FG Münster, Urteil vom 22.08.2013 - 3 K 711/13 Kg
Fundstelle
openJur 2013, 37494
  • Rkr:
Tenor

Die Bescheide vom 30.11.2012 und vom 30.01.2013 sowie die Einspruchsentscheidung vom 06.02.2013 werden aufgehoben; die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin Kindergeld für ihren Sohn L ab August 2012 zu gewähren.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs der Klägerin abwenden, soweit nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.

Tatbestand

Streitig ist, ob der Klägerin Kindergeld für ihren Sohn L ab August 2012 zusteht.

L wurde am 02.05.1988 geboren. Er besuchte zunächst die Gesamtschule der Stadt I und schloss diese im Juli 2007 ab. Ab 01.07.2007 rief ihn das Kreiswehrersatzamt G zum Grundwehrdienst ein. Im April 2008 war er bei der Firma U KG nichtselbständig tätig. Anschließend studierte er vom 01.10.2008 an der Universität A Elektrotechnik, Informatik und Mathematik. Zum 30.09.2009 ist er exmatrikuliert worden; auf die Exmatrikulationsbescheinigung wird Bezug genommen, Blatt 133 der Kindergeldakte.

Am 01.08.2009 begann L eine Ausbildung als Elektrotechniker mit Fachrichtung/Schwerpunkt Energie- und Gebäudetechnik bei der Firma Elektro C GmbH in R. Wegen der Einzelheiten wird auf den Berufsausbildungsvertrag Bezug genommen, Blatt 109 der Kindergeldakte. Am 15.06.2012 bestand er die Gesellenprüfung im Ausbildungsberuf Elektrotechniker mit der Fachrichtung Energie- und Gebäudetechnik; auf den Gesellenbrief wird Bezug genommen, Blatt 160 der Kindergeldakte.

Vom 18.06.2012 bis zum 31.07.2012 war L als Elektroniker bei seinem Ausbildungsbetrieb, der Firma Elektro C GmbH als Arbeitnehmer beschäftigt; es handelte sich um einen befristeten Arbeitsvertrag, auf den wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird; Blatt 161 der Kindergeldakte.

Bereits am 29.02.2012 hatte L mit der Firma Elektro C GmbH einen Vertrag zur Durchführung der Praxisphase im Rahmen des praxisintegrierten Studiengangs "Mechatronik/Automatisierungstechnik" an der Fachhochschule F mit Studienort T abgeschlossen. In der Präambel des Vertrags heißt es, dass im Rahmen des Bachelorstudiengangs "Mechatronik/Automatisierungstechnik" an der Fachhochschule F, Studienort T, in Kooperation mit der Elektro C GmbH eine wissenschafts- und praxisorientierte berufliche Bildung vermittelt werde. Die Ausbildung erfolge im blockweisen Wechsel von betrieblichen Praxisphasen (28 Wochen/Jahr) und Theoriephasen (24 Wochen/Jahr). Dazu beabsichtige L an der Fachhochschule F zum Wintersemester 2012 ein Studium der Fachrichtung "Mechatronik/Automatisierungstechnik" aufzunehmen mit dem Studienabschluss "Bachelor of Engineering". Gegenstand des Vertrags sei die Durchführung der Praxisphase innerhalb des obengenannten Studiengangs gemäß der geltenden Prüfungsordnung sowie dem Hochschulgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen.

In § 1 Abs. 1 des Vertrags verpflichtet sich L dementsprechend, das Studium aufzunehmen, gewissenhaft für die Dauer der Regelstudienzeit zu betreiben und zum Abschluss zu führen.

Nach § 1 Abs. 2 des Vertrags wird L im Rahmen der Praxisphasen innerhalb des Studiengangs zur Vermittlung von Fertigkeiten und Kenntnissen sowie zur angeleiteten und selbständigen Lösung von Aufgabenstellungen in dem Betrieb eingesetzt.

Ein Arbeits- oder Ausbildungsverhältnis werde durch diesen Vertrag nicht begründet (§ 1 Abs. 3 des Vertrags).

