VG Berlin, Beschluss vom 27.07.2012 - 14 L 139.12
Fundstelle
openJur 2015, 2535
  • Rkr:

§ 37 Abs. 3 SchulG erfasst auch und gerade den Fall, dass die Schulleitung die Möglichkeit der angemessenen Förderung eines Bewerbers deswegen nicht bejahen kann, weil die Höchstzahl der für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf zur Verfügung stehenden Schulplätze nicht ausreicht, um alle Bewerber aufzunehmen.Die in § 39 Nr.3 SchulG erteilte Verordnungsermächtigung betreffend "Bildung, Zusammensetzung, Aufgaben und Empfehlungskriterien von Ausschüssen" gilt nur im Rahmen der Vorgaben des § 37 Abs. 3 SchulG.Die Neuregelung in § 34 der Sonderpädagogik-Verordnung, die für den Fall der Übernachfrage eine Entscheidung der Senatsverwaltung ohne Einbeziehung eines Aufnahmeausschusses, Anhörung der Erziehungsberechtigten und Einvernehmen mit dem bezirklichen Schulamt vorsieht, ist gesetzeswidrig und deshalb unwirksam.

Tenor

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Antragstellerin zu 1) zum Schuljahr 2012/2013 vorläufig in eine 7. Klasse der Solling-Schule aufzunehmen.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Wert des Verfahrensgegenstandes wird auf 2.500 Euro festgesetzt.

Gründe

Der Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung ist nach § 123 Abs. 1 und 3 VwGO geboten, da die Antragsteller mit überwiegender Wahrscheinlichkeit beanspruchen können, dass die Antragstellerin zu 1) zum Schuljahr 2012/2013 in eine 7. Klasse der Solling-Schule aufgenommen wird, und sie unzumutbaren Nachteilen ausgesetzt wären, wenn sie auf den rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens verwiesen würden. Damit liegen auch die Voraussetzungen für eine Ausnahme von dem herkömmlich angenommenen grundsätzlichen Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache vor.

Ein Anspruch ergibt sich daraus, dass der Antragsgegner Plätze für besetzt gehalten und sie deshalb nicht in das Vergabeverfahren mit einbezogen hat, die zu Unrecht an Bewerber mit sonderpädagogischem Förderbedarf vergeben worden sind.

1. Nach § 56 Abs. 4 des Schulgesetzes für das Land Berlin vom 26. Januar 2004 (GVBl. Seite 24), zuletzt geändert durch Gesetz vom 19. Juni 2012 (GVBl. Seite 166), - SchulG -, werden Schülerinnen und Schüler unter Beachtung der Aufnahmekapazität in eine Schule aufgenommen, in der sie ihre erste Fremdsprache fortsetzen können. Die Aufnahmekapazität ist gemäß § 54 Abs. 2 Satz 2 und 3 SchulG so zu bemessen, dass nach Ausschöpfung der verfügbaren personellen, räumlichen, sächlichen und fachspezifischen Ausstattung die Unterrichts- und Erziehungsarbeit gesichert ist, und von der zuständigen Schulbehörde im Benehmen mit der Schulleiterin oder dem Schulleiter gemäß den Vorgaben der Schulaufsichtsbehörde festzulegen.

Der Antragsgegner hat fünf 7. Klassen eingerichtet und damit der Vorgabe des § 17 Abs. 4 Satz 1 SchulG, wonach an Integrierten Sekundarschulen die Vierzügigkeit nicht unterschritten werden soll, Rechnung getragen. Bei § 17 Abs. 4 SchulG handelt es sich zudem um eine Vorschrift im Rahmen des Abschnitts zu „Gliederung und Organisation“ der Schule, die regelmäßig kein subjektives Recht eines Bewerbers auf Einrichtung einer Schulklasse begründet (vgl. Beschluss der Kammer vom 4. August 2005 - VG 14 A 33.05).

