OLG Hamm, Urteil vom 24.11.2014 - 6 U 92/12
Fundstelle
openJur 2015, 1692
  • Rkr:

Der für eine Verkehrsfläche Räum- und Streupflichtige genügt seiner Pflicht nicht dadurch, dass er die eis- und schneeglatte Fläche mit Hobelspänen bestreut. Hobelspäne entfalten keine nennenswerte abstumpfende Wirkung.

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 09.05.2012 verkündete Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Arnsberg abgeändert.

Es wird festgestellt, dass die Beklagten verpflichtet sind, als Gesamtschuldner der Klägerin sämtlichen materiellen Schaden zu 50 % und sämtlichen immateriellen Schaden unter Berücksichtigung eines Mitverschuldensanteils von 50 % zu ersetzen, der ihr dadurch entstanden ist und noch entstehen wird, dass die Klägerin am 06.01.2011 auf dem Gehsteig entlang des Grundstücks L-Straße, N, auf der dortigen Q-Straße zu Fall gekommen ist, soweit Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.

Die Beklagte zu 1) wird darüber hinaus verurteilt, an die Klägerin einen Betrag in Höhe von 402,82 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 29. März 2011 zu zahlen.

Die weitergehende Klage bleibt abgewiesen.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

I.

Die Klägerin nimmt die Beklagte auf Schadensersatz in Anspruch und macht geltend, sie sei am 06.01.2011 gegen 16.55 Uhr in N auf dem Gehweg der Q-Straße vor dem an die Beklagte zu 2) vermieteten Haus der Beklagten zu 1) gestürzt. Da die Beklagten ihrer Räum- und Streupflicht nicht hinrechend nachgekommen seien und nur Hobelspäne gestreut gehabt hätten, sei der Boden glatt gewesen.

Wegen des Weiteren erstinstanzlichen Vortrags der Parteien und der gestellten Anträge wird gem. § 540 ZPO auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen und hat dies unter anderem damit begründet, dass die Beklagten ihrer Verkehrssicherungspflicht hinreichend nachgekommen seien. Es sei gerichtsbekannt, dass seit Dezember 2010 außergewöhnlich schwierige winterliche Verhältnisse geherrscht hätten sowie, dass insbesondere Tausalze aufgebraucht und nicht mehr käuflich zu erwerben gewesen seien. Eine unzureichende Bevorratung könne man den Beklagten nicht anlasten. Im Übrigen führe, wie ebenfalls gerichtsbekannt sei, auch die Verwendung von Hobelspänen zu einer abstumpfenden Wirkung. Jedenfalls könne man den Beklagten den Einsatz von Hobelspänen als Streumittel nicht als schuldhaftes Verhalten anlasten.

Die Berufung der Klägerin, mit der diese insbesondere rügt, das Landgericht habe ohne Beweiserhebung weder davon ausgehen dürfen, dass keine Tausalze verfügbar gewesen seien, noch davon, dass Hobelspäne als abstumpfendes Mittel geeignet seien, hat zum Teil Erfolg.

II.

1.

Dem Grunde nach sind die Beklagten der Klägerin gemäß §§ 823, 831, 830, 253 BGB zum Ersatz des materiellen und des immateriellen Schadens verpflichtet, der der Klägerin aus dem Unfall vom 06.01.2011 bereits entstanden ist und künftig noch entstehen wird. Dementsprechend war dem Feststellungsbegehren in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang stattzugeben. Denn bei einer Oberarmfraktur, wie sie die Klägerin erlitten hat, ergibt sich die Möglichkeit weiterer Schadensverwirklichung schon aus der Art der Verletzung.

1.1

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht fest, dass die Klägerin zu der von ihr angegebenen Zeit an der von ihr bezeichneten Stelle, also auf dem Bürgersteig des Q-Weges vor dem Haus der Beklagten zu 1), ausgerutscht und gestürzt ist. Bewiesen ist ferner, dass es an der Unfallstelle glatt war. Beides wird bestätigt durch die Aussagen der vom Senat vernommenen Zeugen L2, L3 und W in Verbindung mit den eigenen Schilderungen der gemäß § 141 ZPO vernommenen Klägerin. Denn die Zeugen haben glaubhaft bekundet, dass sie die Klägerin auf dem Boden liegend vorgefunden haben und dass es dort sehr glatt gewesen ist. Zweifel an der Richtigkeit der Bekundungen ergeben sich nicht aus den Aussagen der Zeugen L, D, H und O. Denn diese Zeugen haben erst geraume Zeit nach dem Unfall von dem Sturz der Klägerin erfahren und konnten daher schon aus diesem Grunde keine zuverlässigen Angaben zum Zustand des Gehweges im Unfallzeitpunkt machen.

Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin aus einem anderen Grund als der Bodenglätte gestürzt ist, sind nicht ersichtlich. Für den Kausalzusammenhang zwischen Glätte und Sturz spricht der Beweis des ersten Anscheins.

