LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 04.05.2012 - L 20 SO 79/12 B ER
Fundstelle
openJur 2016, 5256
  • Rkr:
Tenor

Auf die Beschwerde des Beigeladenen zu 2 wird der Beschluss des Sozialgerichts Münster vom 31.01.2012 geändert. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin ab dem 12.01.2012 bis zum 30.04.2012 Grundsicherungsleistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII zu gewähren. Der Beigeladene zu 1 wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin ab dem 12.01.2012 bis zum 30.04.2012 die durch die Beauftragung der W Pflegedienst GmbH bzw. der B e. V. entstandenen Kosten zur Sicherstellung einer vierundzwanzigstündigen Pflege und Betreuung (einschließlich Begleitdienst) zu erstatten. Der Beigeladene zu 1 trägt die Kosten der Antragstellerin in beiden Rechtszügen.

Gründe

Die statthafte (§ 172 Abs. 3 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) und auch im Übrigen zulässige Beschwerde des Beigeladenen zu 2 ist begründet.

1. Die vom Sozialgericht in dem angefochtenen Beschluss eingehend dargestellten Voraussetzungen für den Erlass der von der Antragstellerin begehrten einstweiligen (Regelungs-) Anordnung gemäß § 86 b Abs. 2 S. 2 SGG liegen vor. Abweichend vom Sozialgericht hält der Senat jedoch eine Verpflichtung des Beigeladenen zu 2 nicht für gerechtfertigt.

Dabei ist eine abschließende Klärung des von der Antragstellerin geltend gemachten materiellrechtlichen Anspruchs in dem vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht möglich; die Verpflichtung der Antragsgegnerin sowie des Beigeladenen zu 1 beruht auf einer wegen des existenzsichernden Charakters der begehrten Leistungen erforderlichen Folgenabwägung (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05).

2. Dass die bereits seit 1999 der Pflegestufe III in der gesetzlichen Pflegeversicherung zugeordnete, aufgrund ihrer Multiple-Sklerose-Erkrankung schwerstbehinderte Antragstellerin in erheblichem Umfang der Betreuung und Pflege bedarf, ist zwischen den Beteiligten unstreitig und von ihnen im vorliegenden Verfahren nicht thematisiert worden. Für die Zwecke des einstweiligen Rechtsschutzes unterstellt der Senat einen vierundzwanzigstündigen Betreuungs-, Pflege- und Assistenzbedarf. Dies rechtfertigt sich nicht zuletzt aus der Stellungnahme des Behindertenhilfefachdienstes des Beigeladenen zu 1, der nach Durchführung eines Hausbesuchs zur Feststellung des individuellen Hilfebedarfs am 10.06.2011 die Feststellungen im Versorgungsvorschlag des B e.V. zu einem zeitlichen Bedarf von 24 h ausdrücklich bestätigte.

Der Senat weist vorsorglich darauf hin, dass auch ein durchgehender nächtlicher Bereitschaftsdienst erforderlich sein dürfte. Ggf. bestehenden Unsicherheiten hinsichtlich der insoweit anzuerkennenden Stundensätze, deren Klärung auch eine Feststellung der tatsächlich zu erbringenden Leistungen voraussetzen dürfte, wird im Hauptsacheverfahren Rechnung zu tragen sein.

3. Streiten im Wesentlichen die beteiligten Sozialhilfeträger darüber, wer für die Erbringung der Leistungen (einstweilen) zuständig ist, hält der Senat eine Verpflichtung des Beigeladenen zu 2 wegen eines gemäß § 43 Abs. 1 S. 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil (SGB I) bestehenden Anspruchs auf vorläufige Leistungen nicht für gerechtfertigt.

Insoweit ist zunächst darauf zu verweisen, dass bereits der Umfang der endgültigen Leistungen, nämlich der Pflege- und Betreuungsbedarf bisher nicht feststeht. Auch hinsichtlich des Verbrauchs des in der Vergangenheit vorhandenen Vermögens erscheinen - jedoch kurzfristig mögliche - Feststellungen in dem noch abzuschließenden Verwaltungs- bzw. Vorverfahren erforderlich.

