SG Neuruppin, Beschluss vom 26.11.2015 - S 20 KR 321/15 ER
Fundstelle
openJur 2016, 5754
  • Rkr:
Tenor

1. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache vorläufig verpflichtet, der Antragstellerin Krankengeld für den Zeitraum 7. September 2015 bis 31. Oktober 2015 dem Grunde nach zu gewähren.

2. Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin ihre außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

I.

Die Antragstellerin begehrt von der Antragsgegnerin im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes die Gewährung von Krankengeld ab dem 7. September 2015.

1. Die Antragstellerin unterzog sich einer Bandscheiben-OP und nahm anschließend vom 7. August 2015 bis Freitag, dem 4. September 2015, unter Gewährung von Übergangsgeld an einer stationären Reha-Maßnahme in den Sana Kliniken Sommerfeld teil. Die vom leitenden Arzt unterzeichnete Aufenthaltsbescheinigung vom 3. September 2015 weist die Entlassung der Antragstellerin als arbeitsunfähig aus. Die Antragstellerin begab sich am Dienstag, dem 8. September 2015, in die ambulante Behandlung bei Herrn DM V, der Arbeitsunfähigkeit seit dem 5. September 2015 bis voraussichtlich einschließlich 30. September 2015 attestierte.

Die Antragsgegnerin lehnte mit Bescheid vom 25. September 2015 die Gewährung von Krankengeld über den 6. August 2015 hinausgehend ab, da die Antragstellerin „erst am 08.09.2015 und damit nicht rechtzeitig nach Ablauf der bislang nachgewiesenen Arbeitsunfähigkeit“ weitere Arbeitsunfähigkeit hat ärztlich feststellen lassen. Zu diesem Zeitpunkt bestünde jedoch keine einen Krankengeldanspruch begründende Mitgliedschaft mehr.

2. Die Antragstellerin hat am 29. September 2015 bei dem Sozialgericht Neuruppin einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gestellt und beantragt,

die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr ab dem 7. September 2015 Krankengeld zu gewähren und ihre weitere Mitgliedschaft in der Krankenkasse anzuerkennen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag zurückzuweisen,

und nimmt auf den Inhalt des angefochtenen Bescheids Bezug, an dem sie festhält.

Die Antragstellerin hat bei der Antragsgegnerin unter dem 30. September 2015 Widerspruch erhoben und eine Bestätigung der Ärzte der Sana Klinik Sommerfeld vom selben Tag vorgelegt, mit der ihr bestätigt worden war, dass sie sich „seit Montag, dem 07.09.2015, zur Behandlung im Rahmen der intensivierten Reha-Nachsorge in unserer Einrichtung“ befindet und „seit Entlassung aus der stationären Anschlussheilbehandlung ununterbrochen arbeitsunfähig“ ist.

Die Antragstellerin hat den den Widerspruch aus den Gründen des angefochtenen Bescheids zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 15. Oktober 2015 am 19. Oktober 2015 zur Gerichtsakte gereicht und auf Anforderungen des Gerichts weitere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (vom 1. Oktober 2015 für den Zeitraum 1. Oktober 2015 bis 6. Oktober 2015, vom 6. Oktober 2015 für den Zeitraum 6. Oktober 2015 bis 16. Oktober 2015 und vom 16. Oktober 2015 für den Zeitraum 16. Oktober 2015 bis 31. Oktober 2015) in Kopie eingereicht sowie Auskünfte zu ihrer Einkommens- und Vermögenssituation erteilt. Sie hat ferner mitgeteilt, dass sie ab dem 1. November 2015 wieder arbeitsfähig ist.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf den Inhalt der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin, die dem Gericht vorlag und Gegenstand der Entscheidungsfindung war, Bezug genommen.

II.

1. Nach § 86 b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung im Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Antragstellerin hat hinreichend geltend gemacht, dass ein Anspruch gegenüber der Antragsgegnerin besteht (Anordnungsanspruch) und sie ohne den Erlass der begehrten Anordnung wesentliche Nachteile erleiden würde (Anordnungsgrund). Dies ist auch nicht offensichtlich ausgeschlossen.

Der Antrag ist auch nicht wegen Verfristung der Hauptsachenklage unzulässig geworden, da die anwaltlich unvertretene Antragstellerin den Widerspruchsbescheid vom 15. Oktober 2015 zur Gerichtsakte gereicht hat, woraus das Gericht geschlossen hat, dass sie sich auch gegen diesen verteidigen möchte und demgemäß ein Klageverfahren (S 20 KR 348/15) registriert hat. Unabhängig davon hat die Klägerin durch einen Rechtsanwalt am 16. November 2015 Klage wegen der Ablehnung der Gewährung von Krankengeld erheben lassen (S 20 KR 357/15).