Auf der Grundlage von § 56 Abs. 9 Satz 2 SchulG bestimmt § 5 Abs. 7 Satz 2 der Verordnung über die Schularten und Bildungsgänge der Sekundarstufe I vom 31. März 2010 (GVBl. Seite 175), zuletzt geändert durch Verordnung vom 4. April 2012 (GVBl. Seite 121), - Sek I-VO -, dass an der Integrierten Sekundarschule eine Höchstgrenze von 26 Schülern je Klasse nicht überschritten werden darf, ohne dass der Verordnungsgeber in diesem Zusammenhang danach differenziert, über welches Leistungsniveau die aufgenommenen Bewerber verfügen. Insofern ist der Antragsgegner hier zutreffend von zunächst 130 Schulplätzen ausgegangen, denen 185 Anmeldungen gegenüber standen.

In Fällen, in denen die Zahl der Anmeldungen die Aufnahmekapazität der Schule übersteigt, richtet sich die Aufnahme in die Sekundarstufe I eines Gymnasiums oder einer Integrierten Sekundarschule nach folgendem Verfahren:

Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf sind gemäß § 37 Abs. 3 SchulG vorrangig zu berücksichtigen, es sei denn, dass die personellen, sächlichen und organisatorischen Möglichkeiten für eine angemessene Förderung nicht vorhanden sind. Hierzu bestimmt § 20 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung über die sonderpädagogische Förderung vom 19. Januar 2005 (GVBl. Seite 57), zuletzt geändert durch Verordnung vom 4. April 2012 (GVBl. Seite 121) , - SoPädVO -, dass in Klassen des Gymnasiums und der Integrierten Sekundarschule höchsten vier Schülerinnen und Schüler mit festgestelltem sonderpädagogischem Förderbedarf aufgenommen werden dürfen, und § 20 Abs. 4 SoPädVO sieht darüber hinaus vor, dass in allen Klassen der Integrierten Sekundarschule gemeinsamer Unterricht auch mit zieldifferent zu unterrichtenden Schülerinnen und Schülern möglich ist.

8Im vorliegenden Fall sind zunächst fünf Kinder als Bewerber mit sonderpädagogischem Förderbedarf eingestuft und vorrangig aufgenommen worden. Im Hinblick darauf wurde die Klassenfrequenz in zwei Klassen um jeweils zwei Plätze reduziert. Anschließend ging der Antragsgegner davon aus, dass nur noch 121 Plätze zur Vergabe an „Regelbewerber“ zur Verfügung standen.

2. Die vorrangige Aufnahme von fünf Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf gemäß § 37 Abs. 3 SchulG war indes fehlerhaft.

a) Bezüglich zweien dieser Schüler handelt es sich allerdings um eine rein formelle Fehlerhaftigkeit: Es geht dabei um diejenigen Schüler, die die Solling-Schule als Erstwunsch angegeben hatten und deren Aufnahme keine Einwände im Sinne von § 37 Abs. 3 SchulG entgegengesetzt worden waren. Diese Schüler hätten nicht durch die für das Schulwesen zuständige Senatsverwaltung, sondern direkt durch die Schulleitung aufgenommen werden müssen, weil sich die Zuständigkeit der Senatsverwaltung gemäß § 4 Abs. 1 AZG i. V. m. Nr. 16 Abs. 1 letzter Halbsatz des Allgemeinen Zuständigkeitskatalogs explizit auf die Fälle des § 37 Abs. 3 Satz 4 SchulG beschränkt und, wie sich aus einem Umkehrschluss von § 4 Abs. 1 Satz 3 AZG ergibt, die insoweit bei den Bezirken verbleibende Zuständigkeit auch nicht durch eine Rechtsverordnung auf die Senatsverwaltung übergeleitet werden kann. § 37 Abs. 3 Satz 4 SchulG regelt indes allein die Entscheidung der Schulaufsichtsbehörde „im Einvernehmen mit der zuständigen Schulbehörde abschließend auf der Grundlage einer Empfehlung des Ausschusses und unter Beachtung der personellen, sächlichen und organisatorischen Möglichkeiten über die Aufnahme der Schülerin oder des Schülers in die gewählte allgemeine Schule, eine andere allgemeine Schule oder eine Schule mit sonderpädagogischem Förderschwerpunkt“. Die Aufgabe des darin angesprochenen Ausschusses ist in § 37 Abs. 3 Satz 3 SchulG umschrieben: Er wird vorbereitend für die Entscheidung der Senatsverwaltung tätig und hört die Erziehungsberechtigten und die Schule an, wenn der Schulleitung eine Aufnahme nach § 37 Abs. 3 Satz 1 SchulG nicht möglich erscheint. Ein derartiges Verfahren war hier nicht geboten, weil der Aufnahme nichts entgegenstand. Damit entfiel aber die Zuständigkeit der Senatsverwaltung. Bei summarischer Prüfung ist indes davon auszugehen, dass es auch bei korrektem Verfahrensverlauf zur Aufnahme dieser zwei Kinder gekommen wäre.

