OLG München, Beschluss vom 15.05.2013 - OLG Ausl. 31 Ausl. A 442/13 (119/13)
Fundstelle
openJur 2014, 6154
  • Rkr:
Strafrecht
Art. 23 GG; § 73 Satz 2 IRG; Art. 6 EUV

1. Bei der Vollstreckung Europäischer Haftbefehle prüfen deutsche Behörden und Gerichte weiterhin in Einzelfall, ob die Erledigung der Auslieferung zu den in Art. 6 EUV enthaltenen Grundsätzen in Widerspruch stände (§ 73 Satz 2 IRG; Abgrenzung zu EuGH – Große Kammer –, Urt. v. 29.01.2013 – C 396/11 „Radu“ Tz. 36 sowie Urt. v. 26.02.2013 – C-399/11 „Melloni“ Tz. 63; Anschluss an BVerfG – 1. Senat –, Urt. v. 24.03.2013 – 1 BvR 1215/07 Tz. 91).

2. Ein Abwesenheitsverfahren nach bulgarischem Recht, in dem eine Bewährungsmaßnahme durch eine Freiheitsstrafe ersetzt wird, steht nicht in Widerspruch zu den in Art. 6 EUV enthaltenen Grundsätzen, wenn der abwesende Verurteilte persönlich geladen und ihm ein Pflichtverteidiger bestellt wurde.

Tatbestand

Gegen den Verfolgten besteht Europäischer Haftbefehl der Regionalen Staatsanwaltschaft V./Bulgarien zum Zweck der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von 10 Monaten wegen Trunkenheit im Verkehr. Wegen der Tat wurde gegen den Verfolgten zunächst nur eine Bewährungsmaßnahme gemäß Art. 42a bulgarisches StGB verhängt. Nachdem der Verfolgte der Bewährungsmaßnahme nicht nachkam, ersetzte das Bezirksgericht V./Bulgarien durch Beschluss die Bewährungsmaßnahme gemäß Art. 43a Nr. 2 bulgarisches StGB durch eine Freiheitsstrafe von 10 Monaten. Das Verfahren vor dem Bezirksgericht V./Bulgarien fand in Abwesenheit des Verurteilten statt, der persönlich geladen worden und dem ein Pflichtverteidiger bestellt war. Der Senat hat die Auslieferung für zulässig erklärt.

Aus den Gründen

§ 83 Nr. 3 IRG steht der Auslieferung nicht entgegen. Der Senat hat keinen Anhaltspunkt dafür, dass die ursprüngliche Verurteilung wegen Trunkenheit im Verkehr zu einer „Strafe Maßregel der Besserung und Sicherung“ – gemeint sein dürfte eine Bewährungsmaßnahme nach Art. 42a bulgarisches StGB – in Abwesenheit des Verfolgten erfolgte. Der Beschluss, die Bewährungsmaßnahme durch eine Freiheitsstrafe zu ersetzen (in deutscher Sicht die Bewährung zu widerrufen), ist von dem Urteil zu unterscheiden, in dem die Bewährungsmaßnahme ausgesprochen worden ist und das weiterhin die maßgebliche Grundlage eines Ersuchens um Auslieferung zur Strafvollstreckung nach Bewährungswiderruf bildet, indem es den Schuldspruch enthält und die Möglichkeit der Ersetzung der Bewährungsmaßnahme durch eine Freiheitsstrafe begründet (vergleiche OLG Celle, Beschl. v. 14.03.2012 – 1 Aus 4/12, Juris Rdn. 12; KG Berlin, Beschl. v. 28.07.2012 – (4) 151 AuslA 109/12 (205/12), Juris Rdn. 9; siehe aber auch OLG Stuttgart, Beschl. v. 28.01.2005 – 3 Ausl. 76/03, StV 2005, 284).

In derartige Fällen bemisst sich die Zulässigkeit der Auslieferung vielmehr nach § 73 Satz 2 IRG (OLG Celle und KG, je aaO.), wonach Rechtshilfe innerhalb der Europäischen Union unzulässig ist, wenn ihre Erledigung zu den in Art. 6 EUV enthaltenen Grundsätzen im Widerspruch stünde, was im Einzelfall zu prüfen ist.

§ 73 Satz 2 IRG ist weiterhin anwendbares deutsches Recht.