L erhält nach § 2 des Vertrags von der Firma Elektro C GmbH eine finanzielle Unterstützung gestaffelt nach Semestern in Höhe von monatlich 766 Euro im 1. und 2. Semester, 804 Euro im 3. und 4. Semester, 861 Euro im 5. und 6. Semester sowie 935 Euro im 7. Semester.

Die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit während der Praxisphasen beträgt nach § 3 Abs. 1 des Vertrags 37 Stunden ausschließlich der Pausen. L hat an 30 Tagen im Jahr Anspruch auf vergütete Freistellung. Die Freistellung soll möglichst in zusammenhängenden Blöcken während der vorlesungsfreien Zeit im Rahmen des Studiengangs genommen werden. Während der Praxisphasen wird er für die Teilnahme an jeweils einem Feedback-Tag der Hochschule pro Semester freigestellt.

Das Vertragsverhältnis beginnt mit dem 01.08.2012 und endet automatisch mit Ablauf der Regelstudienzeit am 28.02.2016 (§ 13 Abs. 1 des Vertrages).

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Vertrag vom 29.02.2012 Bezug genommen, Blatt 162 ff. der Kindergeldakte.

Mit Bescheid vom 30.11.2012 hob die Familienkasse S die Festsetzung des Kindergelds ab Juli 2012 auf. L habe eine erste Berufsausbildung bzw. ein Erststudium abgeschlossen und befinde sich aktuell in einer weiteren Berufsausbildung. Da L daneben einer Erwerbstätigkeit nachgehe, könne er gemäß § 32 Abs. 4 Sätze 2 und 3 Einkommensteuergesetz (EStG) nicht mehr berücksichtigt werden. Lediglich eine Erwerbstätigkeit mit bis zu 20 Stunden regelmäßiger wöchentlicher Arbeitszeit, Ausbildungsdienstverhältnisse oder geringfügige Beschäftigungsverhältnisse nach § 8 und § 8a des Vierten Buches Sozialgesetzbuch seien nicht zu berücksichtigen. Kindergeld sei für den Zeitraum von Juli 2012 bis November 2012 in Höhe von 920 Euro überzahlt worden. Dieser Betrag sei nach § 37 Abs. 2 Abgabenordnung (AO) zu erstatten. Wegen der Einzelheiten wird auf den Bescheid vom 30.11.2012 Bezug genommen, Blatt 169 der Kindergeldakte.

Die Klägerin legte Einspruch ein. Mit Bescheid vom 30.01.2013 forderte die Familienkasse S Kindergeld von Dezember 2012 bis Januar 2013 in Höhe von 368 Euro zurück, da für diesen Zeitraum Kindergeld für L gezahlt worden sei, obwohl die Festsetzung des Kindergelds mit Bescheid vom 30.11.2012 ab Juli 2012 aufgehoben worden sei. Die Familienkasse S wies darauf hin, dass der Bescheid nach § 365 Abs. 3 Satz AO Gegenstand des anhängigen Einspruchsverfahrens werde. Wegen der Einzelheiten wird auf den Bescheid vom 30.01.2013 Bezug genommen.

Die Familienkasse S wies den Einspruch als unbegründet zurück. Nach Abschluss einer erstmaligen Berufsausbildung und eines Erststudiums werde ein Kind in den Fällen des Satzes 1 Nr. 2 von § 32 Abs. 4 ESt nur berücksichtigt, wenn das Kind keiner Erwerbstätigkeit nachgehe bzw. die Erwerbstätigkeit maximal 20 Stunden wöchentlich betrage.

Ein Studium stelle ein Erststudium im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG dar, wenn es sich um eine Erstausbildung handele. Es dürfe ihm kein anderes durch einen berufsqualifizierenden Abschluss beendetes Studium bzw. keine andere abgeschlossene nicht akademische Berufsausbildung vorangegangen sein. Das gelte auch in den Fällen, in denen während eines Studiums eine Berufsausbildung abgeschlossen werde, unabhängig davon, ob die beiden Ausbildungen sich inhaltlich ergänzten. L habe am 15.06.2012 eine Berufsausbildung zum Elektroniker erfolgreich abgeschlossen. Neben dem Studium stehe L seit dem 18.06.2012 in einem Beschäftigungsverhältnis mit einer Arbeitszeit von mehr als 20 Stunden wöchentlich. Die Grenze des § 32 Abs. 4 Satz 3 EStG von 20 Stunden wöchentlich werde damit überschritten. Wegen der Einzelheiten wird Bezug genommen auf die Einspruchsentscheidung vom 06.02.2013.