1.2

Die Glätte im Bereich der Unfallstelle beruht auf pflichtwidrigem fahrlässigem Verhalten der Beklagten.

Gemäß der Gemeindesatzung war es grundsätzlich Sache der Beklagten zu 1) als Hauseigentümerin, im Bereich der Unfallstelle im Rahmen der sie treffenden Verkehrssicherungspflicht den Winterdienst zu erledigen. Diese Pflicht hatte sie durch den Mietvertrag wirksam auf die Beklagte zu 2) übertragen. Die notwendigen Arbeiten mussten folglich von der Beklagten zu 2) vorgenommen werden. Der Beklagten zu 1) oblag weiterhin eine Aufsichts- und Kontrollpflicht.

Daraus, dass es an der Unfallstelle glatt war und nur Hobelspäne gestreut worden waren, folgt, dass die Beklagte zu 2) ihre Pflichten verletzt hat. Denn bei pflichtgemäßem Verhalten hätte sich der Gehweg nicht in einem verkehrswidrigen Zustand befunden.

Bei den Hobelspänen, die die Mitarbeiter der Beklagten zu 2) flächendeckend auf dem Gehweg ausgestreut hatten, handelte es sich nicht um ein Streumittel mit der erforderlichen abstumpfenden Wirkung. Die gegenteilige Feststellung des Landgerichts konnte der Entscheidung des Senats nicht gemäß § 529 ZPO zugrunde gelegt werden. Denn im angefochtenen Urteil ist schon nicht hinreichend dargelegt, worauf die die Eignung von Hobelspänen als Streumittel betreffende eigene Sachkunde des Landgerichts beruht. Der Senat hat daher das schriftliche Gutachten des Sachverständigen Dr. M vom 10.06.2013 eingeholt, das dieser am 24.10.2013 vor dem Senat mündlich erläutert und ergänzt hat. Dieses Gutachten hat ergeben, dass jedenfalls Hobelspäne von der Art, wie sie die Klägerin kurz nach dem Unfall sichergestellt hat und die auch dem Material entsprechen, das die Beklagten dem Sachverständigen zur Verfügung gestellt haben, keine abstumpfende Wirkung entfaltet haben. Derartige Hobelspäne saugen sich mit Feuchtigkeit voll, so dass sie zu einer Art Eisflocken mit Rutscheffekt werden.

Ohne Erfolg berufen sich die Beklagten darauf, am Nachmittag des Unfalltages hätten so extreme Witterungsverhältnisse geherrscht, dass sich Streumaßnahmen jeglicher Art als wirkungslos erwiesen haben würden. Anhaltpunkte dafür, dass noch unmittelbar vor dem Unfall der Klägerin Regen gefallen ist, der auf dem Boden zu Glatteisbildung geführt hat, ergeben sich lediglich aus der Aussage der Zeugin L2. Nach ihrer Erinnerung hatte es "Blitzeis" gegeben. Dies haben aber weder ihr Sohn, der Zeuge L3, noch der Zeuge W so bestätigen können. Zu berücksichtigen ist auch, dass der Feinsplitt, der vor dem Bestattungsunternehmen L4 ausgebracht worden sein soll, durchaus abstumpfende Wirkung gehabt haben soll. Gemäß dem Antrag der Klägerin hat der Senat daher das schriftliche Gutachten der Sachverständigen P vom Deutschen Wetterdienst eingeholt. Nach diesem Gutachten vom 03.06.2014 ist es zu Blitzeis im Sinne von plötzlich einsetzender Glättebildung am 06.01.2011 gegen 17.00 Uhr höchst wahrscheinlich nicht gekommen. Ab etwa 15.45 Uhr fiel zwar Niederschlag in Form von Regen. Im Tagesverlauf des 06.01. hatte sich die Lufttemperatur aber kontinuierlich erhöht und lag um 17.00 Uhr bei mindestens +4°C in 5 cm Höhe über Grund und bei mindestens 6°C in eine Höhe von 2 m über Grund. Die Oberflächen-Temperatur schneefreier Bodenabschnitte lag auf Grund der schon seit knapp 20 Stunden positiven Lufttemperatur um 17.00 Uhr mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit über dem Gefrierpunkt, so dass der dann fallende Niederschlag nicht am Boden gefror.

Der somit verkehrswidrige Zustand des Gehweges im Zuständigkeitsbereich der Beklagten zu 2) indiziert, dass die Beklagte zu 2) die erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen und daher fahrlässig gehandelt hat (vgl. dazu BGH r+s 2012, 460). Dem steht nicht entgegen, dass die Beklagte zu 2) vorgetragen hat, ihr Geschäftsführer habe jahrelange positive Erfahrungen mit Hobelspänen als Streumittel gemacht. Denn nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. M vermag dies nicht zu überzeugen, und zwar selbst dann nicht, wenn man berücksichtigt, dass die Verwendung von Sägemehl pp. als Streumittel gelegentlich auch im Internet empfohlen werden mag. Die Beklagte zu 2) hätte die Eignung der von ihr verwendeten Hobelspäne leicht selbst untersuchen können.

