VG Berlin, Beschluss vom 19.08.2014 - 28 L 124.14
Fundstelle
openJur 2014, 18693
  • Rkr:

Ein für die Wahl zum Bundesgerichtshof vorgeschlagener Richter kann zur Sicherung seines Bewerbungsverfahrensanspruchs verlangen, dass die Ausgewählten nicht ernannt werden, bevor ihm Akteneinsicht in die den Mitgliedern des Richterwahlausschusses vorgelegten Wahlvorschlagsunterlagen gewährt wurde.

Tenor

Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig untersagt, die Beigeladenen zu Richterinnen bzw. Richtern am Bundesgerichtshof zu ernennen, bevor der Antragstellerin die Möglichkeit der Akteneinsichtnahme in die die Beigeladenen betreffenden, den Mitgliedern des Richterwahlausschusses für die Richter der obersten Gerichtshöfe des Bundes vorgelegten Wahlvorschlagsunterlagen bekanntgeben worden ist und zwei Wochen seit dem ihr mitgeteilten Termin für die Einsichtnahme vergangen sind.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese jeweils selbst tragen.

Der Wert des Verfahrensgegenstandes wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

Die Antragstellerin ist seit Juli 2013 als wissenschaftliche Mitarbeiterin zum B... abgeordnet. Im Jahr 2011 wurde sie zur Wahl zur Richterin am Bundesgerichtshof vorgeschlagen, 2012 und 2013 aber nicht gewählt. In der Sitzung des Richterwahlausschusses für die Richter der obersten Gerichtshöfe des Bundes (im Folgenden: Richterwahlausschuss) am 22. Mai 2014 stand sie erneut zur Wahl. An diesem Tag wurden die Beigeladenen und eine weitere Richterin für den Bundesgerichtshof gewählt. Mit Schreiben ihres Verfahrensbevollmächtigten vom 23. Mai 2014 machte die Antragstellerin beim Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz ihren Bewerbungsverfahrensanspruch geltend und bat um Akteneinsicht in die Wahlunterlagen, um die Bewerberauswahl überprüfen zu können. Am 6. Juni 2014 wurde dem Verfahrensbevollmächtigten Einsicht in die Generalakten und in die Wahlvorschlagsunterlagen der Antragstellerin gewährt. Eine Einsichtnahme in die Wahlvorschlagsakten der Beigeladenen wurde dem Verfahrensbevollmächtigten auch auf seine erneute schriftliche Bitte vom selben Tag nicht gewährt.

Die Antragstellerin hat mit Schriftsatz vom 18. Juni 2014 beim Verwaltungsgericht Karlsruhe um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht und die Freihaltung der Stellen bis zur Einsichtnahme in das Protokoll der Sitzung des Richterwahlausschusses und die dessen Mitgliedern vorgelegten Wahlvorschlagsunterlagen der Beigeladenen beantragt. Dieses hat sich mit Beschluss vom 28. Juli 2014 (1 K 1810/14) für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Verwaltungsgericht Berlin verwiesen.

Nachdem die Antragsgegnerin bereits mit Schriftsatz vom 7. Juni 2014 einen sich auf die Wahl für den Bundesgerichtshof und die diese betreffenden Ausführungen zu den Beigeladenen beziehenden Auszug aus der Niederschrift der Sitzung des Richterwahlausschusses am 22. Mai 2014 sowie die hinsichtlich der Namen der übrigen Nichtgewählten geschwärzten Inhaltsverzeichnisse der den Ausschussmitgliedern vorliegenden fünf Mappen, die sich auf die Wahlvorschläge für den Bundesgerichtshof bezogen, übersandt hatte, beantragt die Antragstellerin nunmehr,

der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen, die am 22. Mai 2014 vom Richterwahlausschuss als Richterinnen und Richter beim Bundesgerichtshof gewählten Kandidatinnen und Kandidaten – mit Ausnahme von Frau B... – zu Richterinnen und Richtern beim Bundesgerichtshof zu ernennen, bevor nicht die Antragsgegnerin der Antragstellerin Einsicht in die den Mitgliedern des Richterwahlausschusses vorgelegten Wahlvorschlagsunterlagen der gewählten Kandidatinnen und Kandidaten gewährt und danach vierzehn Tage lang Gelegenheit gegeben worden ist zu prüfen und zu entscheiden, ob sie eine Konkurrentenklage erhebt.

Die übrigen Beteiligen haben keine Anträge gestellt.

II.

