VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.10.2012 - 11 S 24/12
Fundstelle
openJur 2013, 15313
  • Rkr:

1. Arbeitnehmer i.S.v. Art. 45 AEUV und damit auch i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügigG/EU (juris: FreizügG/EU 2004) ist auch ein so genannter "geringfügig Beschäftigter" (hier: Reinigungskraft in Bistro mit einer Wochenarbeitszeit von zunächst 5, später 6 Stunden), wenn nicht seine Tätigkeit einen so geringen Umfang hat, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellt. Im Rahmen der danach erforderlichen Gesamtbewertung des betreffenden Arbeitsverhältnisses sind neben der Arbeitszeit und der Höhe der Vergütung auch zu berücksichtigen der Anspruch auf bezahlten Urlaub, die Geltung von Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Anwendung des Tarifvertrags auf den Arbeitsvertrag sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses (wie EuGH, Urteil vom 04.02.2010 - Rs. C-14/09, Genc -; BVerwG, Urteil vom 19.04.2012 - 1 C 10.11 -).

2. Bei der vorzunehmenden wertenden Gesamtbetrachtung sind grundsätzlich auch gesetzliche oder tarifvertragliche Ansprüche - wie Urlaub und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall - zu berücksichtigen, selbst wenn sie vom Arbeitgeber tatsächlich nicht gewährt werden. Etwas anderes kann gelten, wenn aus der Nichterfüllung der betreffenden Ansprüche der Schluss auf ein "Scheinarbeitsverhältnis" zu ziehen ist (hier verneint).

Tenor

Auf die Berufung der Kläger wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 08.12.2011 - 11 K 2142/11 - geändert. Die Bescheide der Beklagten vom 07.03.2011 und der Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 25.05.2011 werden aufgehoben.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Kläger, schwedische Staatsangehörige, wenden sich gegen eine durch die Beklagte erfolgte Feststellung des Nichtbestehens eines Rechts auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland nach den Vorschriften des Freizügigkeitsgesetzes/EU (im Folgenden: FreizügG/EU) sowie die Androhung der Abschiebung nach Schweden.

Die Klägerin zu 1 (im Folgenden: "Klägerin") ist am 03.05.1984 in Duhok/Irak, ihr Sohn, der Kläger zu 2 ("Kläger"), am 05.01.2010 in Stuttgart geboren. Der Vater des Klägers und Lebensgefährte der Klägerin, der am 18.12.1973 in Mosul/Nineveh/Irak geborene A.A., ist irakischer Staatangehöriger und mit der Klägerin seit 2009 nach religiösem Ritus verheiratet. Er hat die Vaterschaft zum Kläger anerkannt und übt aufgrund einer entsprechenden Erklärung vor dem Jugendamt am 24.03.2011 das Sorgerecht gemeinsam mit der Klägerin aus.

A.A. kam im Februar 2001 nach Deutschland. Auf seinen Asylantrag hin wurde mit Bescheid des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 23.03.2001 festgestellt, dass bei ihm die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich des Iraks vorliegen. Diese Feststellung wurde mit - seit 10.06.2008 bestandskräftigem - Bescheid vom 08.11.2005 widerrufen. Vom 20.06.2001 bis zum 04.04.2008 war A.A. im Besitz von Aufenthaltstiteln, zunächst einer Aufenthaltsbefugnis und zuletzt einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG. Infolge eines Antrags auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis wurde ihm am 10.06.2008 eine Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 4 AufenthG ausgestellt, welche zunächst immer wieder verlängert wurde.

Die Klägerin, welche früher ebenfalls die irakische Staatsangehörigkeit besaß, lebte mit ihren Eltern seit 2001 in Schweden und wurde dort eingebürgert. Sie meldete sich zum 14.05.2009 - unter der Adresse ihres Lebensgefährten A.A. -erstmals in Deutschland an. Ab Oktober 2009 erhielt sie Hilfe zum Lebensunterhalt. Nachdem A.A. seine Arbeitsstelle verloren hatte, wurden diesem ab Dezember 2009 (ergänzende) Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch gewährt. Derzeit geht A.A. einer geringfügig entlohnten Tätigkeit nach; er und die Kläger erhalten Arbeitslosengeld und Sozialgeld nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch.