Am 30.01.2013 ging bei der Familienkasse die Erklärung zum Ausbildungsverhältnis ein. Darin heißt es, L sei in Berufsausbildung als Dualstudent Mechatonik/Automatisierungstechnik BA, diese Angaben sind durch den Ausbildungsbetrieb Elektro C GmbH bestätigt. Wegen der Einzelheiten wird auf die Erklärung Bezug genommen, Blatt 181 der Kindergeldakte.

Mit der Klage trägt die Klägerin vor, L habe ab 01.08.2012 ein duales Studium aufgenommen. In der Praxisphase übe er den praktischen Teil seines Studiums in seinem ehemaligen Ausbildungsbetrieb aus. Das duale Studium zeichne sich dadurch aus, dass der Kläger drei Monate studiere und danach im dreimonatigen Wechsel im Betrieb arbeite. Das duale Studium ende mit dem Bachelorabschluss. Es sei nicht zutreffend, dass L neben seinem Studium eine mehr als 20stündige Beschäftigung ausübe. Die Studienphase von 3 Monaten wechsle mit der Praxisphase von 3 Monaten ab. Dem dualen Studium sei es immanent, dass die Studien- mit den Praxisphasen wechselten, sodass im Rahmen der Praxisphase, die 28 Wochen im Jahr stattfinde, keine Tätigkeit von mehr als 20 Stunden in der Woche ausgeübt werde. Je Kalenderwoche würden 37 Stunden pro Woche abzüglich 30 Tagen Urlaub/Freistellungsanspruch innerhalb der Praxisphase ausgeübt. Hieraus errechne sich bezogen auf eine Durchschnittswoche eine Wochenarbeitszeit von 16,96 Wochenstunden.

Im Übrigen werde eine Erwerbstätigkeit in § 32 Abs. 4 Sätze 2 und 3 EStG außerdem dann als unschädlich bezeichnet, wenn es sich nach Abschluss einer Berufsausbildung um ein Erststudium handele und diese Erwerbstätigkeit im Rahmen eines Ausbildungsverhältnisses ausgeübt werde.

Im Klageverfahren legt die Klägerin ein Schreiben der Firma Elektro C vor überschrieben mit "FH F - Vereinbarung zur Durchführung des praxisintegrierten Studiums". Die Firma Elektro C GmbH bescheinigt, dass L im Rahmen des praxisintegrierten Bachelorstudiengangs Mechatronik/Automatisierung am Studienort T die im Rahmen der Praxisphase(n) erforderliche betriebliche Praxis im Unternehmen der Elektro C GmbH erhalte, und zwar vom 01.08.2012 bis 28.02.2016. Auf die Bescheinigung vom 22.02.2012 wird Bezug genommen, Blatt 58 der Gerichtsakte. In dieser Erklärung sind weitere Erklärungen von L enthalten sowie von der Fachhochschule F. Dort ist auch das praxisintegrierte Studium erläutert, wonach jedes Studiensemester im praxisintegriertem Studium in eine vorangehende Praxisphase (11 Wochen) und eine unmittelbar anschließende Theoriephase (12 Wochen) geteilt ist. In den Praxisphasen eines jeden Studiensemesters sei eine spezifische betriebliche Praxis erforderlich sowie ein Selbststudium mit schriftlichen oder elektronischen Studienmaterialien. Die betriebliche Praxis müsse so ausgestaltet sein, dass Studien- und Prüfungsleistungen für das praxisintegrierte Studium gewährleistet seien. Insbesondere sei sicherzustellen, dass der Studierende

"5. In Ausbildung oder Praktikum oder Berufstätigkeit die Kenntnisse, Fertigkeiten, Fähigkeiten in beruflichen Erfahrungen vermittelt werden, die zum Erreichen des Studienziels erforderlich sind. Die/Der Studierende muss in diesem Rahmen auch über die Praxismodule hinaus für Tätigkeiten im ingenieurwissenschaftlichen Kontext eingesetzt werden."

