SG Karlsruhe, Urteil vom 03.07.2015 - S 1 U 746/15
Fundstelle
openJur 2015, 19116
  • Rkr:

Übt ein Versicherter seine selbständige Erwerbstätigkeit mittels eines transportablen Marktstands im Reisegewerbe an täglich wechselnden Einsatzorten aus, ist Betriebsstätte der jeweilige Marktort und nicht die Wohnanschrift des Versicherten.

Tenor

Der Bescheid vom 18. Dezember 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04. Februar 2015 wird abgeändert.

Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Reisekosten in Höhe weiterer 1.216,80 EUR zu erstatten.

Die Beklagte erstattet der Klägerin deren außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Übernahme von Reisekosten der Klägerin während einer Belastungserprobung aus Mitteln der gesetzlichen Unfallversicherung.

Die 19... geborene Klägerin ist seit 1991 als Markthändlerin im Reisegewerbe selbstständig tätig. Dazu fährt sie morgens von ihrer Wohnung in B. zum jeweiligen Marktort, wo sie an einem mobilen Stand Reinigungs- und Pflegeartikel, vor allem Lederpflegeprodukte, vorführt und an Kunden verkauft. Nach Marktschluss fährt sie abends zu ihrer Wohnung zurück. Die Klägerin ist freiwillig versichertes Mitglied der Beklagten.

Am 04.03.2010 erlitt die Klägerin einen Arbeitsunfall: Beim Abbau ihres Marktstandes und Verladen der Standteile und einer Sackkarre in ihr Fahrzeug fiel ihr ein Stahlrohr auf den rechten Mittelfinger. Der Chirurg Dr. ... diagnostizierte am 09.03.2010 als Gesundheitsstörung zunächst eine Prellung des rechten Mittelfingers (vgl. Durchgangsarztbericht vom 09.03.2010). Bei verzögertem Heilungsverlauf entwickelte sich nachfolgend eine posttraumatische Arthrose mit persistierenden Schmerzen. Deswegen empfahlen die Ärzte der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik L. (Klinik) eine Versteifungsoperation des Fingerendgelenks des dritten Mittelfingers rechts (vgl. Heilverfahrenskontrollbericht vom 14.06.2011). Diese Operation unterzog sich die Klägerin am 19.07.2012 (vgl. Entlassungsbericht der Klinik vom 26.07.2012). Am 19.01.2013 stürzte die Klägerin im Rahmen einer Arbeitsbelastungserprobung auf dem Weg zum Wochenmarkt nach B. bei Glatteis. Dabei zog sie sich eine knöcherne Fissur am Mittelglied des linken Mittelfingers zu. Die Beklagte gewährte der Klägerin bis einschließlich dem 22.11.2013 Verletztengeld (Bescheid vom 20.03.2014).

Gestützt auf ein Gutachten des Chirurgen Prof. Dr. ... lehnte die Beklagte die Gewährung von Verletztenrente mit der Begründung ab, die Erwerbsfähigkeit der Klägerin sei über die 26. Woche nach Eintritt des Arbeitsunfalls hinaus nicht in einem rentenberechtigenden Grade gemindert. Als Folgen des Arbeitsunfalls anerkannte sie:

„Prellung des rechten Mittelfingers mit nachfolgender Mittelgelenksversteifung und Bruch des linken Mittelfingers am 19.01.2013 mit geringer Bewegungseinschränkung im Mittelgelenk. Radiologisch nachweisbare Veränderungen in den ehemaligen Verletzungsbereichen. Belastungsabhängige Beschwerden im rechten und linken Mittelfinger“.

(Bescheid vom 21.01.2014).

Ab dem 15.10.2012 nahm die Klägerin zunächst für die Dauer von vier Wochen an einer Belastungserprobung teil. Diese verlängerte die Beklagte am 14.11.2012 und am 07.01.2013 für jeweils zwei Wochen und ab dem 11.03.2013 für weitere vier Wochen bis zum 07.04.2013. Wegen der Folgen des weiteren Arbeitsunfalls vom 19.01.2013 brach die Klägerin diese Maßnahme am 04.04.2013 ab.