Nach Anhörung stellte die Beklagte gegenüber beiden Klägern mit Bescheiden vom 07.03.2011 das Nichtbestehen des Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU fest (Ziff. 1), forderte diese auf, das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland bis spätestens einen Monat nach Bestands- bzw. Rechtskraft dieser Verfügung zu verlassen (Ziff. 2), und drohte ihnen für den Fall, dass sie ihrer Ausreisepflicht nicht nachgekommen sein sollten, die Abschiebung nach Schweden oder in einen anderen Staat, der zu ihrer Übernahme verpflichtet sei, an (Ziff. 3). Zur Begründung wurde ausgeführt: Zwar hätten Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer zur Arbeitssuche im Bundesgebiet aufhalten wollten, gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU ein Recht auf Einreise und Aufenthalt. Die Klägerin habe jedoch zu keinem Zeitpunkt geltend gemacht, sich überhaupt auf Arbeitssuche zu befinden. Seit dem 01.10.2009 beziehe sie Hilfe zum Lebensunterhalt. Sie genieße auch nicht als Familienangehörige aufgrund von § 3 Abs. 1 FreizügG/EU Freizügigkeit. Die Regelung für nichterwerbstätige Unionsbürger des § 4 FreizügG/EU komme bei ihr ebenfalls nicht zur Anwendung. Denn sie verfüge nicht über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel. Nach dem Aufenthaltsgesetz stehe ihr kein Aufenthaltsrecht zu. Ihr könne durchaus zugemutet werden, dass sie in ihr Heimatland ausreise. Auch der Kläger genieße weder Freizügigkeit noch besitze er ein Daueraufenthaltsrecht im Bundesgebiet im Sinne des § 4a Abs. 1 FreizügG/EU.

Am 04.04.2011 legten die Kläger Widerspruch gegen die Bescheide ein mit der Begründung, es sei unzulässig, sie vom Vater bzw. Lebensgefährten zu trennen. A.A. habe es nicht zu vertreten, dass wegen fehlender Identitätspapiere bislang eine Eheschließung nicht möglich gewesen sei und ihm keine Aufenthaltserlaubnis habe erteilt werden können. Mit Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 25.05.2011 wurden die Widersprüche zurückgewiesen.

Am 10.06.2011 erhoben die Kläger Klagen beim Verwaltungsgericht Stuttgart. Zur Begründung wurde mit Schriftsatz vom 12.07.2011 vorgetragen, dass die Klägerin eine geringfügige Beschäftigung gefunden habe, die sie zum 01.08.2011 antreten werde, mit weiterem Schriftsatz vom 28.11.2011 wurde mitgeteilt, dass ihr nunmehr eine Ausweitung der Beschäftigung gelungen sei.

