SG Aachen, Urteil vom 31.10.2014 - S 7 KA 1/13
Fundstelle
openJur 2014, 27159
  • Rkr:
Tenor

Der Beschluss des Beklagten vom 09.01.2013 wird aufgehoben. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Der Streitwert wird endgültig auf 60.000,- Euro festgesetzt.

Tatbestand

Der am 00.00.0000 geborene Beigeladene zu 6) war als Facharzt für Laboratoriumsmedizin für den Vertragsarztsitz G-Allee 1 in 00000 B zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. Mit Schreiben vom 27.08.2012 (eingegangen am 28.08.2012) teilte er der Bezirksstelle der Klägerin Folgendes mit:

"Betr.: Beendigung der Laborarztpraxis zum 02.01.2013

Sehr geehrte Damen und Herren,

hiermit teile ich Ihnen mit, dass ich meine Laborpraxis in der G-Allee 1, 00000 B, KV-Nr. 000000000 zum 02.01.2013 schließe. Zu diesem Termin verzichte ich ebenfalls auf die Zulassung."

Durch Beschluss vom 19.09.2012 (abgesandt am 08.11.2012) stellte der Zulassungsausschuss für Ärzte L fest, die Zulassung des Beigeladenen zu 6) ende mit Ablauf des 31.12.2012. Hiergegen legte der Beigeladene zu 6) am 19.11.2012 Widerspruch ein. Zur Begründung führte er aus, wie er bereits mit Schreiben vom 26.10.2012 mitgeteilt habe, sei es ihm bisher nicht möglich gewesen, einen Nachfolger für seine Laborpraxis in der G-Allee 1 in 00000 B zu finden. Er sehe sich deshalb gezwungen, die Praxis über den 02.01.2013 hinaus zu betreiben. Auf die damit verbundene Zulassung könne er ebenfalls nicht verzichten. Nachdem der Beigeladene zu 6) dem Beklagten sein Schreiben vom 26.10.2012 am 02.01.2013 zugesandt hatte, hob der Beklagte mit Beschluss vom 09.01.2013 den Beschluss des Zulassungsausschusses auf. Zur Begründung führte er aus, es könne dahin stehen, ob es sich bei dem Schreiben des Beigeladenen zu 6) vom 27.08.2012 um eine unbedingte Verzichtserklärung handele. Denn es habe sich die Nachfrage aufdrängen müssen, ob eine Veräußerung der Praxis möglich sei und deshalb eine Verzichtserklärung mit einer aufschiebenden Bedingung in Betracht kam. Überdies habe der Beigeladene zu 6) nach seiner unwiderlegt gebliebenen schriftlichen Darstellung unter dem 26.10.2012 mitgeteilt, er könne nicht auf seine Zulassung verzichten, weil noch kein Nachfolger gefunden sei. Zu diesem Zeitpunkt sei der Beschluss des Zulassungsausschusses noch nicht wirksam gewesen, weil er erst am 08.11.2012 zu Post gegeben worden sei. Der Zulassungsausschuss habe sich erneut mit der Sache befassen müssen, weil das Schreiben des Beigeladenen zu 6) als Widerruf der Verzichtserklärung zu werten sei. Jedenfalls bis zum Abschluss des Verfahrens vor dem Widerspruchsauschuss sei ein Widerruf als zulässig zu erachten, zumal im vorliegenden Fall nur die Interessen des Vertragsarztes betroffen seien.

Gegen den Beschluss des Beklagten richtet sich die am 15.02.2013 erhobene Klage.

Am 29.04.2013 hat sich der Beigeladene zu 6) an das Gericht gewandt und Eilrechtsschutz begehrt. Mit Beschluss vom 05.07.2014 hat die Kammer den Antrag, die sofortige Vollziehung des Beschlusses des Beklagten vom 09.01.2013 anzuordnen, abgelehnt (Az. S 7 KA 6/13 ER).