Der Antrag der Antragstellerin ist mit den aus dem Tenor ersichtlichen Maßgaben begründet, mit denen sichergestellt wird, dass einerseits der Antragstellerin ab dem Zeitpunkt der Möglichkeit der Akteneinsichtnahme zwei Wochen Zeit für die Prüfung verbleiben, ob sie sich gegen die Auswahl der Beigeladenen wenden will, und sie andererseits nicht durch eine erst spätere Akteneinsichtnahme den Beginn der zweiwöchigen Frist hinausschiebt. Dabei geht die Kammer davon aus, dass die Antragsgegnerin den Termin für die Einsichtnahme unter Berücksichtigung berechtigter Anliegen der Antragstellerin bestimmt. Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) liegen insoweit vor. Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht (vgl. § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 der Zivilprozessordnung – ZPO –).

Ein Anordnungsanspruch ist gegeben, weil die Antragstellerin glaubhaft gemacht hat, dass die Nichtgewährung der Akteneinsicht in dem im Tenor angegebenen Umfang sie in ihrem Recht aus Artikel 33 Abs. 2 des Grundgesetztes (GG) verletzt. Danach hat jeder Deutsche nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte. Das Amt einer Richterin am Bundesgerichtshof ist ein Amt im Sinne dieser Vorschrift (vgl. §§ 3 Abs. 1 und 37 Satz 1 des Bundesbesoldungsgesetzes i. V. m. Anlage III – Bundesbesoldungsordnung R – Besoldungsgruppe R 6, § 30 Abs. 1 des Deutschen Richtergesetzes). Sie ist auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass gemäß Artikel 95 Abs. 2 GG über die Berufung der Richter der obersten Gerichtshöfe des Bundes der für das jeweilige Sachgebiet zuständige Bundesminister gemeinsam mit dem Richterwahlausschuss entscheidet, hinsichtlich der Vergabe des streitbefangenen Amtes anwendbar (vgl. OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 15. Oktober 2001 – 3 M 34/01 –, zitiert nach juris, Rdnr. 16 ff., 19 = NJW 2001, 3495 [3496]).

Nach Artikel 33 Abs. 2 GG, der ein grundrechtsgleiches Recht gewährt, kann ein Bewerber um ein öffentliches Amt beanspruchen, dass der Dienstherr bei der erforderlichen Auswahl zwischen mehreren Bewerbern ist in erster Linie auf unmittelbar leistungsbezogene Kriterien abstellt (sog. Bewerbungsverfahrensanspruch; vgl. BVerwG, Urteil vom 4. November 2010 – 2 C 16/09 –, zitiert nach juris, Rdnr. 21 f. = NJW 2011, 695 [696, Rdnr. 21 f.]; für Richter eines obersten Gerichtshofs des Bundes OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 15. Oktober 2001 – 3 M 34/01 –, zitiert nach juris, Rdnr. 30 f. = NJW 2001, 3495 [3496]). Die Antragstellerin kann sich auf Artikel 33 Abs. 2 GG berufen, obgleich sie sich wegen des bei der Berufung von Richtern an obersten Gerichtshöfen des Bundes vorgesehenen Wahlverfahrens nicht auf eine Ausschreibung beworben hat. Denn jedenfalls durch ihr Einverständnis damit, vorgeschlagen zu werden, ist sie Bewerberin um das Amt einer Richterin am Bundesgerichtshof.

Aus Artikel 33 Abs. 2 i. V. m. Artikel 19 Abs. 4 GG folgt ferner die Verpflichtung des Dienstherrn, die seiner Entscheidung zu Grunde liegenden wesentlichen Auswahlerwägungen schriftlich niederzulegen, um eine sachgerechte Kontrolle durch den unterlegenen Bewerber und gegebenenfalls durch das Gericht zu ermöglichen (BVerwG, Beschluss vom 9. April 2014 – 1 WDS-VR 23/13 –, zitiert nach juris, Rdnr. 31). Zugleich besteht ein Anspruch des Mitbewerbers auf Einsicht in die Dokumentation der einer Auswahlentscheidung zu Grunde liegenden wesentlichen Auswahlerwägungen (BVerfG, Beschluss vom 9. Juli 2007 – 2 BvR 206/07 – zitiert nach juris, Rdnr. 21; BVerwG, Beschluss vom 20. November 2012 – 1 WB 4/12 –, zitiert nach juris, Rdnr. 19, 26 = NVwZ-RR 2013, 885 [886, Rdnr. 19, 26]). In den Fällen der Berufung zum Richter eines obersten Gerichtshofs des Bundes, die aufgrund einer Wahl in nichtöffentlicher Sitzung bei geheimer Abstimmung (§§ 9 Abs. 2, 12 Abs. 1 des Richterwahlgesetzes – RiWG –) erfolgt, bezieht sich das Einsichtsrecht des Mitbewerbers jedenfalls dann auf die Sitzungsniederschrift (vgl. § 9 Abs. 3 RiWG) sowie auf die den Mitgliedern des Richterwahlausschusses vorgelegten Wahlunterlagen, wenn der Richterwahlausschuss in rechtlich zulässiger Weise (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 19. Juni 1997 – 2 C 24/96 –, zitiert nach juris, Rdnr. 18 ff. m. w. N.) darauf verzichtet, die für das Ergebnis seiner Willensbildung maßgebenden Erwägungen darzulegen.