Nach den vorgelegten Arbeitsverträgen zwischen der Inhaberin eines in unmittelbarer Nachbarschaft der Wohnung der Familie der Klägerin befindlichen "Bistro Pubs" und der Klägerin vom 01.08. und vom 01.11.2011 ist diese seit dem 01.08.2011 als Reinigungskraft eingestellt. Die vereinbarte regelmäßige Arbeitszeit betrug zunächst 5 Wochenstunden an 5 Tagen zu je einer Stunde und ab dem 01.11.2011 6 Wochenstunden an 6 Tagen zu je einer Stunde bzw. erfolge jeweils auf Abruf (§ 2 der Verträge vom 01.08. und vom 01.11.2011). Als Lohn ist eine monatliche Vergütung von 180,-- EUR, ab dem 01.11.2011 von 240,-- EUR vereinbart (§ 3). Urlaub werde nur gewährt, wenn wöchentliche feste Arbeitszeiten vereinbart seien. Weder im Vertrag vom 01.08.2011 noch in dem folgenden vom 01.11.2011 ist angegeben, wie viele Werktage der Urlaub beträgt (§ 4). Nach den Arbeitsverträgen ist der Arbeitnehmer verpflichtet, im Falle einer krankheitsbedingten oder aus sonstigen Gründen veranlassten Arbeitsverhinderung den Arbeitgeber unverzüglich zu informieren und bei Erkrankung innerhalb von drei Tagen eine ärztliche Bescheinigung vorzulegen (§ 5). Er wird außerdem zur Verschwiegenheit verpflichtet (§ 6), darauf hingewiesen, dass er nur eine geringfügige Arbeitsstelle annehmen dürfe, sobald er eine versicherungspflichtige Hauptbeschäftigung habe (§ 7), und darüber aufgeklärt, dass er unter bestimmten Voraussetzungen in der gesetzlichen Rentenversicherung die Stellung eines versicherungspflichtigen Arbeitnehmers erwerben könne (§§ 7, 8). Unter § 9 "Probezeit/Kündigungsfristen" ist von der Möglichkeit, ein bestimmtes Datum als Ende des Arbeitsverhältnisses zu bestimmen, kein Gebrauch gemacht worden. Laut Satz 2 der Vorschrift kann das Arbeitsverhältnis jederzeit ohne Einhaltung von Fristen beidseitig gekündigt werden, wenn es nicht mit einem bestimmten Datum endet.

Mit Urteil vom 08.12.2011 - 11 K 2142/11 - wies das Verwaltungsgericht Stuttgart die Klagen ab. In den Entscheidungsgründen wird dargelegt, die Beklagte gehe zutreffend davon aus, dass die Klägerin weder nach § 2 Abs. 2 noch nach § 4 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sei. Die entscheidende Frage, ob sie aufgrund ihrer geringfügigen Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmerin im Sinne von Art. 39 EG anzusehen sei, sei - vergleichsweise klar - zu verneinen. Die Voraussetzungen, die der Europäische Gerichtshof im Urteil vom 04.02.2010 in der Rechtssache Genc angenommen habe, seien hier nicht gegeben. Nach dem schriftlich gefassten Arbeitsvertrag sei ein Urlaubsanspruch nicht eingeräumt. Ebenfalls fehlten im Arbeitsvertrag Bestimmungen über die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Ob die Klägerin möglicherweise einen gesetzlichen Urlaubsanspruch nach dem Bundesurlaubsgesetz besitze, könne ebenso dahinstehen wie die Frage, ob im Falle einer krankheitsbedingten Arbeitsverhinderung ein gesetzlicher Anspruch nach § 616 Satz 1 BGB eingreife. In der zu treffenden „Gesamtschau“ könne gesetzlich vorgegebenen und daher gleichsam für alle Beschäftigten geltenden Regelungen keine prägende Wirkung in Bezug auf die Frage zukommen, ob es sich im Einzelfall um eine tatsächliche und echte Tätigkeit handele. Ein Tarifvertrag finde auf das Arbeitsverhältnis der Klägerin keine Anwendung. Sie sei zudem bei ihrem Arbeitgeber erst seit einigen Wochen beschäftigt. Schließlich erbringe sie Arbeitsleistungen auch nicht unmittelbar im Rahmen des Geschäftszwecks ihres Arbeitgebers, etwa im Ausschank oder im Bedienen der Gäste der Gaststätte, sondern eine Stunde pro Tag Reinigungsleistungen. Der Arbeitsort liege unmittelbar neben der Wohnung der Kläger. Dem Charakter nach liege eher eine vergütete „Nachbarschaftshilfe“ als eine tatsächliche und echte Arbeitnehmertätigkeit vor. Dafür spreche schließlich auch die Bestimmung in § 9 des schriftlich gefassten Arbeitsvertrags, wonach das Arbeitsverhältnis jederzeit ohne Einhaltung von Fristen gekündigt werden könne. Damit lägen die Voraussetzungen für den Erlass der angegriffenen Verfügungen analog § 5 Abs. 5 FreizügG/EU vor; diese seien auch frei von Ermessensfehlern.