Die Klägerin beantragt, den Beschluss des Beklagten vom 09.01.2013 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beigeladenen zu 1) bis 6) stellen keinen eigenen Antrag.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte, auf die beigezogene Streitakte des Verfahrens S 7 KA 6/13 ER sowie auf die Verwaltungsakten des Beklagten verwiesen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Gründe

Die Kammer konnte trotz Abwesenheit von Vertretern der Beigeladenen zu 1) bis 5) und trotz Abwesenheit des Beigeladenen zu 6) aufgrund mündlicher Verhandlung entscheiden, weil die Beigeladenen zu 1) bis 6) in der schriftlichen Terminsladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden sind, §§ 110 Abs. 1 Satz 2, 124 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Klage ist zulässig, insbesondere ist die Klägerin klagebefugt. Denn aufgrund ihrer Aufgabe zur Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung ist sie zur Anfechtung von Entscheidungen der Zulassungsgremien befugt (siehe etwa BSG, Urteil vom 17.06.2009, B 6 KA 14/08 R = juris; BSG, Urteil vom 02.09.2009, B 6 KA 21/08 R = juris).

Die Klage ist auch begründet. Die Klägerin wird durch den angefochtenen Beschluss des Beklagten vom 09.01.2013 im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG beschwert, da dieser rechtswidrig ist. Denn der Beigeladene zu 6) hat wirksam auf seine Zulassung verzichtet.

Der Beigeladene zu 6) hat im Rahmen seines unter dem 27.08.2012 verfassten Schreibens auf seine Zulassung verzichtet. Für einen Verzicht spricht für die Kammer weniger die Wendung "verzichtet", als vielmehr der Gesamtzusammenhang des Schreibens. Darin hat der Beigeladene zu 6) zum Ausdruck gebracht, dass er seine "Laborpraxis zum 02.01.2013 schließe". Dies lässt nach den für Willenserklärungen auch im öffentlichen Recht geltenden Grundsätzen analog §§ 133, 157 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) nach dem objektiven Empfängerhorizont (hierzu etwa Ellenberger, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 72. Aufl. 2013, § 133 Rdnr. 4 m.w.N.) nur den Schluss zu, dass eine endgültige Aufgabe seiner Tätigkeit als Facharzt für Laboratoriumsmedizin zu diesem Zeitpunkt gewollt war. Soweit der Beklagte im Rahmen seiner Entscheidung vom 09.01.2013 ausführt, der Zulassungsausschuss habe bei dem Beigeladenen zu 6) nachfragen müssen, wie dessen Erklärung aufzufassen sei, vermag sich die Kammer dem nicht anzuschließen. Denn der Verzicht stellt eine einseitige empfangsbedürftige und rechtsgestaltende Willenserklärung dar (hierzu etwa LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16.02.2005 ? L 5 KA 3191/04 = juris, Rdnr. 30). Angesichts der Eindeutigkeit der Erklärung des Beigeladenen zu 6) vom 27.08.2012 aber, die keinen Interpretationsspielraum zulässt, trat die Rechtsfolge des Verzichts unabhängig von einer Nachfrage bei dem Zulassungsausschuss mit dem Zugang jener Erklärung ein. Insofern kann es dahin stehen, ob ein Verzicht als einseitige empfangsbedürftige und rechtsgestaltende Willenserklärung auch unter einer Bedingung erklärt werden kann, was im überwiegenden Schrifttum und von der höchstrichterlichen Rechtsprechung allein für den Fall angenommen wird, dass der Verzicht unter der Bedingung bestandskräftiger Nachbesetzung erklärt wird (BSG, Urteil vom 14.12.2011 ? B 6 KA 13/11 R = juris, Rdnr. 14; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12.5.2010 ? L 11 KA 9/10 B ER = juris, Rdnr 84; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 10.11.2010 ? L 3 KA 75/07 = juris; Pawlita, in: jurisPK-SGB V, 2. Aufl. 2012, § 103 Rdnr. 58 m.w.N.; Krauskopf/Clemens, in: Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts, 4. Aufl. 2010, § 29 Rdnr. 120; Karst, MedR 1996, 554, 555 f.; aA OLG Zweibrücken, Urteil vom 25.05.2005 ? 4 U 73/04 = OLGR Zweibrücken 2005, 670 ff.; wohl auch Hess, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, 75. Ergänzungslieferung 2012, § 103 SGB V Rdnr. 21). Der Beigeladene zu 6) hat nämlich von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht und ohne Not einen unbedingten Verzicht auf seine Zulassung erklärt.

Dieser Verzicht ist vom Beigeladenen zu 6) auch nicht wirksam widerrufen worden.