11b) Anders liegt der Fall allerdings bezüglich der drei Kinder, deren Erstwünsche andere Schulen betroffen hatten. Hier liegt der Fehler darin, dass es für diese Kinder an ihren jeweiligen Erstwunschschulen zu Ablehnungsentscheidungen gekommen ist, ohne dass dabei ein Verfahren, wie es in § 37 Abs. 3 Satz 3 und 4 SchulG gefordert wird, stattgefunden hat. Die insofern zu Unrecht besetzten Plätze an der Solling-Schule gehören zur Summe der vergabefähigen Schulplätze (vgl. Beschluss der Kammer vom 1. August 2011 - VG 14 L 157.11 -, Beschlussabdruck Seite 6). Insofern standen vorliegend nicht nur 121, sondern mindestens 124, bei Rechtswidrigkeit auch der Platzzahlreduzierung um 4 Plätze sogar 128 Schulplätze für die Verteilung an „Regelbewerber“ zur Verfügung, sodass für die Antragstellerin zu 1) ein fiktiv freier Platz vorhanden ist.

Die Rechtswidrigkeit der Zuordnung der drei Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf zur Solling-Schule ergibt sich im Einzelnen aus folgendem:

13Die von der Senatsverwaltung zuvor ausgesprochenen Ablehnungsentscheidungen betreffend diese drei Kinder an deren jeweiligen Erstwunschschulen lassen sich nicht auf die Neuregelungen, die die Verordnung über die sonderpädagogische Förderung durch Verordnung vom 4. April 2012 (GVBl. Seite 121) mit Rückwirkung zum 1. März 2012 erfahren hat, stützen: Danach ist nunmehr in § 34 Abs. 1 SoPädVO die Zuständigkeit des Aufnahmeausschusses auf die Fälle des „§ 33 Abs. 1 und 2“ beschränkt und nach Absatz 2 ein neuer Absatz 3 eingefügt, der den Fall der Übernachfrage betrifft und die Zuständigkeit der Schulaufsichtsbehörde „über die Aufnahme der grundsätzlich aufnahmefähigen Schülerinnen und Schüler“ regelt. Von einer bloßen „Konkretisierung“ des § 37 Abs. 3 SchulG, der hier allein die Zuständigkeit der Schulaufsichtsbehörde rechtfertigen könnte, wie vorstehend unter Hinweis auf § 4 Abs. 1 AZG i.V.m. Nr. 16 Abs. 1 letzter Halbsatz des Allgemeinen Zuständigkeitskatalogs dargelegt, kann insoweit nicht gesprochen werden. Vielmehr steht die Neuregelung in direktem Widerspruch zu der gesetzlichen Vorgabe, bei beabsichtigten Ablehnungsentscheidungen einen Ausschuss einzurichten, der die Erziehungsberechtigten und die Schule anhört.