Im Übrigen handelt es sich zur Überzeugung des Senats bei dem Beigeladenen zu 2 nicht um den zuerst angegangenen Leistungsträger. Maßgeblich ist insoweit nicht die Antragstellung bei dem Beigeladenen zu 2 noch vor dem Umzug der Antragstellerin nach Münster. Diese hat vielmehr nach Aktenlage, bevor dem Beigeladenen zu 2 der Umzug und die geänderte Wohn- und Pflegesituation offenbart wurde, bereits bei der Antragsgegnerin Leistungen sowohl nach dem Vierten Kapitel Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe (SGB XII) als auch solche zur Sicherstellung ihrer Pflege und Betreuung für die Zeit nach ihrem beabsichtigten Umzug beantragt. Insoweit kommt dem Umstand, dass der Beigeladene zu 2 auch zum Zeitpunkt des Umzugs über die von ihm zu erbringenden Leistungen nicht entschieden hatte, keine Bedeutung zu. Vielmehr ist darauf abzustellen, dass die mit Blick auf die geänderten Verhältnisse erfolgte Antragstellung bei der Antragsgegnerin eine rechtserhebliche Zäsur darstellt. Für die Leistungen nach dem Umzug ist erstangegangener Leistungsträger zur Überzeugung des Senats die Antragsgegnerin.

4. Unter Berücksichtigung der landesrechtlichen Zuständigkeitsregelung des § 2 Abs. 1 Nr. 2 Ausführungsverordnung zum SGB XII des Landes Nordrhein-Westfalen (AV-SGB XII NRW) vom 16. Dezember 2004 kommt die Antragsgegnerin für die außerhalb der Grundsicherungsleistungen und hier in erster Linie streitigen Pflege- und Betreuungskosten (einschließlich der Begleitung) nicht als leistungspflichtig in Betracht. Denn danach ist der überörtliche Träger für alle Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 54 SGB XII für behinderte Menschen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, außerhalb einer teilstationären oder stationären Einrichtung, die mit dem Ziel geleistet werden sollen, selbstständiges Wohnen zu ermöglichen oder zu sichern, zuständig; neben den Leistungen nach §§ 53, 54 SGB XII umfasst die Zuständigkeit insbesondere auch die Hilfen nach § 55 Abs. 2 Nr. 3 bis 7 SGB IX und andere im Einzelfall notwendige Hilfen nach dem Fünften bis Neunten Kapitel SGB XII, ohne die ein selbstständiges Wohnen nicht erreicht oder gesichert werden kann; die Zuständigkeit des überörtlichen Trägers erstreckt sich in den Fällen dieser Nummer (Nr. 2 des § 2 Abs. 1 AV-SGB XII NRW) auch auf die Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII (und damit nicht auf die Grundsicherungsleistungen nach dem Vierten Kapitel).

Der Beigeladene zu 1 selbst geht insoweit davon aus, dass es sich (auch) um Leistungen der individuellen Schwerstbehindertenbetreuung handelt (bezüglich derer es keinen Sinn ergebe, "auf den § 43 Abs. 1 SGB I zu verweisen"). Der Behindertenhilfefachdienst der Beigeladenen zu 1 konstatiert neben dem erheblichen Bedarf an Grundpflege und Unterstützung bei hauswirtschaftlichen Verrichtungen einen regelhaften Bedarf zur Sicherung der Mobilität innerhalb und außerhalb der Wohnung sowie einen Bedarf an Assistenz bei der "Freizeitgestaltung und Freizeitdurchführung" sowie der Aufrechterhaltung und Gestaltung der Beziehungen zu Freunden und Bekannten.

Dass der Beigeladene zu 1 im Übrigen davon ausgeht, dass die begehrten Leistungen (zudem) ein selbständiges Wohnen sichern sollen, ergibt sich nicht zuletzt aus seiner Argumentation, wonach sich aus § 98 Abs. 5 SGB XII die Zuständigkeit des Beigeladenen zu 2 ergebe.

Diesbezüglich sind abschließende Feststellungen durch den Senat im vorliegenden Eilverfahren hingegen nicht möglich und mit Blick darauf, dass eine abweichende Bestimmung der Zuständigkeit in einem Hauptsacheverfahren den einstweilen verpflichteten Leistungsträgern Erstattungsansprüche eröffnen würde, auch nicht geboten.