Im Hinblick auf einen Widerruf findet § 46 Abs. 1, 2. Halbsatz Erstes Buch Sozialgesetzbuch ? Allgemeiner Teil (SGB I) keine Anwendung. Denn es geht im vorliegenden Fall nicht um einen Verzicht betreffend Ansprüche auf Sozialleistungen im Sinne von § 11 Satz 1 SGB I, sondern um eine Zulassung als Facharzt für Laboratoriumsmedizin.

Der wirksam erklärte Verzicht eines Arztes auf seine Zulassung kann daher nur unter den Voraussetzungen des § 130 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 BGB widerrufen werden (LSG Baden-Württemberg, a.a.O., Rdnr. 29). Danach wird eine einseitige, empfangsbedürftige Willenserklärung nicht wirksam, wenn dem anderen vorher oder gleichzeitig ein Widerruf zugeht. Ein gleichzeitiger oder vorheriger Widerruf ist indessen im vorliegenden Fall nicht ersichtlich. Der Verzicht des Beigeladenen zu 6) ist der Bezirksstelle der Klägerin am 28.08.2012 zugegangen. Vor bzw. zu diesem Zeitpunkt ist ein Widerruf nicht zugegangen. Das erst unter dem 26.10.2012 verfasste Schreiben des Beigeladenen zu 6) kann zu diesem Zeitpunkt und auch zum Zeitpunkt der Beschlussfassung am 19.09.2012 offenkundig nicht zugegangen sein. Doch selbst wenn man das Merkmal der "Gleichzeitigkeit" als erfüllt ansehen wollte, wenn bis zur Zustellung der Entscheidung des Zulassungsausschusses ein Widerruf zugeht, so ist der erklärte Verzicht nicht wirksam widerrufen worden. Denn auch wenn man das Widerspruchsschreiben als Widerruf des Verzichts interpretieren wollte, wäre dieser Widerruf erst am 19.11.2012 zugegangen ? zu einem Zeitpunkt also, als der Beschluss vom 19.09.2012 den Beteiligten bereits zugestellt worden war. Für einen Zugang des Schreibens des Beigeladenen zu 6) vom 26.10.2012 vor dem bzw. zum Zeitpunkt der Zustellung des Beschlusses an die Beteiligten ergeben sich keinerlei Anhaltspunkte. Ein solches Schreiben ist nicht Bestandteil der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Zulassungsausschusses und ein Zugang ist auch sonst nicht nachgewiesen. Dass der Beigeladene zu 6) an Eides statt versichert hat, das Schreiben vom 26.10.2012 am 27.10.2012 zur Post gegeben zu haben, ändert hieran nichts. Denn damit ist lediglich die Aufgabe zur Post glaubhaft gemacht, nicht aber der Zugang des Schreibens. Ob den Beigeladenen zu 6) hierbei Verschulden trifft, ist unerheblich, weil allein der Zugang vor bzw. zu den o.g. Zeitpunkten entscheidend ist.

Eine andere Auslegung des Merkmals der "Gleichzeitigkeit" ergibt sich auch nicht aus § 28 Abs. 1 Satz 1 der Zulassungsverordnung für Vertragsärzte (Ärzte-ZV). Danach wird der Verzicht auf die Zulassung mit dem Ende des auf den Zugang der Verzichtserklärung des Vertragsarztes beim Zulassungsausschuss folgenden Kalendervierteljahrs wirksam. Diese Vorschrift trifft allein eine Aussage über den Eintritt der Rechtsfolge des Verzichts. Zur davon zu unterscheidenden Problematik der Wirksamkeit der Verzichtserklärung verhält sie sich nicht (BSG, Urteil vom 08.05.1996 ? 6 RKa 20/95 = juris, Rdnr. 27 f.; LSG Baden-Württemberg, a.a.O., Rdnr. 30). Die Wirksamkeit der Verzichtserklärung tritt mit ihrem Zugang beim Empfänger ein, dies war im vorliegenden Fall am 28.08.2012.

Etwas anderes folgt schließlich sich auch nicht aus dem Umstand, dass der Beigeladene zu 6) seinen Verzicht mit Ablauf des 02.01.2013 erklärt hat. Denn für die Rechtzeitigkeit eines Widerrufs ist ebenfalls nicht der Eintritt der Wirkungen des Verzichts, sondern allein der Zugang der Verzichtserklärung maßgeblich. Überdies würde ein am 28.08.2012 erklärter Verzicht mit Ablauf des 02.01.2013 mit der Vorschrift des § 28 Abs. 1 Satz 1 Ärzte-ZV kollidieren, die nicht zur Disposition des verzichtenden Vertragsarztes steht.