Anders als die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (ausweislich ihres Vorbringens in dem Verfahren VG 14 L 108.12) annimmt, gilt § 37 Abs. 3 SchulG auch und gerade für den Fall, dass die Schulleitung die Möglichkeit der angemessenen Förderung eines Bewerbers deswegen nicht bejahen kann, weil die Höchstzahl der für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf zur Verfügung stehenden Schulplätze - gemäß § 20 Abs. 1 Satz 2 SoPädVO bis zu vier Kinder pro Klasse - nicht ausreicht, um alle Bewerber aufzunehmen, sodass sich eine Auswahlentscheidung zugunsten eines Kindes automatisch als Ablehnung eines anderen darstellt. Diese Situation lässt sich ohne Weiteres unter das in § 37 Abs. 3 Satz 1 SchulG beschriebene Nichtvorhandensein der organisatorischen Möglichkeiten für eine angemessene Förderung subsumieren. Entsprechendes hat die Kammer bereits in ihrem Beschluss vom 1. August 2011 im Verfahren VG 14 L 157.11 (Beschlussabdruck Seite 5) betreffend die Carl-Zeiss-Oberschule ausgeführt: „… kann der Aufnahmeausschuss seine Funktion, im Falle der Übernachfrage unter Wahrung des Gehörs der Erziehungsberechtigten eine ermessenfehlerfreie Auswahlentscheidung über die Vergabe vorhandener Förderbedarfsplätze vorzubereiten (vgl. dazu auch auf die Verwaltungsvorschrift Schulen Nr. 15/2010 vom 26. Oktober 2010 unter „Verfahrensgrundsätze“)…“.

Wäre die Ablehnung eines Bewerbers mit sonderpädagogischem Förderbedarf wegen Übernachfrage an der von diesem gewünschten Schule nicht nach den Regularien des § 37 Abs. 3 SchulG, sondern anhand von § 54 SchulG zu beurteilen, würde dies im Übrigen den allein auf § 37 Abs. 3 SchulG Bezug nehmenden, in § 6 Abs. 2 Satz 1 Sek I-VO formulierten Aufnahmevorrang von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Frage stellen.

16Die der für das Schulwesen zuständigen Senatsverwaltung in § 39 SchulG erteilte Verordnungsermächtigung, die in der Nummer 3 die „ Bildung, Zusammensetzung, Aufgaben und Empfehlungskriterien von Ausschüssen“ betrifft, erlaubt deshalb durchaus eine spezielle Regelung für den Fall der Übernachfrage einer bestimmten Schule durch Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, gilt jedoch nur im Rahmen der Vorgaben des § 37 Abs. 3 SchulG und gestattet es nicht etwa, dessen Geltung insoweit zu suspendieren.

Im Übrigen ist auch die in § 37 Abs. 3 SchulG enthaltene Vorgabe, das Einvernehmen mit der zuständigen Schulbehörde - dem Bezirksamt - herzustellen, nicht in der Neuregelung berücksichtigt.

Wegen Verstoßes gegen § 37 Abs. 3 SchulG sind die betreffenden Abänderungen der Verordnung über die sonderpädagogische Förderung vom 19. Januar 2005 (GVBl. Seite 57), die zuvor zuletzt durch Verordnung vom 18. Februar 2011 (GVBl. Seite 70) geändert worden war, unwirksam und die darauf gestützten Ablehnungsentscheidungen bezüglich der erwähnten drei Kinder an deren Erstwunschschulen rechtswidrig. Die zieht die Fehlerhaftigkeit der Zuweisung an die Solling-Schule nach sich.

c) Ungeachtet dessen, dass der Fehler hier nicht bei der für das vorliegende Vergabeverfahren zuständigen bezirklichen Schulbehörde lag, die im Vorfeld selbst Bedenken gegen die Neuregelung artikuliert hatte, ist der Antragsgegner wegen der nach außen einheitlichen Verantwortung des Landes Berlin gehalten, den Fehler der Vergabe zu weniger Plätze an Regelbewerber durch die Aufnahme eines Kindes, das aus Kapazitätsgründen mit seiner Bewerbung gescheitert ist, zu kompensieren.

3. Die Antragsteller können daher beanspruchen, dass die Antragstellerin zu 1) in die Solling-Schule aufgenommen wird. Der erforderliche Anordnungsgrund folgt daraus, dass das Schuljahr 2012/2013 in Kürze beginnt und es nicht zumutbar ist, dass die Antragstellerin zu 1) bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens eine andere Schule besucht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 Satz 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 52 Abs. 1 und 2, § 53 Abs. 3 GKG.