Mit Schriftsatz vom 09.12.2014 beantragte sie bei der Beklagten neben der Erstattung von Reisekosten für Fahrten von ihrer Wohnung zu medizinischen Behandlungsmaßnahmen in der Klinik auch die Erstattung von Reisekosten für Fahrten (insgesamt 6.084 km) zu den von ihr während der Belastungserprobung besuchten Märkten. Die Beklagte erstattete zwar Reisekosten für die medizinischen Behandlungen im Umfang von 76,10 EUR, lehnte im Übrigen aber den Antrag mit der Begründung ab, Reisekosten könne sie während einer Belastungserprobung nur für Fahrten zwischen der Wohnung des Versicherten und seiner Arbeitsstätte übernehmen. Betriebliche Fahrten gehörten demgegenüber nicht zu den erstattungsfähigen Aufwendungen (Bescheid vom 18.12.2014).

Zur Begründung ihres dagegen erhobenen Widerspruchs verwies die Klägerin auf während einer früheren Arbeits- und Belastungserprobung durch die Regionaldirektion ..., M., der Beklagten erfolgte Reisekostenerstattungen. Ihr Arbeitsplatz sei der jeweilige Markt innerhalb des Bundesgebietes. Die Beklagte wies den Widerspruch zurück: Fahrtkosten im Rahmen einer Belastungserprobung könne sie nur für Fahrten zwischen der Wohnung und dem jeweiligen Betriebssitz erstatten. Im Fall der Klägerin entstünden keine solchen Fahrtkosten, weil ihre Wohnanschrift mit dem Betriebssitz identisch sei. Bei den geltend gemachten Fahrten zu Märkten handele es sich um Betriebsfahrten; diese gingen stets zu Lasten des Unternehmers. Soweit in der Vergangenheit zu Unrecht für gleichartige Fahrten dennoch eine Reisekostenerstattung erfolgt sei, begründe dies keinen Anspruch auf Fehlerwiederholung (Widerspruchsbescheid vom 04.02.2015).

Deswegen hat die Klägerin am 04.03.2015 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe erhoben, mit der sie ihr Begehren weiter verfolgt. Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen vor, sie habe noch nie eine Arbeitsstätte an ihrer Heimatadresse unterhalten. Außerdem besuche sie keine Jahrmärkte, sondern Krammärkte. Zur Stützung ihres Klagebegehrens legt die Klägerin die Gewerbeanmeldung bei der Stadt W. vom 31.03.1992 sowie Kopie ihrer vom Landratsamt K. - Ordnungsamt - ausgestellten Reisegewerbekarte vor.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid vom 18. Dezember 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04. Februar 2015 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr weitere Reisekosten in Höhe von insgesamt 1.216,80 EUR für 6.084 km zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie erachtet die angefochtenen Bescheide für zutreffend.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der vorliegenden Verwaltungsakten der Beklagten sowie den der Prozessakte Bezug genommen.

Gründe

Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 i.V.m. § 56 des Sozialgerichtsgesetzes ) zulässig und begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG). Zu Unrecht hat es die Beklagte abgelehnt, die der Klägerin während der Belastungserprobungen in der Zeitspanne vom 15.10.2012 bis zum 03.04.2013 entstandenen Reisekosten für insgesamt 6.084 km im Umfang von 1.216,80 EUR zu erstatten.

1. Rechtsgrundlage für den mit der Klage geltend gemachten Anspruch sind §§ 26 Abs. 1 Satz 1 und 27 Abs. 1 Nr. 7 des Sozialgesetzbuchs - Gesetzliche Unfallversicherung - (SGB VII) i.V.m. §§ 26 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 7, 44 Abs. 1 Nr. 5 und 53 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgesetzbuchs - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX).

Nach § 26 Abs. 1 Satz 1 SGB VII haben Versicherte nach Eintritt eines Versicherungsfalls, u.a. eines Arbeitsunfalls (§ 7 Abs. 1 SGB VII), nach Maßgabe der folgenden Vorschriften und unter Beachtung des Neunten Buches Sozialgesetzbuch Anspruch auf Heilbehandlung einschließlich Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. Die Heilbehandlung umfasst insbesondere auch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nach § 26 Abs. 2 Nr. 1 und 3 bis 7 und Abs. 3 SGB IX (§ 27 Abs. 1 Nr. 7 SGB VII).

Nach § 26 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI werden zur medizinischen Rehabilitation behinderter und von Behinderung bedrohter Menschen die erforderlichen Leistungen erbracht, um Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit … zu vermeiden, zu überwinden, zu mindern, eine Verschlimmerung zu verhüten sowie den vorzeitigen Bezug von laufenden Sozialleistungen zu vermeiden oder laufende Sozialleistungen zu mindern. Leistungen zur medizinischen Rehabilitation umfassen nach Abs. 2 Nr. 7 der genannten Bestimmung insbesondere Belastungserprobung und Arbeitstherapie.