Allerdings hat die Große Kammer des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) in ihren Urteilen vom 29.01.2013 – C-396/11 „Radu“ und vom 26.02.2013 – C-399/11 „Melloni“ ausgesprochen, dass ein Mitgliedstaat die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nur aus den in Art. 3, 4 und 4a des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl (RbEuHb) genannten Gründen ablehnen könne (Urt. v. 29.01.2013 – C 396/11 „Radu“ Tz. 36) und die Ablehnung nicht mit gegenüber der Charta der Grundrechte der Europäischen Union weiterreichendem nationalen Verfassungsrecht begründet werden dürfe (Urt. v. 26.02.2013 – C-399/11 „Melloni“ Tz. 63). Damit könnte der EuGH auch ausgesprochen haben, dass nationale menschenrechtliche Ablehnungsgründe, wie sie § 73 Satz 2 IRG begründet, unzulässig seien. Namentlich könnte der EuGH der von Generalanwältin Sharpston vertretenen Auffassung eine Absage erteilt haben, im Hinblick auf Art. 6 EUV, Art. 1 Abs. 3 RbEuHb sei die Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls möglich, wenn nachgewiesen werde, dass die Menschenrechte der Person, die übergeben werden solle, verletzt worden seien oder in Zukunft verletzt würden (Schlussanträge v. 18.10.2012 – C 296/11 „Radu“ Tz. 97).

Daraus würde aber nicht folgen, dass § 73 Satz 2 IRG kraft Vorrangs des Unionsrechts unanwendbar wäre.

Zwar ist nationales Recht rahmenbeschlusskonform auszulegen. Jedoch führt diese Pflicht nicht dazu, dass eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts geboten wäre (EuGH – Große Kammer –, Urt. v. 16.06.2005 – C-105/03 „Pupino“, Slg. 2005 I-5285 Tz. 47). Im Übrigen ist eine unmittelbare Wirkung von Rahmenbeschlüssen jedenfalls bis zum 01.12.2014 ausgeschlossen (Art. 34 Abs. 2 Satz 2 Buchstabe b) Satz 2 EUV in der Fassung des Vertrags von Amsterdam, Art. 9, Art. 10 Abs. 1, Abs. 3 Protokoll über die Übergangsbestimmungen zum Vertrag von Lissabon) und auch nach diesem Zeitpunkt zweifelhaft, soweit sie sich zum rechtlichen Nachteil Betroffener auswirkt.

Weiterhin dürfen Entscheidungen des EuGH im Sinne eines kooperativen Miteinanders zwischen diesem und den nationalen Gerichten keine Lesarten unterlegt werden, nach denen sie offensichtlich als ultra-vires-Akte zu beurteilen wären oder Schutz und Durchsetzung der mitgliedstaatlichen Grundrechte in einer Weise gefährdeten, dass dies die Identität der durch das Grundgesetz errichteten Verfassungsordnung in Frage stellte (BVerfG – 1. Senat –, Urt. v. 24.03.2013 – 1 BvR 1215/07 Tz. 91). Hiernach darf dem EuGH nicht unterstellt werden, er wolle nationale Gerichte und Behörden zwingen, Europäische Haftbefehle auch dann zu vollstrecken, wenn sie oder die strafrechtlichen Verfahren, die ihnen zugrunde liegen, nachweislich auf einer Verletzung von Rechten beruhen, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union oder der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind. Staaten dürfen nicht die Hand zu nachweislichen Menschenrechtsverletzungen anderer Staaten reichen, auch und gerade nicht innerhalb der Europäischen Union, die eine Rechts- und Wertegemeinschaft ist, und auch nicht unter dem Deckmantel der gegenseitigen Anerkennung. Wäre dies anders, so würde der Senat im Hinblick auf Art. 6 EUV die ultra-vires-Frage sowie im Hinblick auf Art. 23 GG die Frage der Identität der deutschen Verfassungsordnung aufgeworfen sehen, was zur Vorlage an das Bundesverfassungsgericht zwänge (BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 u. a., Tz. 241, BVerfGE 123, 267).

Die sonach weiterhin gebotene Prüfung am Maßstab des § 73 Satz 2 IRG führt vorliegend aber nicht zur Unzulässigkeit der Auslieferung. Im bulgarischen Verfahren der Ersetzung der Bewährungsmaßnahme durch die Freiheitsstrafe ist der Verfolgte persönlich geladen worden, und es ist ihm ein Pflichtverteidiger bestellt worden. Damit ist rechtliches Gehör gewährt und ein faires Verfahren gewährleistet worden. Auch nach deutschem Recht ist eine persönliche Anhörung des Verurteilten beim Bewährungswiderruf nicht zwingend (vgl. § 453 Abs. 1 Sätze 2 und 3 StPO). In der Sache erscheint die Ersetzung nicht schlechterdings willkürlich oder krass unverhältnismäßig. Insbesondere knüpft sie nicht schlicht an die unterlassene polizeiliche Anmeldung nach Wohnungswechsel an. Vielmehr beinhaltet die Bewährungsmaßnahme der obligatorischen Meldung an der gegenwärtigen Anschrift nach Art. 42a Abs. 2 Nr. 1 bulgarisches StGB, dass der Verurteilte dem zuständigen Bewährungshelfer unterstellt wird und sich bei ihm melden muss, Art. 42b Abs. 1 bulgarisches StGB. Entzieht sich aber ein Verurteilte der Bewährungsaufsicht, so verstößt ein Bewährungswiderruf nicht gegen den europäischen ordre public im Sinne von § 73 Satz 2 IRG.

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