Die Klägerin beantragt,

den Ablehnungsbescheid vom 30.11.2012 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 30.01.2013 sowie die Einspruchsentscheidung vom 06.02.2013 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin Kindergeld für L ab August 2012 zu gewähren.

Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.

Die Berichterstatterin hat mit Schreiben vom 01.08.2013 auf das rechtskräftige Urteil des Senats vom 14.03.2013 (3 K 2620/12 Kg, EFG 2013, 1055) hingewiesen.

Der Senat entscheidet ohne mündliche Verhandlung, da die Beteiligten übereinstimmend auf mündliche Verhandlung verzichtet haben.

Gründe

Die Klage ist begründet.

Die Ablehnung der Gewährung von Kindergeld ab August 2012 sowie die Rückforderung von Kindergeld für den Zeitraum August 2012 bis Januar 2013 war rechtswidrig.

Nach § 63 Abs. 1 Satz 2 EStG i. V. m. § 32 Abs. 4 EStG werden Kinder berücksichtigt, wenn sie noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet haben und für einen Beruf ausgebildet werden (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2a EStG). Nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG wird nach Abschluss einer erstmaligen Berufsausbildung und eines Erststudiums ein Kind in den Fällen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG nur berücksichtigt, wenn das Kind keiner Erwerbstätigkeit nachgeht. Nach § 32 Abs. 4 Satz 3 EStG sind eine Erwerbstätigkeit mit bis zu 20 Stunden regelmäßiger wöchentlicher Arbeitszeit, ein Ausbildungsdienstverhältnis oder ein geringfügiges Beschäftigungsverhältnis im Sinne der §§ 8 und 8a des 4. Buches Sozialgesetzbuch (SGB) unschädlich.

Im Streitfall liegt für Zwecke des Kindergelds ein als Ausbildungsdienstverhältnis zu qualifizierendes Vertragsverhältnis zwischen dem Sohn der Klägerin und der Firma Elekro C GmbH vor, sodass Kindergeld weiter zu gewähren ist, obwohl das Kind einer Erwerbstätigkeit nachgeht. Denn zwischen dem Unternehmen und dem Sohn der Klägerin ist ein entsprechender Vertrag abgeschlossen worden; darauf dass es in § 1 Abs. 3 des Vertrags heißt, dass kein Arbeits- oder Ausbildungsdienstverhältnis begründet werde, kommt es nicht an, soweit es um die Frage geht, ob der Klägerin Kindergeld zusteht. Im Streitfall handelt es sich um einen sog. dualen Studiengang, der grundsätzlich auch nach der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des EStG (DA-FamEStG) zu berücksichtigen ist; DA-FamEStG 63.4.3.2 Abs. 1 Satz 3.

Im Streitfall ist ausweislich des Vertrags vom 29.02.2012 Gegenstand des Vertrags auch das Studium. Dies ergibt sich insbesondere aus § 1 und § 5 des Vertrags.

Ob, wie in DA-FamEStG 63.4.3.2 Abs. 2 ausgeführt, die Annahme eines Ausbildungsdienstverhältnisses ausscheidet, wenn es bei einem berufsbegleitenden und berufsintegrierten dualen Studiengang an einer Ausrichtung der Tätigkeit für den Arbeitgeber auf den Inhalt des Studiums fehlt, braucht der Senat nicht zu entscheiden. Denn die Ausrichtung der berufspraktischen Tätigkeit hat jedenfalls der Ausbildungsbetrieb mit Bescheinigung vom 22.02.2012 bestätigt.

Der Senat kann danach offen lassen, ob, wie die Klägerin vorträgt, im Streitfall die durchschnittliche Wochenarbeitszeit unter 20 Stunden liegt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.

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