Die Leistungen u.a. zur medizinischen Rehabilitation (auch) der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung (§ 6 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX) werden nach § 44 Abs. 1 Nr. 5 ergänzt durch Reisekosten. Als Reisekosten werden die im Zusammenhang mit der Ausführung einer Leistung u.a. zur medizinischen Rehabilitation erforderlichen Fahr-, Verpflegungs- und Übernachtungskosten übernommen (§ 53 Abs. 1, erster Halbsatz SGB IX). Fahrkosten werden bei Benutzung eines privaten Fahrzeugs in Höhe der Wegstreckenentschädigung nach § 5 Abs. 1 des Bundesreisekostengesetzes (BRKG) zugrunde gelegt, mithin in Höhe von 20 Cent je Kilometer zurückgelegter Strecke, höchstens jedoch 130,00 EUR (§ 5 Abs. 1 Satz 2 BRKG). Abrechnungsfähig ist danach der Aufwand sowohl für die Hin- als auch die Rückreise (vgl. Hess. LSG vom 27.01.2011 - L 8 KR 201/99 - und Schlette in JurisPK-SGB IX, 2. Auflage 2015, § 53, Rand-Nr. 21).

2. Gemessen daran hat die Klägerin Anspruch auf Erstattung von 1.216,80 EUR für weitere insgesamt 6.084 km, die sie für Fahrten zu den von ihr während der Belastungserprobung in der Zeitspanne vom 15.10.2012 bis zum 03.042013 besuchten Märkten entsprechend ihrer Aufstellung als Anlage zum Schriftsatz vom 09.12.2014 zurückgelegt hat. Diese Fahrten waren „erforderlich“ im Sinne des § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB IX. Denn bei den während der Belastungserprobung unternommenen Fahrten zu Krammärkten handelte es sich insgesamt um solche zwischen der Wohnung der Klägerin und ihrer Arbeits- bzw. Betriebsstätte. Die Betriebsstätte der Klägerin ist - entgegen der Auffassung der Beklagten - nicht mit ihrer Wohnanschrift gleichzusetzen. Denn als Reisegewerbetreibende hat sie gerade keine feste Betriebsstätte (vgl. hierzu LSG Berlin-Brandenburg vom 29.01.2015 - L 29 AS 3339/14 B ER -, Rand-Nr. 43 ). Dies ergibt sich zur Überzeugung der Kammer auch aus dem Inhalt der Gewerbeanmeldung vom 31.03.1992, dort Ziff. 12, demzufolge die Angabe einer Betriebsstätte „entfällt, da Reisegewerbe!!“. Vielmehr vollzieht sich die Erwerbstätigkeit der Klägerin als Reisegewerbetreibende an wechselnden Einsatzorten auf den von ihr jeweils besuchten Krammärkten in Baden-Württemberg und Bayern.

a) Der Begriff der Arbeits- oder Betriebsstätte ist in den Büchern des SGB nicht gesetzlich definiert. Das Gericht legt deshalb für die Auslegung des Begriffs „Betriebsstätte“ die Regelung des § 12 der Abgabenordnung (AO) zugrunde. Nach dessen Satz 1 ist Betriebsstätte jede feste Geschäftseinrichtung oder Anlage, die der Tätigkeit eines Unternehmens dient. § 12 Satz 1 AO umschreibt damit allgemein die tatbestandlichen Voraussetzungen, unter denen ein Unternehmen seine Tätigkeit mittels einer Betriebsstätte ausübt (vgl. Koenig, AO, 3. Auflage 2014, § 12, Rand-Nr. 5). „Geschäftseinrichtung“ in diesem Sinne ist jeder körperliche Gegenstand (Sache) und jede Zusammenfassung von Sachen (Sachgesamtheit), die geeignet ist, Grundlage einer Unternehmendtätigkeit zu sein (vgl. Bundesfinanzhof , BStBL. II 1993, 462 und 2004, 396). Hierzu gehören Räumlichkeiten (Gebäude, Hallen, Zimmer, Zelte usw.), abgegrenzte oder abgrenzbare Flächen (Lager, Bauplätze, Standplätze) und Anlagen. Das Tatbestandsmerkmal „fest“ verlangt, dass die Einrichtung einen auf Dauer angelegten Bezug zu einem bestimmten Teil der Erdoberfläche aufweist (vgl. BFH vom 08.03.1988 - VIII R 270/81 - ). Transportable Marktstände, die täglich auf- und abgebaut werden, weisen einen festen Bezug zum Erdboden auf. Diese Einrichtungen begründen bei ständig wechselnden Einsätzen an verschiedenen Orten (z.B. auf Wochen- oder - wie hier - Krammärkten) an jeder Einsatzstelle eine Betriebsstätte des Unternehmens (vgl. BFH, BStBL. II 2004, 396 zu Weihnachtsmarktverkaufsständen sowie BFH vom 15.04.1993 - IV R 5/92 - für einen Textilhandel im Reisegewerbe). Vor diesem Hintergrund war in der Zeit vom 15.10.2012 bis zum 03.04 2013 der jeweilige Marktstand der Klägerin deren Betriebsstätte.