2. Die einstweilige Anordnung ist grundsätzlich zu erlassen, wenn Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bestehen. Deren Vorliegen ist glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO -). Eine Tatsache ist dann als glaubhaft gemacht anzusehen, wenn ihr Vorliegen nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist (vgl. § 23 Abs. 1 Satz 2 Zehntes Buch des Sozialgesetzbuchs; vgl. auch § 294 ZPO). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden dabei aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System und stehen nicht beziehungslos nebeneinander. Die Anforderungen an den Anordnungsanspruch sind mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils zu verringern und umgekehrt. Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund (vgl. insgesamt: Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz, 11. Auflage 2014, Rn. 27 ff. zu § 86 b m.w.N.).

In Anwendung dieser Maßstäbe war dem Antrag stattzugeben.

Das Gericht geht dabei von einer zeitlichen Begrenzung des geltend gemachten Anspruchs bis Ende Oktober 2015 aus, da die Antragstellerin mitgeteilt hat, ab dem 1. November 2015 wieder arbeitsfähig zu sein. Es sieht ferner den Antrag bzgl. der „Anerkennung“ der Mitgliedschaft wegen § 192 Abs. 1 Nr. 2 Fünftes Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB V) mit Blick auf das Krankengeldbegehren nach Auslegung als unselbständig an.

Das Gericht entscheidet auf Grundlage des für die gerichtliche Beurteilung des streitigen Anspruchs hinreichenden Akteninhalts nach Maßgabe einer Entscheidung in der Hauptsache und ist daher auf eine Abwägung der Folgen dieser gerichtlichen Entscheidung (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - [juris]) nicht angewiesen.

a) Der Antragstellerin steht ein Anordnungsanspruch auf Gewährung von Krankengeld ab dem 7. September 2015 aus § 44 Abs. 1 und § 46 SGB V zu.

Sie war auch nach dem 4. September 2015 arbeitsunfähig. Die Arbeitsunfähigkeit (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 8. November 2005 - B 1 KR 18/04 R - [juris] m.w.N.) der Antragstellerin wird selbst durch die Antragsgegnerin nicht in Frage gestellt und ergibt sich für das Gericht zur vollen Überzeugung aus den ärztlichen Bestätigungen der Sana Kliniken vom 3. September 2015 und vom 30. September 2015 sowie aus den Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen von Herrn DM V.

Die Antragstellerin war auch nach dem 4. September 2015 aufgrund des bis zum 6. August 2015 von der Antragsgegnerin anerkannten Krankengeldanspruchs und des sich hieran anschließenden Aufenthalts in der Reha-Einrichtung unter Gewährung von Übergangsgeld bei der Antragsgegnerin mit Krankengeldanspruch gegen Krankheit versichert (§§ 192 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 SGB V).

Insbesondere ist eine Lücke im Nachweis der Arbeitsunfähigkeit am Montag, dem 7. September 2015, nicht entstanden, wie jedoch die Antragsgegnerin meint. Dieser Annahme steht die ärztliche Bescheinigung vom 3. September 2015 entgegen. Wie sich aus § 46 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 SGB V ergibt („ärztliche Feststellung“, nicht „vertragsärztliche Feststellung“), ist die Bestätigung der Arbeitsunfähigkeit nicht zwingend durch einen Vertragsarzt vorzunehmen (vgl. mit Bezug auf einen ausländischen Arzt: Bundessozialgericht, Urteil vom 26. Februar 1992 - 1/3 RK 13/90 - [juris]). Auch ist dieser Bescheinigung ein voraussichtliches Enddatum der Arbeitsunfähigkeit im Sinne einer ärztlichen Prognose nicht zu entnehmen. Sie ist daher dahingehend zu verstehen, dass Arbeitsunfähigkeit „bis auf weiteres“ besteht, was sich auch aus den weiteren Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen - zeitlich aneinander anknüpfend im Sinne von § 46 Satz 2 SGB V - sowie aus der Bescheinigung vom 30. September 2015 ergibt. Der Bescheinigung vom 3. September 2015 kann daher nicht die Bedeutung beigelegt werden, die ihr die Antragsgegnerin - im Sinne von ausschließlich am Tag der Entlassung arbeitsunfähig - beimisst. Vielmehr ist die Arbeitsunfähigkeit für den Zeitraum 4. September 2015 bis 31. Oktober 2015 im Sinne des § 46 Satz 2 SGB V zeitlich zusammenhängend ärztlich festgestellt worden.

