VG Stade, Beschluss vom 13.07.2016 - 1 B 1376/16
Fundstelle
openJur 2016, 8171
  • Rkr:
Gründe

I.

Der Antragsteller stammt nach eigenen Angaben aus der Elfenbeinküste. Am 15. Juni 2015 stellte er einen Asylantrag bei der Antragsgegnerin. Diese ermittelte einen EURODAC-Treffer der Kategorie 1 für Ungarn für den Antragsteller und ersuchte unter dem 23. Juni 2015 um seine Wiederaufnahme. Ungarn nahm keine Stellung zu diesem Gesuch.

Mit Bescheid vom 24. Juli 2015 lehnte die Antragsgegnerin seinen Antrag als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung des Antragstellers nach Ungarn an. Auf die Gründe des Bescheides wird Bezug genommen. Ausweislich der Zustellungsurkunde wurde der Bescheid dem Antragsteller am 28. Juli 2015 zugestellt. Klage wurde nicht erhoben.

Mit Schreiben vom 5. Oktober 2015 teilte die zuständige Ausländerbehörde mit, dass der Antragsteller seit dem 22. September 2015 unbekannt verzogen sei. Sie bat um eine Verlängerung der Überstellungsfrist für Ungarn. Die Antragsgegnerin teilt daraufhin unter dem 7. Oktober 2015 den ungarischen Behörden mit, dass eine Überstellung derzeit nicht möglich sei, weil der Antragsteller flüchtig sei. Eine Neuüberstellung erfolge bis spätestens 8. Januar 2017. Mit Schreiben vom selben Tag bat die Antragsgegnerin die Ausländerbehörde darum, die erforderlichen Maßnahmen einzuleiten. Sie teilte ferner mit, dass die Überstellungsfrist nun am 8. Januar 2017 ende.

Mit Anwaltsschriftsatz vom 15. Oktober 2015 meldete sich der Antragsteller bei der Antragsgegnerin und wies darauf hin, dass er psychisch erkrankt sei und sich in einer psychiatrischen Einrichtung aufgehalten habe. Etwaige Post sei möglicherweise einem Namensvetter zugestellt worden, der in derselben Unterkunft wie er gemeldet sei. Wahrscheinlich sei sein Asylantrag bereits beschieden worden. Es werde um Überprüfung gebeten. Dem Schreiben lag eine Vollmacht bei.

Mit Anwaltsschriftsatz vom 14. Mai 2016 wies der Bevollmächtigte darauf hin, dass sein Mandant ihm den Bescheid vom 24. Juli 2015 auszugsweise vorgelegt habe. Danach sei am 8. Januar 2016 die Überstellungsfrist verstrichen. Er bat um die Aufhebung des Bescheides und eine Rückäußerung. Die Antragsgegnerin wies daraufhin auf die Verlängerung der Überstellungsfrist bis zum 8. Januar 2017 wegen Untertauchens hin.

Am 6. Juli 2016 hat der Antragsteller bei dem zuständigen Verwaltungsgericht beantragt, die Antragsgegnerin im Rahmen einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der zuständigen Ausländerbehörde aufzugeben, dass vorläufig seine Überstellung/Abschiebung nach Ungarn auszusetzen ist. Er legt eine Meldeauflage der Ausländerbehörde vom 5. Juli 2016 vor, die ihm aufgibt, sich ab dem 6. Juli 2016 täglich um 7:15 Uhr bei einer Polizeidienststelle zu melden. Zudem sei ihm eine Bescheinigung ausgestellt worden, die „am Tag der Abschiebung, spätestens aber mit Ablauf des 12. Juli 2016 ungültig wird“. Daraus ergebe sich eine unmittelbare Gefahr, dass er überstellt werde. Eine Abschiebung nach Ungarn bedeute einen schweren, unzumutbaren Nachteil für ihn. Es liege ein Abschiebungshindernis vor. Es gebe systemische Schwachstellen im ungarischen Asyl- und Aufnahmesystem, welche die Gefahr einer unmenschlichen und entwürdigenden Behandlung mit sich brächten. Aktuelle Berichte ließen auf Kapazitätsengpässe bei der Unterbringung rückgeführter Ausländer schließen. Der Antragsteller weist auf einen Beschluss des Verwaltungsgerichts Frankfurt vom 7. August 2015 und ein Gesetz vom „21.09.“ hin, wonach auch die ungarische Armee zur Grenzsicherung eingesetzt werden dürfe. Eine Abschiebungsanordnung dürfe nicht „auf Vorrat“ ergehen. Zumindest gegenwärtig erweise sich die Abschiebungsanordnung aus Juli 2015 nicht mehr als wirksam. Es könne keine hinreichend zuverlässige Prognose gestellt werden, dass seine, des Antragstellers, Übernahme durch den ungarischen Staat in naher Zukunft abgeschlossen sein werde. Daher sprächen überwiegende Gründe für den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung.

Die Antragsgegnerin tritt dem Antrag entgegen. Das Verfahren des Antragstellers sei unanfechtbar abgeschlossen. Es sei nicht nachvollziehbar, dass der Antragsteller einerseits davon ausgehe, dass „höchste Eile“ geboten sei, andererseits aber vortrage, dass nicht feststehe, dass die Abschiebung nach Ungarn tatsächlich durchgeführt werden könne. Von systemischen Mängeln des ungarischen Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen sei auch aktuell nicht auszugehen. Der Einsatz der Armee zur Grenzsicherung betreffe den Antragsteller offensichtlich nicht.

