SG Hildesheim, Urteil vom 19.02.2013 - S 11 U 99/10
Fundstelle
openJur 2013, 21398
  • Rkr:
Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Höhe des nach einem Arbeitsunfall an die Klägerin zu zahlenden Verletztengeldes.

Die 1966 geborene verheiratete Klägerin war seit 2004 als Änderungsschneiderin selbständig erwerbstätig und erzielte Jahresgewinne in unterschiedlicher Höhe (2006: 820,- Euro; 2007: 2.079,- Euro; 2008: 1.063,- Euro), wobei sie 2008 nur etwa sechs Monaten selbständig erwerbstätig war. Daneben betreute sie ihre 1993 und 1995 geborenen Kinder und pflegte seit etwa 2001 ihre 1913 geborene Großmutter G.. Ab Oktober 2008 nahm H. neben der Hilfe ihrer Enkelin auch die Grundpflege eines Pflegedienstes in Anspruch. H. war von der Pflegekasse I. bis 30.06.2008 die Pflegestufe I, danach bis 31.12.2008 die Pflegestufe II und ab 01.01.2009 bis zu ihrem Ableben im Februar 2009 die Pflegestufe III zuerkannt. H. erhielt von der Pflegekasse im Jahr 2008 Pflegegeld in Höhe von insgesamt 4.388,99 Euro. Von diesem Betrag erhielt die Klägerin - die ihre Großmutter zunächst unentgeltlich gepflegt hatte - im Jahr 2008 durchgängig monatlich 322,78 Euro. Die Klägerin wurde von der Pflegekasse bei der J. als nichterwerbsmäßig tätige Pflegeperson (§ 19 Elftes Buch Sozialgesetzbuch - SGB XI) rentenversichert.

Am 20.09.2009 erlitt die Klägerin bei ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit für den K. bei der Fahrt mit einem Motorboot auf der Weser eine Berstungsfraktur des 12. Brustwirbelkörpers, die im Anschluss operativ behandelt wurde. Die Klägerin ist seither arbeitsunfähig.

Mit Bescheid vom 14.01.2010 bewilligte der Beklagte für den Zeitraum vom 21.09.2009 bis 12.01.2010 ein auf Grundlage des Selbständigeneinkommens ermitteltes kalendertägliches Verletztengeld von 4,73 Euro (insgesamt 529,76 Euro). Auf den Widerspruch der Klägerin bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 18.03.2010 für den Zeitraum vom 13. bis 19.01.2010 ein weiteres kalendertägliches Verletztengeld von 4,73 Euro (insgesamt weitere 33,11 Euro). Mit Bescheid vom 31.08.2010 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Hiergegen richtet sich die Klage.

Die Klägerin ist der Meinung, dass Grundlage der Verletztengeldberechnung nicht nur das Selbständigeneinkommen, sondern auch das an H. gezahlte Pflegegeld von 4.388,99 Euro sein müsse. Sie sei bei der Pflege einer Erwerbstätigkeit nachgegangen. Die Pflegetätigkeit sei ihr Zubrot zu ihrer erst im Aufbau befindlichen selbständigen Tätigkeit gewesen. Auch im Rahmen des Familien- und Prozesskostenhilferechts werde weitergeleitetes Pflegegeld teilweise als Einkommen abgesehen. Hieraus ergebe sich nach Abzug der von dem Beklagten gezahlten Beträge ein Restanspruch in Höhe von 878,22 Euro.

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten unter Abänderung der Bescheide vom 14.01.2010 und 18.03.2010 sowie des Widerspruchsbescheides vom 31.08.2010 zu verurteilen, an sie für den Zeitraum vom 20.09.2009 bis 19.01.2010 ein höheres Verletztengeld unter Anrechnung der bereits erbrachten Zahlungen, mindestens jedoch weitere 878,22 Euro, zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält ihre Entscheidung für richtig. Das von H. an die Klägerin gezahlte Pflegegeld sei kein Arbeitsentgelt iSd § 14 Abs 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV).

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen, die vorgelegen haben und zur Entscheidungsfindung herangezogen wurden.

Gründe

Die Klage ist als Anfechtungs- und Leistungsklage zulässig.

Streitgegenstand sind die Bescheide vom 14.01.2010 und 18.03.2010 in der Gestalt, die sie durch den Widerspruchsbescheid vom 31.08.2010 gefunden haben.