Auch mit der Behauptung, wegen der schon seit Anfang Dezember 2010 andauernden winterlichen Witterung seien geeignete Streumittel auf dem Markt nicht verfügbar gewesen, vermag sich die Beklagte zu 2) nicht mit Erfolg zu entlasten. Es ist schon nicht dargetan, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang sie sich vor Einbruch des Winterwetters bevorratet hatte. Dem Vortrag der Beklagten zu 2) kann auch nicht entnommen werden, wo im Handel die Beklagte zu 2) vor dem Unfall versucht hat, geeignetes Material zu beschaffen. Angesichts der aus dem Gutachten der Sachverständigen P zu entnehmenden Temperaturentwicklung verbleiben auch Zweifel an dem Vortrag der Beklagten, Splitt sei nicht zu beschaffen gewesen, weil er betonhart gefroren gewesen sei.

Die Beklagte zu 1) vermag sich ebenfalls nicht zu entlasten. Sie wohnte in der Nähe und wusste von der Verwendung von Hobelspänen als Streumittel. Im Rahmen der ihr obliegenden Kontroll- und Überwachungspflicht hätte sie sich mit der Eignung der Hobelspäne als abstumpfendes Mittel näher befassen und einschreiten müssen. Diesen Anforderungen ist sie nicht gerecht geworden.

1.3

Die Schadensersatzverpflichtung der Beklagten besteht jedoch nur in einem um 50 % Mitverantwortlichkeit der Klägerin reduzierten Umfang. Dies ergibt die Abwägung gemäß § 254 BGB.

Die Klägerin muss sich entgegen halten lassen, dass sie für jeden Schaden mitverantwortlich ist, an dessen Entstehung sie in zurechenbarer Weise mitgewirkt hat. Sie hat diejenige Sorgfalt außer Acht gelassen, die jedem verständigen Menschen obliegt, um sich selbst vor Schaden zu bewahren. § 254 BGB beruht auf dem Rechtsgedanken, dass derjenige, der die Sorgfalt außer Acht lässt, die nach Lage der Sache geboten erscheint, um sich selbst vor Schaden zu bewahren, den Verlust oder die Kürzung seines Schadensersatzanspruchs hinnehmen muss (vgl. Palandt/Grüneberg, BGB, 73. Aufl., § 254 Rn. 1, 8 m. w. N.). Denjenigen, der sich bewusst und ohne Not in eine Gefahr begibt, handelt nicht nur unvorsichtig sondern verletzt in hohem Maße die erforderliche Sorgfalt (vgl. dazu BGH NJW 1985, 482 Rn. 15). Wenn jemand eine erkennbar nicht bestreute glatte Fläche betritt und stürzt, dann spricht dies in der Regel dafür, dass er die gebotene Vorsicht außer Acht gelassen hat (vgl. OLG Düsseldorf VersR 2000, 63).

Auf Seiten der Beklagten kann ein über leichte Fahrlässigkeit hinaus gesteigertes Verschulden nicht angenommen werden, zumal die Beklagten mit ihrer Vorstellung von der Eignung der Hobelspäne als Streumittel nicht völlig allein stehen. Aber auch der Klägerin kann nur ein leichter Verstoß gegen die gebotene Sorgfalt nachgewiesen werden. Vom Parkplatz bis zum Bestattungsunternehmen musste sie nur 40 m weit gehen und durfte bei Antritt ihres Weges grundsätzlich darauf vertrauen, dass die Anlieger des Q-Weges ihrer Räum- und Streupflicht nachgekommen waren. Allerdings hatte sie schon auf dem Weg zum Unternehmen L4 erkannt, dass alles vereist war, und hatte daher den Bürgersteig gemieden. Sie war über die ihrer Darstellung nach "freigeregneten" Spuren auf der Fahrbahn gegangen. Auf dem Rückweg war sie kurz vor ihrem Unfall nur wegen eines Pkw von der Fahrbahn auf den Gehweg gewechselt. Zu ihrem Eigenschutz wäre es geboten gewesen, die Vorbeifahrt des Pkw am Rande der Fahrbahn abzuwarten und den Weg dann auf dem freigeregneten Bereich der Fahrbahn fortzusetzen.

Unter Berücksichtigung aller Umstände erachtet der Senat die Verantwortlichkeit auf Seiten der Klägerin für ebenso hoch wie auf Seiten der Beklagten.

2.

Vorgerichtliche Rechtsverfolgungskosten waren der Klägerin in Höhe von 402,82 Euro zuzusprechen. Bei der Berechnung der Rechtsanwaltsgebühren hat der Senat einen Gebührenstreitwert von 4.000,00 Euro zugrunde gelegt.

3.

Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 92, 543, 708 Nr. 10 ZPO. Die Voraussetzungen einer Revisionszulassung liegen nicht vor.