b) Bestätigt sieht sich die Kammer für ihre Auffassung durch die Regelungen in § 55 Abs. 1 und § 4 Abs. 3 der Gewerbeordnung (GewO). Nach § 55 Abs. 1 GewO betreibt ein Reisegewerbe, wer gewerbsmäßig ohne vorhergehende Bestellung außerhalb seiner gewerblichen Niederlassung (§ 4 Abs. 3) oder ohne eine solche zu haben u.a. Waren feilbietet (Nr. 1). Nach § 4 Abs. 3 GewO besteht eine Niederlassung, wenn eine selbstständige gewerbsmäßige Tätigkeit auf unbestimmte Zeit und mittels einer festen Einrichtung von dieser aus tatsächlich ausgeübt wird. Entscheidendes und am leichtesten nachprüfbares Kriterium für eine Niederlassung in diesem Sinne ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), dass der Wirtschaftsteilnehmer seine Dienstleistung in stabiler und kontinuierlicher Weise von einem Berufsdomizil aus anbietet (vgl. Urteil vom 29.04.2004 - C 171/02 -, veröffentlicht in GewO 2004, 333). Erforderlich für den Begriff einer „Niederlassung“ ist eine auf unbestimmte Zeit, mithin zum dauernden Gebrauch eingerichtete feste Einrichtung, z.B. ein Geschäftslokal, eine offene Verkaufsstelle, eine sonstige offene Betriebsstätte, ein Büro oder eine Wohnung, die den Mittelpunkt des geschäftlichen Lebens des Gewerbetreibenden bildet. Das Merkmal der unbestimmten Zeit erfordert, dass die „feste Einrichtung“, d.h. üblicherweise der oder die Geschäftsräume, ständig oder in regelmäßiger Wiederkehr von dem Gewerbetreibenden benutzt werden müssen. Beide Merkmale - Zeit und feste Einrichtung - müssen dabei kumulativ vorliegen (vgl. Schönleiter in Landmann/Rohmer, GewO, Stand August 2014, § 4, Rand-Nrn. 35, 46 f.). Auch danach lässt sich eine „Niederlassung“ bzw. die „feste Einrichtung“ der Klägerin für die Ausübung ihres Reisegewerbes während der hier streitbefangenen Belastungserprobung unter ihrer Wohnanschrift nicht feststellen oder begründen.

c) Gegen die von der Klägerin für die jeweiligen Fahrten geltend gemachten Entfernungsangaben zwischen ihrem Wohnort und den Marktorten hat die Beklagte keine substantiierten Einwände erhoben. Solche sind auch für das erkennende Gericht aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens nicht ersichtlich. Damit ergeben sich insgesamt weitere 6.084 berücksichtigungsfähige Kilometer zurückgelegter Strecke. Multipliziert mit einem Entschädigungssatz von 0,20 EUR je Kilometer resultiert hieraus ein Betrag von 1.216,80 EUR. Eine Begrenzung auf höchstens 130,00 EUR je Fahrt (§ 5 Abs. 1 Satz 2, zweiter Halbsatz BRKG) kommt vorliegend nicht zum Tragen, weil die Klägerin nach ihren Aufstellungen keine Fahrten von mehr als 650 km im Einzelfall unternommen hat.

4. Aus eben diesen Gründen sind die angefochtenen Bescheide rechtswidrig. Dem Begehren der Klägerin war daher in vollem Umfang stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Abs. 1 SGG.

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