Die Einsichtnahme in diese Unterlagen ist zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes erforderlich, damit der unterlegene Bewerber in die Lage versetzt wird, sachgerecht zu entscheiden, ob Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen den Anspruch auf faire und chancengleiche Behandlung seiner Bewerbung bestehen und er gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch nehmen will (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. Januar 2012 – OVG 6 S 50.11 –, zitiert nach juris, Rdnr. 4; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 7. August 1996 – 4 S 1929/96 –, zitiert nach juris, Rdnr. 10 = NJW 1996, 2525 [2527]). Einer Entscheidung, wie weit die bei der Richterwahl eingeschränkten gerichtlichen Überprüfungsmöglichkeiten im Einzelnen reichen (vgl. zum Umfang der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle BVerwG, Urteil vom 19. Juni 1997 – 2 C 24/96 –, zitiert nach juris, Rdnr. 21 f.; VG Schleswig, Beschluss vom 17. Juni 2002 – 11 B 10/02 –, zitiert nach juris, Rdnr. 27 ff.), bedarf es vorliegend nicht. Denn es ist jedenfalls glaubhaft gemacht, dass sich aus den in den Wahlmappen enthaltenen Unterlagen notwendige Anhaltspunkte für die rechtlich zulässige Überprüfung der Auswahlentscheidung ergeben. Andererseits enthalten die entsprechenden Wahlvorschläge – wie sich aus den Ausführungen der Antragsgegnerin im Schriftsatz vom 7. Juli 2014 ergibt – lediglich Informationen, die die Eignung der Kandidaten betreffen, und keine darüber hinausgehenden persönlichen Daten.

Ein Anordnungsgrund ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang ebenfalls dargetan. Für die Antragstellerin besteht die Gefahr, dass im Falle der Ernennung der Beigeladenen die Verwirklichung ihrer Bewerbungsverfahrensrechte durch eine Veränderung des bestehenden Zustands vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Wegen des Grundsatzes der Ämterstabilität könnte sie die Rückgängigmachung der Ernennungen im Klageverfahren regelmäßig nicht mehr erreichen (BVerwG, Urteil vom 4. November 2010 – 2 C 16/09 –, zitiert nach juris, Rdnr. 27). Da sie sowohl den Anordnungsanspruch als auch den Anordnungsgrund glaubhaft machen muss, ist es ihr auch nicht zuzumuten, die Auswahlentscheidung gewissermaßen „ins Blaue hinein“ in einem gerichtlichen Eilverfahren angreifen zu müssen, um überhaupt nur deren tragenden Erwägungen zu erfahren (BVerfG, Beschluss vom 9. Juli 2007 – 2 BvR 206/07 – zitiert nach juris, Rdnr. 22; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. Januar 2012 – OVG 6 S 50.11 –, zitiert nach juris, Rdnr. 4).

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst, weil sie jeweils keinen eigenen Antrag gestellt und sich mithin keinem Kostenrisiko ausgesetzt haben (§ 154 Abs. 3 VwGO).

Die Festsetzung des Wertes des Verfahrensgegenstandes beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 des Gerichtskostengesetzes (GKG). Die Kammer folgt – entsprechend ihrer bisherigen Rechtsprechung – der Rechtsprechung des 4. und des 7. Senats des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg, die für die Sicherung des Bewerbungsverfahrensanspruchs im Wege vorläufigen Rechtsschutzes den vollen Auffangwert nach § 52 Abs. 2 GKG ansetzen (vgl. ausführlich OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 12. September 2013 – OVG 4 L 23.13 –, zitiert nach juris, Rdnr. 3 ff.; dem folgend OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. Januar 2014 – OVG 7 L 5.14 –, nicht veröffentlicht; anders noch der 6. Senat des Oberverwaltungsgerichts Berlin, z. B. Beschluss vom 23. August 2013 – OVG 6 L 56.13 –, zitiert nach juris, Rdnr. 2 ff.).