Eine wirksame Anfechtung der Verzichtserklärung, die unter den Voraussetzungen der §§ 119, 120, 123 BGB grundsätzlich möglich ist (näher Pawlita, in: jurisPK-SGB V, 2. Aufl. 2012, § 95 Rdnr. 660 m.w.N.), scheidet aus. Denn Anfechtungsgründe sind nicht vorhanden. Selbst wenn man dem Beigeladenen zu 6) zubilligt, sich darüber getäuscht zu haben, dass es ihm gelingt, rechtzeitig einen Nachfolger für seine Praxis zu finde, so handelte es sich um einen unbeachtlichen Motivirrtum (dazu etwa Ellenberger, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 71. Aufl. 2012, § 119 Rdnr. 29), nicht aber um einen Irrtum über den Erklärungsinhalt (§ 119 Abs. 1, 1. Alt BGB) oder einen Irrtum in der Erklärungshandlung im Sinne von § 119 Abs. 1, 2. Alt. BGB (zu beiden Varianten Ellenberger, a.a.O., § 119 Rdnr. 10 f.).

Nichts anderes gilt, wenn man zugunsten des Beigeladenen zu 6) unterstellt, dieser sei davon ausgegangen, er könne bei erfolgsloser Suche eines Nachfolgers jederzeit eine neue Zulassung beantragen und die vom Gemeinsamen Bundesausschuss am 6. September 2012 beschlossene Zulassungssperre für neun bislang nicht beplante Arztgruppen (unter anderem auch für Ärzte für Laboratoriumsmedizin) bei Abgabe seiner Verzichtserklärung noch nicht beachten konnte (dies in Betracht ziehend Steinbrück/Brix, Arzt- und Medizinrecht Kompakt (AMK) 2013, 7 f.). Abgesehen davon, dass ein solcher Irrtum vom Beigeladenen zu 6) zu keiner Zeit vorgetragen noch sonstwie ersichtlich ist, handelte es sich ? eine solche fälschliche Annahme unterstellt ? ebenfalls um einen Motivirrtum, der unbeachtlich ist. Ob in diesem Fall die Voraussetzungen eines beachtlichen Motivirrtums analog § 119 Abs. 2 BGB erfüllt wären, kann offen bleiben. Denn "bei Abgabe der Willenserklärung" im Sinne von § 119 Abs. 1 und 2 BGB, d.h. mit dem Zugang der Verzichtserklärung des Beigeladenen zu 6) am 28.08.2014, war der Beschluss des gemeinsamen Bundesausschusses noch nicht ergangen, so dass jedenfalls zu diesem Zeitpunkt ein analog § 119 Abs. 2 BGB beachtlicher Motivirrtum ausscheidet.

Auch grundrechtliche Belange des Beigeladenen zu 6), namentlich aus Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz (GG) bzw. Art. 14 Abs. 1 GG, zwingen nicht zu einer abweichenden Beurteilung. Denn er hat in freier Willensentscheidung auf die weitere Ausübung seiner Zulassung verzichtet. Aufgrund dieses Verzichts trat ein Ende der Zulassung kraft Gesetzes zum 31.12.2012 ein, § 28 Abs. 1 Satz 1 Ärzte-ZV. Dem Beschluss der Klägerin kommt daher nur deklaratorische Wirkung zu, so dass eine Verletzung von Grundrechten des Beigeladenen zu 6) schon deshalb nicht gegeben ist (ähnlich LSG Baden-Württemberg, a.a.O., Rdnr. 32).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 und 2 Gerichtskostengesetz (GKG). Für die Bedeutung der Sache für die Klägerin hat die Kammer nicht auf den zu erwartenden Gewinn des Beigeladenen zu 6) abgestellt, sondern ? in Anlehnung an die Rechtsprechung des LSG Nordrhein-Westfalen in Zulassungsstreitigkeiten ? den Auffangstreitwert des § 52 Abs. 2 GKG in Höhe von 5.000,00 Euro für einen Zeitraum von zwölf Quartalen hochgerechnet (dazu etwa LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16.03.2011 ? L 11 KA 96/10 B ER = juris, Rdnr. 103 m.w.N.).