn die Antragstellerin zu 1. ausdrücklich betont, sie fühle sich "durch die Religion gar nicht unterdrückt", so sind doch ihre Ängste, die sie artikuliert, religiös bedingt. Sie hat insgesamt Angst, in die angeführten Situationen zu kommen und ohne einen "Mahram" - wie Vater, Großvater, Bruder oder Onkel - über Nacht zu verreisen, also auch an der Klassenfahrt teilnehmen zu müssen. Nach der eidesstattlichen Versicherung ist überwiegend wahrscheinlich, dass die Antragstellerin zu 1. von den gesehenen Zwängen und den Ängsten so geprägt ist, dass sie ohne eine nach ihren maßgeblichen religiösen Vorstellungen geeignete Begleitperson nicht an der Klassenfahrt teilnehmen kann. Diese durch Zwänge und Ängste gekennzeichnete Situation bei der Klassenfahrt ist der bereits Krankheitswert besitzenden Situation einer partiell psychisch Behinderten vergleichbar, die behinderungsbedingt nur mit einer Begleitperson reisen kann. Es spricht Überwiegendes dafür, dass die geschilderten Zwänge und Ängste auch bei der Antragstellerin zu 1. bereits Krankheitswert erreichen, so dass sie im Sinne von § 9 Abs. 1 ASchO begründet verhindert ist, an der Klassenfahrt teilzunehmen, da ihr nach den eingangs ausgeführten Gründen gegenwärtig für die unmittelbar bevorstehende Klassenfahrt nicht hinreichend gesichert eine geeignete Begleitperson zur Verfügung steht.

Aus dem Vorstehenden folgt, dass der Verhinderungsgrund nur in Bezug auf die Klassenfahrt Bedeutung hat; er betrifft mithin nicht sonstige Unterrichtsveranstaltungen während dieser Zeit.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 159 Satz 1 VwGO, § 100 ZPO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 73 Abs. 1 GKG iVm §§ 13 Abs. 1, 14, 20 Abs. 3 GKG a. F. und ergeht unter Berücksichtigung des Art. 3 Ziff. 3 Nr. 11 des Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses vom 27. Juli 2001, BGBl I S. 1887, iVm Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 1103/97 des Rates vom 17. Juni 1997 über bestimmte Vorschriften im Zusammenhang mit der Einführung des Euro, Abl. EG Nr. L 162 S. 1 sowie Art. 14 der Verordnung (EG) Nr. 974/98 des Rates vom 3. Mai 1998 über die Einführung des Euro, Abl. EG Nr. L 139 S. 1.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 25 Abs. 3 Satz 2 GKG).