Die Klägerin hat insbesondere auch den Bescheid vom 18.03.2010 rechtzeitig angefochten. Zwar hat die Klägerin den Widerspruch gegen den Bescheid vom 18.03.2010 nicht innerhalb der Monatsfrist des § 84 Abs 1 Satz 1 SGG erhoben. Es gilt jedoch hier gemäß § 84 Abs 2 Satz 3, 67 Abs 2 Satz 1 SGG eine Widerspruchsfrist von einem Jahr ab Bekanntgabe des Bescheides. Die von dem Beklagten in seinem Bescheid vom 18.03.2010 erteilte Rechtsbehelfsbelehrung war unzutreffend, da sie darauf hinwies, dass der Bescheid gemäß § 86 SGG bereits Gegenstand des anhängigen Widerspruchsverfahrens sei. Der Bescheid vom 18.03.2010 änderte allerdings - was § 86 Halbsatz 1 SGG voraussetzt - den Bescheid vom 14.01.2010 nicht ab, sondern bewilligte Verletztengeld für einen weiteren Zeitraum, der den Zeitraum gemäß des Bescheides vom 14.01.2010 nicht berührte. Der Widerspruch der Klägerin ist in ihrem Schreiben vom 31.05.2010 zu sehen, in dem sie an die Bescheidung ihres Widerspruchs erinnert.

Die Klage hat jedoch keinen Erfolg.

Die Bescheide vom 14.01.2010 und 18.03.2010 sind in der Gestalt, den sie durch den Widerspruchsbescheid vom 31.08.2010 gefunden haben, rechtmäßig und verletzten die Klägerin nicht in ihren Rechten.

Die Klägerin hat für den hier allein streitgegenständlichen Zeitraum vom 20.09.2009 bis 19.01.2010 keinen Anspruch auf ein höheres Verletztengeld.

Gemäß § 47 Abs 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) erhalten Versicherte, die Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen erzielt haben, Verletztengeld entsprechend § 47 Abs 1 und 2 des Fünften Buches mit der Maßgabe, dass

1. das Regelentgelt aus dem Gesamtbetrag des regelmäßigen Arbeitsentgelts und des Arbeitseinkommens zu berechnen und bis zu einem Betrag in Höhe des 360. Teils des Höchstjahresarbeitsverdienstes zu berücksichtigen ist,

2. das Verletztengeld 80 vom Hundert des Regelentgelts beträgt und das bei Anwendung des § 47 Abs 1 und 2 des Fünften Buches berechnete Nettoarbeitsentgelt nicht übersteigt.

Nach § 47 Abs 1 Satz 2 SGB VII ist Arbeitseinkommen bei der Ermittlung des Regelentgelts mit dem 360. Teil des im Kalenderjahr vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit […] erzielten Arbeitseinkommens zugrunde zu legen.

§ 47 Abs 1 Satz 3 SGB VII sieht vor, dass die Satzung bei nicht kontinuierlicher Arbeitsverrichtung und -vergütung abweichende Bestimmungen zur Zahlung und Berechnung des Verletztengeldes vorsehen kann, die sicherstellen, dass das Verletztengeld seine Entgeltersatzfunktion erfüllt. Von dieser Satzungsermächtigung hat der Beklagte Gebrauch gemacht. In seiner Satzung vom 15.09.2000 idF des 3. Nachtrages vom 15.12.2006 sieht § 18 Abs 3 vor, dass bei nicht kontinuierlicher Arbeitsverrichtung und Vergütung der Berechnung des Regelentgelts die Verhältnisse aus den letzten drei vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit abgerechneten Entgeltabrechnungszeiträumen zugrunde gelegt werden. Nach Abs 4 ist das Verletztengeld nach billigem Ermessen festzustellen, wenn die nach Absatz 3 berechnete Höhe des Regelentgelts nicht der Ersatzfunktion des Verletztengeldes und der Stellung der Versicherten im Erwerbsleben entspricht. Dabei werden insbesondere die Fähigkeiten, die Ausbildung, die Lebensstellung und die Tätigkeit der Versicherten vor und nach dem Zeitpunkt des Versicherungsfalles berücksichtigt.

Der Begriff des Arbeitseinkommens wird in § 15 Abs 1 Satz 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) definiert: es ist der nach den allgemeinen Gewinnermittlungsvorschriften des Einkommensteuerrechts ermittelte Gewinn aus einer selbständigen Tätigkeit. Nach § 15 Abs 1 Satz 2 SGB IV ist Einkommen als Arbeitseinkommen zu werten, wenn es als solches nach dem Einkommensteuerrecht zu bewerten ist.