b) Der Antragstellerin steht auch für den hier streitigen Zeitraum ein Anordnungsgrund zur Seite. Zwar entspricht es der ständigen Rechtsprechung der Kammer, Leistungen im Wege der einstweiligen Anordnung grundsätzlich frühestens ab Eingang des vorläufigen Rechtsschutzantrags bei Gericht zuzusprechen. Vorliegend geht das Gericht aber nach den Maßstäben des Hauptsacheverfahrens von einem offensichtlichen Obsiegen der Antragstellerin aus. Es verbleiben keine noch aufklärungsbedürftigen Tatsachen. Das Gericht ist von der dargelegten Beantwortung der hier maßgeblichen Rechtsfrage im Sinne des § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG überzeugt. Das Verfahren der Hauptsache könnte gemäß § 105 SGG entschieden werden. Nach dem eingangs dargestellten „beweglichen System“ von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund besteht daher kein Bedürfnis, den Ausspruch in diesem Verfahren wegen dessen Vorläufigkeit zeitlich zu begrenzen. Entsprechendes gilt auch für die grundsätzlich nicht zu billigende Vorwegnahme der Hauptsache; zumal vorliegend „nur“ Geldleistungen im Streit stehen, die auch im Falle einer abweichenden Hauptsachenentscheidung ausgeglichen werden können.

Die Antragstellerin hat auch in hinreichender Weise nachgewiesen, dass ihre finanzielle Tragfähigkeit nicht so ausreichend ist, dass sie eines vorläufigen gerichtlichen Ausspruchs nicht bedarf. Die Kammer legt hierfür in ständiger Rechtsprechung eine an den Vorschriften des Zweiten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB II) orientierte Vergleichsberechnung zu Grunde. Nach dieser ist von finanzieller Bedürftigkeit der Antragstellerin auszugehen, die unter Einbeziehung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache die Eilbedürftigkeit für den gesamten Zeitraum begründet.

Nach den im Verfahren gemachten Angaben und auf Grundlage der eingereichten Unterlagen ergeben sich die Einnahmen der Antragstellerin und der Mitglieder ihres Haushalts aus dem Arbeitseinkommen des Ehemanns, dem Wohngeld, dem Kindergeld und Zahlungen einer privaten Krankentagegeldversicherung während der Arbeitsunfähigkeit. Das Gericht legt wegen des schwankenden Einkommens des Ehemanns seinen netto-Durchschnittsverdienst der letzten drei Monate zu Grunde (ca. 1.220 €). Das Gericht geht ferner von weiteren Einnahmen in Höhe von maximal 1.000 € aus. Grundsicherungsrechtlich ist das Arbeitseinkommen um den Erwerbstätigenfreibetrag (§ 11 b Abs. 3 SGB II) zu bereinigen (ca. 300 €). Diese Einnahmen sind von der Summe der Regelbedarfe (ca. 1.250 €) abzusetzen. Bedarfserhöhend sind ferner die Kosten der Unterkunft und Heizung zu berücksichtigen. Von diesen hat die Antragstellerin nur die Finanzierungskosten mitgeteilt, wobei das Gericht vorliegend - anders als im Recht der Grundsicherung - auch die Tilgungsleistungen berücksichtigt, da dieses Geld der Antragstellerin und den Mitgliedern ihres Haushalts nicht für die Bestreitung des Lebensunterhalts zur Verfügung steht (420 €). Bereits nach dieser Vergleichsberechnung steht der Antragstellerin und den Mitgliedern ihres Haushalts nur noch ein Überschuss von 250 € monatlich zur Verfügung, der um die Wohnnebenkosten und die Kosten der Heizung weiter zu bereinigen wäre.

Das Gericht sieht auf Grundlage dieser Vergleichsberechnung den Anordnungsgrund als gegeben an. Insoweit sind wertend die dargelegten Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu berücksichtigen. Ferner fordern weder das Sozialgerichtsgesetz noch das Fünfte Buch des Sozialgesetzbuchs eine punktgenaue Leistungsberechnung nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs.

Zumutbar verwertbare Vermögensgüter, die den Anspruch ausschließen, sind nicht ersichtlich.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens.

III.

Das Gericht nimmt dieses Verfahren zum Anlass, die Antragstellerin auf die doppelte Rechtshängigkeit der Hauptsacheverfahren S 20 KR 348/15 und S 20 KR 357/15 hinzuweisen.

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