Die von den Beteiligten bereits angesprochene Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) betreffend § 98 Abs. 5 SGB XII (Urteil vom 25.08.2011 - B 8 SO 7/10 R) stellt zwar klar, dass es für die Frage, ob es sich um eine betreute Wohnmöglichkeit im Sinne dieser Vorschrift handelt, nicht darauf ankommt, ob die betreffende Wohnung/Wohnmöglichkeit nur gekoppelt mit der Betreuungsleistung zur Verfügung gestellt wird. Die Eingrenzung der von dieser Leistungsform umfassten Hilfen habe in erster Linie anhand des Zwecks der Hilfen zu erfolgen. Sinn der Betreuungsleistungen beim Betreuten Wohnen sei nicht die gegenständliche Zurverfügungstellung der Wohnung, sondern (nur) die Förderung der Selbstständigkeit und Selbstbestimmung bei Erledigung der alltäglichen Angelegenheiten im eigenen Wohn- und Lebensbereich in Form einer kontinuierlichen Betreuung. Zugleich führt das BSG jedoch aus, der Art nach dürfe es sich bei der Betreuung aber nicht um eine vorwiegend medizinische oder pflegerische Betreuung handeln, sondern Hauptzielrichtung der Leistungen müsse die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft sein.

Hierzu bedarf es ungeachtet der in erster Linie rechtlichen Frage, ob der Begriff der "Wohnform" auch die bloße Nutzung eines ambulanten Pflegedienstes in einer selbst angemieteten - und damit in jeder Weise austauschbaren - Wohnung durch den betroffenen behinderten und/oder gebrechlichen Hilfebedürftigen erfasst (LSG-Württemberg, Urteil vom 04.05.2011 - L 2 SO 5815/09, Revision anhängig B 8 SO 16/11 R), im vorliegenden Fall weiterer tatsächlicher Feststellungen. Nach Aktenlage erscheint es nicht ausgeschlossen, dass die Betreuung vorwiegend medizinischen oder pflegerischen Zwecken dient. Dass Hauptzielrichtung der Leistungen die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ist, kann jedenfalls ohne weitere tatsächliche Feststellungen und rechtliche Überlegungen nicht festgestellt werden. Der Senat weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass den Ausführungen des BSG - soweit dies nach den Feststellungen in dem der Entscheidung zu Grunde liegenden Ausgangsverfahren beurteilbar ist - ohnehin ein gänzlich anderer Sachverhalt zu Grunde gelegen haben dürfte. Zudem weist das BSG (a.a.O.) darauf hin, dass eine endgültige Stellungnahme zu den denkbaren Anspruchsgrundlagen "untunlich" gewesen sei.

5. Unter Berücksichtigung des Sach- und Streitstandes sowie der wechselseitigen Interessen der Beteiligten und schließlich der Konsequenzen einer von der Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz abweichenden rechtlichen Beurteilung in der Hauptsache hält der Senat nach alledem eine Verpflichtung der Antragsgegnerin (zu Grundsicherungsleistungen) einerseits sowie des Beigeladenen zu 1 im Übrigen für geboten.

Im Rahmen der (vorläufigen) Leistungserbringung sind das (bereinigte) Renteneinkommen der Antragstellerin sowie die Leistungen der Pflegekasse (leistungsmindernd) zu berücksichtigen.

Mangels Beschwerde der Antragstellerin kommt eine (zeitlich) weitergehende Verpflichtung nicht in Betracht; für die Zeit ab dem 01.05.2012 verweist der Senat auf das beim Sozialgericht Münster anhängige Verfahren S 8 SO 143/12 ER, regt jedoch unter prozessökonomischen Gesichtspunkten an, bis zur Entscheidung in der Hauptsache bzw. wesentlichen rechtlichen oder neuen tatsächlichen Erkenntnissen an, wie hier entschieden zu verfahren.

6. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 S. 1 SGG und trägt dem Umstand Rechnung, dass den Grundsicherungsleistungen im vorliegenden Verfahren im Verhältnis zu den weiteren streitigen Leistungen nur eine untergeordnete Bedeutung beizumessen ist.

7. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).

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