§ 14 Abs 1 Satz 1 SGB IV bestimmt, dass Arbeitsentgelt alle laufenden oder einmaligen Einnahmen aus einer Beschäftigung sind, gleichgültig, ob ein Rechtsanspruch auf die Einnahmen besteht, unter welcher Bezeichnung oder in welcher Form sie geleistet werden und ob sie unmittelbar aus der Beschäftigung oder im Zusammenhang mit ihr erzielt werden. § 14 Abs 1 Satz 3 SGB IV legt fest, dass steuerfreie Aufwandsentschädigungen und die in § 3 Nummer 26 und 26a des Einkommensteuergesetzes genannten steuerfreien Einnahmen nicht als Arbeitsentgelt gelten.

Bei Anwendung dieser Grundsätze ist die Entscheidung des Beklagten nicht zu beanstanden.

1. Der Beklagte hat zunächst das Arbeitseinkommen der Klägerin jedenfalls nicht zum Nachteil der Klägerin berechnet.

Auf Grundlage des § 47 Abs 1 Satz 2 SGB VII ergibt sich ein Regelentgelt aus der selbständigen Tätigkeit von 2,95 Euro (1.063,- Euro : 360) und somit für den Zeitraum vom 20.09.2009 bis 19.01.2010 (10 + 90 + 19 Tage = 119 Tage, § 187 Abs 4 SGB VII) ein Verletztengeldanspruch von 280,84 Euro (80% aus 351,05 Euro). Bei Erfüllung der Voraussetzungen des § 18 Abs 3 der Satzung wären die Gewinne aus den Jahren 2006 bis 2008 zu addieren (= 3.962,- Euro) und durch drei zu teilen (= 1.320,67 Euro). Hieraus ergäbe sich ein Regelentgelt von 3,67 Euro und somit ein Verletztengeldanspruch von 349,24 Euro (3,67 Euro x 119 Tage x 80%).

Der Beklagte ist - da er nachvollziehbar, aber gleichwohl ohne rechtliche Grundlage den während sechs Monate Erwerbstätigkeit erzielten Gewinn des Jahres 2008 durch 180 Tage geteilt hat - zu einem Regelentgelt von 4,73 Euro gelangt und hat daher der Klägerin 562,87 Euro bewilligt. Da dieser Betrag sowohl den nach § 47 Abs 1 Satz 2 SGB VII als auch nach §§ 47 Abs 1 Satz 3, 18 Abs 3 der Satzung des Beklagten der Klägerin zustehenden Betrag übersteigt, kann hier dahin stehen, ob es sich bei der selbständigen Erwerbstätigkeit der Klägerin überhaupt um eine nicht kontinuierliche Arbeitsverrichtung und Vergütung im Sinne der Satzungsvorschrift handelte.

2. Dem Beklagten ist aber auch darin zu folgen, dass das an sie von H. weitergereichte Pflegegeld bei der Berechnung des Verletztengeldes unberücksichtigt bleibt.

Das von H. an die Klägerin gezahlte Pflegegeld könnte nur dann berücksichtigt werden, wenn es sich um Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen handelte. Da die Klägerin die Pflegeleistungen keinen Dritten anbot, kommt hier allein die Einordnung als Arbeitsentgelt in Betracht. Dem steht allerdings entgegen, dass § 14 Abs 1 Satz 1 SGB IV als Arbeitsentgelt alle laufenden oder einmaligen Einnahmen aus einer Beschäftigung definiert. Die Klägerin wurde jedoch bei ihrer Großmutter nicht im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses pflegend tätig. Dies ergibt sich aus folgendem:

Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IV ist Beschäftigung die nichtselbstständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Nach Satz 2 dieser Vorschrift sind Anhaltspunkte für eine Beschäftigung eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers.

Diesen Anforderungen wurde die Tätigkeit der Klägerin für ihre Großmutter nicht gerecht.