Wegen des weiteren Vortrags der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze, wegen der weiteren Einzelheiten im Übrigen auf den Inhalt der vorliegenden Verwaltungsakte der Antragsgegnerin Bezug genommen.

II.

Der statthafte und zulässige Antrag hat keinen Erfolg.

Die Statthaftigkeit des Antrags nach § 123 Abs. 1 VwGO folgt daraus, dass ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht mehr möglich ist, weil der Bescheid der Antragsgegnerin vom 24. Juli 2015 unanfechtbar ist. Der Antragsteller kann daher Einwendungen gegen die auf § 34a Abs. 1 AsylG gestützte Abschiebungsanordnung nur noch geltend machen, indem er beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens stellt und im Hauptsachverfahren gegebenenfalls im Wege der Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO eine Sachentscheidung erzwingt. Der dem systematisch entsprechende statthafte Antrag im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist dann ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO zur Sicherung des geltend gemachten Anspruchs auf Wiederaufgreifen des Verfahrens, mit dem eine vorläufige Verhinderung der angeordneten Abschiebung erreicht werden soll, indem der Bundesrepublik Deutschland als Rechtsträgerin des Bundesamtes aufgegeben wird, der für die Abschiebung zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass vorläufig nicht aufgrund der früheren Mitteilung und der bestandskräftigen Abschiebungsanordnung abgeschoben werden darf (BayVGH, Beschluss vom 14.10.2015 - 10 CE 15.2165 u.a. -, juris).

Der Antrag ist auch zulässig. Insbesondere entfällt das Rechtsschutzbedürfnis für ihn nicht deshalb, weil zuvor ein Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 VwVfG beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hätte gestellt werden müssen. Eine vorherige Antragstellung war vorliegend wegen besonderer Dringlichkeit entbehrlich (Schoch, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 29. EGL Oktober 2015, § 123 Rn. 121b). Aus der Perspektive des Antragstellers war diese gegeben, weil die vorgelegte Meldeauflage der zuständigen Ausländerbehörde den Schluss zulässt, dass seine Überstellung nach Ungarn jederzeit erfolgen kann und soll.

Der Antrag ist allerdings nicht begründet.

Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Gemäß § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO sind das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) und die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) glaubhaft zu machen.

Vorliegend fehlt es an einem Anordnungsgrund. Dies folgt zwar nicht aus den Darlegungen des Antragstellers; aus seiner Sicht ist eine Vollziehung der Abschiebung nach Ungarn durchaus zeitnah zu befürchten. Allerdings ergibt sich der fehlende Anordnungsgrund aus den beigezogenen Verwaltungsakten, welche die Antragsgegnerin am 11. Juli 2016 in elektronischer Form vorgelegt hat. Obwohl der Antragsteller seiner Darlegungslast mit Blick auf den Anordnungsgrund Genüge getan hat, darf das Gericht seine Entscheidung auf die Sachlage stützen, wie sie sich aus den Verwaltungsakten ergibt. Dies folgt aus dem Amtsermittlungsgrundsatz. Nach § 86 Abs. 1 VwGO erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen (Satz 1). Es ist an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden (Satz 2). Diese Grundsätze gelten auch im Verfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO (Schoch, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 29. EGL Oktober 2015, § 123 Rn. 96b ff.).

Es ist nicht anzunehmen, dass der Antragsteller tatsächlich in absehbarer Zeit nach Ungarn überstellt werden wird. Aus der Verwaltungsakte ergibt sich, dass die Überstellung des Antragstellers nach Budapest für den 30. Juni 2016 vorgesehen war. Diese Überstellung hat offenbar nicht stattgefunden. Dies schließt das Gericht daraus, dass nunmehr die Überstellung des Antragstellers für den 4. August 2016 vorgesehen ist. Unter dem 7. Juli 2016 hat die Antragsgegnerin per Faxmitteilung die ungarischen Dublin-Behörden über die für den 4. August 2016 vorgesehene Überstellung unterrichtet. Ebenfalls am 7. Juli 2016 haben die ungarischen Dublin-Behörden die Antragsgegnerin per E-Mail in Kenntnis darüber gesetzt, dass eingehende Dublin-Überstellungen nicht akzeptierten werden könnten, und darum gebeten, diese Überstellung abzusagen und keine weiteren Überstellungen nach Ungarn in Zukunft zu planen („We kindly inform you that - with regard to our previous communication - we cannot accept any incoming Dublin transfers. Therefore we kindly ask you to cancel this transfer and we also ask you not to plan any Dublin transfers to Hungary in the future“). Die E-Mail ist aufgrund ihres Betreffs eindeutig auf das Überstellungsverfahren des Antragstellers bezogen und lässt den Schluss darauf zu, dass Ungarn die Mitwirkung an der Überstellung des Antragstellers derzeit und auch in Zukunft verweigert. Seine Überstellung ist damit nach Lage der Dinge nicht zu befürchten.

Aufgrund dieser Sachlage hat der Antragsteller möglicherweise einen Anspruch darauf, dass die Antragsgegnerin sein Verfahren gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG wiederaufgreift. Dies ist jedoch zunächst in einem entsprechenden Antragsverfahren zu klären.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO; 83b AsylG.