OLG Hamm, Beschluss vom 23.02.2012 - 1 Vollz (Ws) 653/11
Fundstelle
openJur 2013, 20876
  • Rkr:
Tenor

Nach Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache werden die Kosten des Verfahrens der Staatskasse auferlegt, die auch die notwendigen Auslagen des Betroffenen zu tragen hat (§ 121 Abs. 2 Satz 2 StVollzG).

Gründe

I.

Der Betroffene befand sich zur Verbüßung einer Freiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt T; er ist am 21.10.2011 von dort in die Justizvollzugsanstalt H verlegt worden.

Mit Beschluss vom 19.10.2011 hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hagen die Leiterin der Justizvollzugsanstalt T verpflichtet, dem Betroffenen aus seinen Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 01.08.2008 Einsicht in seine vollständige bei ihr geführte Krankenakte zu gewähren.

Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Leiterin der Justizvollzugsanstalt T vom 24.11.2011, auf deren Begründung im Einzelnen verwiesen wird.

Das Justizministerium ist der Rechtsbeschwerde der Leiterin der JVA T beigetreten.

II.

Der Rechtsstreit ist in der Hauptsache erledigt, nachdem der Betroffene von der JVA T in die JVA H verlegt worden ist.

Mit seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 01.08.20011 hat der Betroffene beantragt, die Leiterin der JVA T zu verpflichten, ihm Einsicht in die dort über ihn geführten Krankenakten zu gewähren; die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts hat diesem Antrag entsprochen.

Nachdem der Betroffene nunmehr in die JVA H verlegt worden ist, kann die Leiterin der JVA T die begehrte und zugesprochene Akteneinsicht, gegen die sie sich mit ihrer Rechtsbeschwerde wendet, nicht mehr gewähren. Denn gemäß Nr. 60 Abs. 2 der Vollzugsgeschäftsordnung (VGO) sind bei einer Verlegung des Gefangenen die Gesundheitsakten mitzugeben und in der aufnehmenden Justizvollzugsanstalt fortzuführen. Nunmehr wäre daher ein entsprechender Antrag auf Akteneinsicht in die Gesundheitsakten an den nunmehr zur Entscheidung berufenen Leiter der JVA H zu richten.

Die Erledigung entfällt nicht dadurch, dass der Betroffene u.U. seinen Antrag umstellen könnte und das Verfahren gegenüber dem Leiter der aufnehmenden JVA fortzusetzen wäre. Es kann dahinstehen, ob hierfür überhaupt die Voraussetzungen vorlägen, da bei der vorliegenden Fallkonstellation - Rechtsbeschwerde der zur Gewährung von Akteneinsicht verpflichteten Leiterin der JVA T - eine Umstellung des ursprünglichen Klageantrags durch den Betroffenen im Rechtsbeschwerdeverfahren nicht mehr in Betracht kommt.

III.

Nach Erledigung des Rechtsstreits hat das Rechtsbeschwerdegericht in entsprechender Anwendung des § 121 Abs. 2 Satz 2 StVollzG nur noch über die Kosten und Auslagen des gesamten Verfahrens zu entscheiden.

Dies führt unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes dazu, die Kosten des Verfahrens sowie die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse aufzuerlegen.

Die Rechtsbeschwerde der Leiterin der JVA T wäre in der Sache ohne Erfolg geblieben.

Es liegen bereits die Voraussetzungen nicht vor, die es geböten, die Rechtsbeschwerde zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen, § 116 Abs. 1 StVollzG.

Eine Fortbildung des Rechts ist bereits deshalb nicht erforderlich, da sich mehrere obergerichtliche Entscheidungen nach den Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts vom 16.09.1998 - 1 BvR 1130/98 - NJW 1999, 1777 und vom 09.01.2006 - 2 BvR 443/02 -, NJW 2006, 1116, die sich grundlegend mit der Frage der Einsichtnahme in Krankenunterlagen befassen, bereits ebenfalls mit der Frage und den Voraussetzungen der Einsichtnahme von Straf- oder Untersuchungsgefangenen in die sie betreffenden Gesundheitsakten auseinandergesetzt haben, vgl. etwa OLG Brandenburg, Beschluss vom 12.02.2008 - 2 VAs 7/07 -; KG Berlin, Beschluss vom 05.09.2007 - 2/5 Ws 700/06 -, OLG Koblenz, Beschluss vom 20.10.2008 - 2 Ws 448/08 (Vollz) -, jeweils juris.

Entgegen der Auffassung der Leiterin der Justizvollzugsanstalt T ist die Rechtsbeschwerde auch nicht zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen. Die Strafvollstreckungskammer ist mit ihrer Entscheidung weder von der obergerichtlichen Rechtsprechung noch der Rechtsprechung anderer Strafvollstreckungskammern abgewichen.

Die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer ist nicht zu beanstanden.