Zunächst sprechen die tatsächlichen Rahmenbedingungen dagegen, dass die Klägerin die Pflege ihrer Großmutter als Erwerbstätigkeit betrachtet hat. So intensivierte sie nach eigenem Bekunden die Pflege jeweils mit der fortschreitenden Pflegebedürftigkeit ihrer Großmutter - die sich nachfolgend in jeweils höheren Pflegestufen niederschlug -, ohne dass die Höhe der an sie geleisteten Zahlung zu irgendeinem Zeitpunkt angepasst wurde. Ein Erwerbstätiger wird jedoch einen kontinuierlich und jedenfalls über längere Zeit erheblich sinkenden Stundenlohn in aller Regel - entsprechende Vereinbarungen erfolgen nur in besonderen Ausnahmefällen, zB bei einer erheblichen wirtschaftlichen Gefährdung des Arbeitgebers - nicht akzeptieren. Die Akzeptanz eines sinkenden Stundenlohnes steht zudem in Einklang mit dem Umstand, dass die Klägerin ihre Großmutter vor der Weiterleitung des an diese gezahlten Pflegegeldes unentgeltlich pflegte.

Die Pflegetätigkeit der Klägerin im verwandtschaftlichen Umfeld kann aber auch mit Blick auf deren rechtliche Einordnung und die gesetzgeberische Motivation jedenfalls nicht ohne gewichtige gegenteilige Anhaltspunkte, die hier weder vorgetragen noch sonst ersichtlich sind, als Erwerbstätigkeit angesehen werden.

Die Weiterleitung des an einen Pflegebedürftigen gezahlten Pflegegeldes an die zumeist aus dem verwandtschaftlichen Umfeld stammende Pflegeperson stellt - ebenso wie die Aufnahme der Pflegepersonen in die gesetzliche Rentenversicherung - gerade keine Vergütung oder gar vollständige Abgeltung des mit der Pflege verbundenen zeitlichen Aufwandes, sondern lediglich eine finanzielle Anerkennung dar. Die Einordnung als nichterwerbsmäßige Tätigkeit folgt bereits aus der weitgehenden Entkoppelung der Pflegetätigkeiten von den Erwerbstätigkeiten betreffenden Regelungen: das weitergeleitete Pflegegeld ist in bestimmten - von der Klägerin nicht überschrittenen - Grenzen steuerfrei, für Pflegende und Gepflegte beitragsfrei und bei Rentenbezug auch anrechnungsfrei, so dass es auch dann nicht als Erwerbstätigkeit klassifiziert werden kann, wenn die Pflegeperson die Pflege als oder wie eine Erwerbstätigkeit betreibt (Bundessozialgericht [BSG] Urteil vom 31.01.2002 - B 13 RJ 7/01 R; vgl in diesem Sinne auch Landessozialgericht [LSG] Niedersachsen-Bremen Urteil vom 25.05.2004 - L 7 AL 231/02 [juris Rn 24 ff]).

Auch die übereinstimmende Definition nichterwerbsmäßiger Pflegetätigkeit in den §§ 18a Abs 2 Satz 2 Var 2 SGB IV, 3 Satz 2, 34 Abs 2 Satz 4 Nr 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) spricht dafür, die Pflegetätigkeiten in dem von der Klägerin betriebenen Umfang nicht als Erwerbstätigkeit zu betrachten (vgl auch LSG Niedersachsen-Bremen aaO [juris Rn 27]). Da das Pflegegeld für die Pflegestufe II bis zum 30.06.2008 410,- EUR und ab 01.07.2008 420,- EUR und für die Pflegestufe III ab dem 01.07.2008 675,- EUR betragen hat (§ 37 Abs 1 Satz 3 Nr 2 Buchst a und Nr 3 Buchst a Elftes Buch Sozialgesetzbuch [SGB XI]), hat die Klägerin eine Zuwendung von ihrer Großmutter erhalten, die unterhalb der Pflegegeldsätze des § 37 SGB XI gelegen hat. Dabei kann im Einzelnen dahin stehen, ob die Klägerin zeitweise aufgrund ihres Gesundheitszustandes Kombinationspflege erhalten hat, weil die regelmäßige Zahlung stets noch hinter der Höhe des Pflegegeldes für die Pflegestufe I zurückblieb. Selbst wenn - was sich nicht mit ihrem Klagevortrag deckt, aber bei der anderweitigen Belastung der Klägerin durchaus verständlich gewesen wäre - ihr Engagement im Wesentlichen gleich geblieben wäre, hätte sie nach dem Gesetz stets nur Pflege in nichterwerbsmäßigem Umfang geleistet.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 Satz 1 SGG.