Die Strafvollstreckungskammer hat zutreffend zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen § 185 Satz 1 StVollzG i.V.m. § 19 BDSG angewendet und erkannt, dass aufgrund dieser Normen ein uneingeschränktes Recht auf Akteneinsicht nicht besteht.

Ebenso hat die Strafvollstreckungskammer zutreffend berücksichtigt, dass bei der Bestimmung des Umfangs des aus § 185 StVollzG folgenden Rechts auf Einsicht in die Gesundheitsakten das Grundrecht des Betroffenen auf Selbstbestimmung und seine personale Würde als Patient zu beachten ist.

Das BVerfG hat in seinem Beschluss vom 09.01.2006 - 2 BvR 443/02 -, NJW 2006, 1116 insoweit bzgl. eines Patienten im Maßregelvollzug ausgeführt:

"Bezogen auf den Zugang zu Krankenunterlagen hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass das Recht auf Selbstbestimmung und die personale Würde des Patienten (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG) es gebieten, jedem Patienten gegenüber seinem Arzt und Krankenhaus grundsätzlich einen Anspruch auf Einsicht in die ihn betreffenden Krankenunterlagen einzuräumen (Beschluss der 1. Kammer des 1. Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 16. September 1998 - 1 BvR 1130/98 -, NJW 1999, S. 1777). Dieses Informationsrecht des Patienten ist zwar von Verfassungs wegen nicht ohne Einschränkungen gewährleistet (BVerfG, a.a.O. ...). Das ändert aber nichts daran, dass es seine Grundlage unmittelbar im grundrechtlich gewährleisteten Selbstbestimmungsrecht des Patienten hat und daher nur zurücktreten muss, wenn ihm entsprechend gewichtige Belange entgegenstehen.

...

Bei der demnach notwendigen Abwägung kommt dem Informationsinteresse des Patienten grundsätzlich erhebliches Gewicht zu. Ärztliche Krankenunterlagen betreffen mit ihren Angaben über Anamnese, Diagnose und therapeutische Maßnahmen den Patienten unmittelbar in seiner Privatsphäre (vgl. BVerfGE 32, 373, 379; 44, 353, 372 ...). Deshalb und wegen der möglichen erheblichen Bedeutung der in solchen Unterlagen enthaltenen Informationen für selbst bestimmte Entscheidungen des Behandelten hat dieser generell ein geschütztes Interesse daran, zu erfahren, wie mit seiner Gesundheit umgegangen wurde, welche Daten sich dabei ergeben haben und wie man die weitere Entwicklung einschätzt ...

Der Untergebrachte kann seinen Arzt und andere Therapeuten nicht frei wählen. Er kann selbst dann nicht nach eigenem Wunsch in ein anderes Behandlungsverhältnis wechseln, wenn ihm jedes Vertrauen zum Therapeuten fehlt und nach seiner Wahrnehmung die Beziehung zerrüttet ist. Auch wo solche Einschätzungen rein subjektiven Charakter haben, ist unter diesen Bedingungen das Selbstbestimmungsrecht des Behandelten durch Verweigerung des Zugangs zu wesentlichen Teilen der eigenen Krankenunterlagen wesentlich intensiver berührt als in einem privatrechtlichen Behandlungsverhältnis, in dem der Betroffene - wie auch der Bundesgerichtshof hervorgehoben hat (BGHZ 85, 327, 329) - sein Selbstbestimmungsrecht dadurch ausüben kann, dass er sich aus dem Behandlungsverhältnis zurückzieht.

...

Die grundrechtliche Gefährdungslage im Maßregelvollzug ist von derjenigen in privatrechtlichen Behandlungsverhältnissen fundamental verschieden. In einem Bereich, der wie der Maßregelvollzug durch ein besonders hohes Machtgefälle zwischen den Beteiligten geprägt ist, sind die Grundrechte der Betroffenen naturgemäß besonderer Gefährdung ausgesetzt. Dies gilt auch in Bezug auf die Führung der Akten und den Zugang zu ihnen. Die Akteneinträge sind als wesentlicher Teil der Tatsachengrundlage für künftige Vollzugs- und Vollstreckungsentscheidungen verfügbar.

Dem erheblichen verfassungsrechtlichen Gewicht, das dem Interesse eines Untergebrachten an den ihn betreffenden Krankenunterlagen zukommt, muss bei der Abwägung mit entgegenstehenden Interessen Rechnung getragen werden."

Diese Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts gelten in gleicher Weise für den Anspruch eines Strafgefangenen auf Einsicht in seine Krankenakten. Wie ein im Maßregelvollzug Untergebrachter kann auch der Strafgefangene seinen Arzt nicht frei wählen; er ist grundsätzlich auf die Behandlung durch die in der Anstalt tätigen Ärzte angewiesen. Daraus folgt, dass seinem Informationsinteresse über den Inhalt der in der Justizvollzugsanstalt über ihn geführten Krankenakten ein besonderes Gewicht zukommt, weil die darin enthaltene Dokumentation über den Gesundheitszustand des Untersuchungsgefangenen regelmäßig eine notwendige Information für die sachgerechte Beratung und Behandlung durch anstaltsfremde Ärzte ist (vgl. OLG Brandenburg, a.a.O. für einen Untersuchungsgefangenen).

Zwar besteht hinsichtlich der Rechtslage im Maßregelvollzug und der im Strafvollzug der Unterschied, dass im Bereich des Strafvollzugs das sich aus dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ergebende Informationsrecht durch Gesetz, nämlich § 185 StVollzG, eingeschränkt worden ist. Allerdings ist die gesetzliche Einschränkung im Lichte der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung und damit wegen des bedeutenden Gewichts der Informationsinteressen des (gefangenen) Patienten eng auszulegen (vgl. auch Arloth, StVollzG, 3. Aufl., § 185 Rdz. 6).

Vorliegend hat der Betroffene dargelegt, dass er Einsicht in die Krankenakten benötigt, um nachvollziehen zu könne, welche Untersuchungen ihm im Hinblick auf die Vielzahl der von ihm näher dargestellten körperlichen Beschwerden zuteil geworden sind und ob ein Antrag auf Konsultation eines externen Mediziners angezeigt sei. Insoweit müsse er prüfen, ob sich aus den Unterlagen des Anstaltsarztes ergäbe, dass seine körperlichen Beschwerden tatsächlich nicht aufgenommen und behandelt worden seien, oder fachärztliche Untersuchungen nicht stattgefunden hätten, weil seine Beschwerden durch den Anstaltsarzt in ihrer Gewichtigkeit falsch bewertet worden seien.

Da er nach seinem Vorbringen gerade auch das mögliche Unterlassen von Untersuchungsmaßnahmen prüfen will und je nach Ergebnis dieser Prüfung Einschaltung externer (Fach-)Ärzte in Erwägung zieht, genügt eine bloße Auskunftserteilung aus den Krankenakten nicht; zur Durchführung seines Begehrens ist er auf die vollständige Einsichtnahme in die gesamte Krankenakte angewiesen. Der Betroffene hat insoweit jedenfalls hinreichend konkret im Sinne des § 185 StVollzG dargelegt, dass und warum er ohne umfassende Einsichtnahme in seine Gesundheitsakte seine Rechte nicht geltend machen kann.

Zur Einschränkung des Akteneinsichtsrechts des Untersuchungsgefangenen können daher allenfalls noch gewichtige Interessen zum Schutz der Persönlichkeitsrechte der in der Justizvollzugsanstalt tätigen Ärzte führen, die vorliegend weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich sind. Soweit die Antragsgegnerin sich darauf beruft, dass das Einsichtsrecht nur die objektivierbaren Befunde und Behandlungstatsachen, nicht aber die sonst fixierten persönlichen Eindrücke und Wertungen des Anstaltsarztes umfassen dürfe, ist die von ihr zitierte ältere Rechtsprechung der Oberlandesgerichte nach den oben zitierten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts überholt und in allgemeiner Form nicht mehr haltbar (vgl. auch Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, 11. Aufl., § 185 Rdz.4; Arloth, StVollzG, 3. Aufl., § 185 Rdz. 6). Das Bundesverfassungsgericht hat bereits in seinem Beschluss vom 16. September 1998 - 1 BvR 1130/98 -, NJW 1999, S. 1777, ausgeführt, dass schon im privatrechtlichen Arzt-Patienten-Verhältnis eine pauschale Beschränkung des Akteneinsichtsrechts auf sogenannte objektive Befunde nicht in Betracht kommt. Zudem ist nicht nachvollziehbar, warum durch die Offenlegung subjektiver Einschätzungen der in der Justizvollzugsanstalt behandelnden Ärzte über das Krankheitsbild des Antragstellers deren Persönlichkeitsrechte verletzt würden. Die Einschätzung des Krankheitsbilds eines Patienten durch den behandelnden Arzt enthält notwendigerweise subjektive Wertungen; in diesem Sinne liegen auch subjektive Wertungen im Kernbereich der medizinischen Tätigkeit. Durch deren Preis- und Weitergabe an Dritte werden die Persönlichkeitsrechte der behandelnden Ärzte regelmäßig selbst dann nicht verletzt, wenn sich deren Einschätzungen im Nachhinein als falsch erweisen (vgl. OLG Brandenburg, a.a.O.).

Sonstige gewichtige Belange oder Interessen, die der Akteneinsicht entgegenstehen könnten, sind von der Antragsgegnerin nicht vorgetragen und auch sonst nicht ersichtlich.

Da somit die Rechtsbeschwerde der Antragsgenerin ohne Erfolg geblieben wäre, waren die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse aufzuerlegen.