Am 22.12.2011 haben die Kläger die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung gegen das Urteil eingelegt und diese unter Stellung von Anträgen begründet: Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs genüge eine Tätigkeit von 5,5 Stunden pro Woche bei einem Stundenlohn von 7,87 EUR für die Bejahung des Merkmals der Arbeitnehmereigenschaft. Dem habe sich - mit Urteil vom 19.04.2012 (- 1 C 10.11 -) - auch das Bundesverwaltungsgericht angeschlossen. Das angefochtene Urteil verneine die Freizügigkeit der Klägerin aus ersichtlicher Unkenntnis arbeitsrechtlicher Bestimmungen. So existiere für das Gaststättengewerbe ein für allgemeinverbindlich erklärter Manteltarifvertrag. Ein Anspruch auf Urlaub und Lohnfortzahlung bestehe auch ohne schriftliche Vereinbarung. Soweit die Beklagte von einem Missbrauch ausgehe, werde darauf hingewiesen, dass sie lediglich mit A.A. zusammenleben wollten und es nicht auf den Bezug von Sozialleistungen angelegt hätten. A.A. habe seinen Arbeitsplatz erst im Zuge der Wirtschaftskrise verloren und hoffe unverändert darauf, wieder einer Beschäftigung nachgehen zu können, bei welcher er nicht mehr auf den aufstockenden Bezug von Sozialleistungen angewiesen sei. Hätten sie als Ziel das „Liegen in der sozialen Hängematte“, so wäre dieses in Schweden leichter zu erreichen.

Die Kläger beantragen,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 08.12.2011 - 11 K 2142/11 - zu ändern und die Bescheide der Beklagten vom 07.03.2011 sowie den Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 25.05.2011 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufungen zurückzuweisen.

Zur Begründung wird auf die angefochtenen Bescheide und das Urteil vom 08.12.2011 verwiesen und weiter vorgetragen: Es könne aus gesetzessystematischen Gründen nicht sein, dass nach § 4 FreizügG/EU für nichterwerbstätige Unionsbürger ausreichende Existenzmittel gefordert würden und man auf der anderen Seite als Arbeitnehmer angesehen werde, sobald man eine Stunde am Tag arbeite und damit nicht einmal seine Krankenversicherung bezahlen oder den Bedarf in Höhe des sozialhilferechtlichen Regelsatzes abdecken könne. Allein im Januar 2012 habe die Familie Leistungen in Höhe von 1.528,66 EUR erhalten. Das Einkommen der Klägerin betrage somit nur rund 16 % des Bedarfs der Familie bzw. 29 % ihres eigenen Bedarfs. Im Übrigen arbeite sie erst seit dem 01.08.2011 und zunächst nur 5, seit November 2011 6 Stunden pro Woche. Sie sei daher nicht als Arbeitnehmerin anzusehen. Es stelle sich außerdem die Frage, ob hier missbräuchlich Sozialleistungen bezogen würden. Schließlich könnte die Klägerin für die Betreuung ihres Kindes den Vater heranziehen und daher in erheblich größerem Umfang durch Arbeit zum Einkommen der Familie beitragen. Es sei schließlich weiter davon auszugehen, dass die Familie nach Schweden gehen könnte. Unabhängig davon, dass wegen von A.A. vorgelegter gefälschter Personalpapiere weiter Zweifel an dessen Identität bestünden, sei er jedenfalls im Besitz eines gültigen irakischen Reisepasses.

Mit an den Lebensgefährten der Klägerin A.A. gerichtetem Bescheid vom 08.05.2012 stellte die Beklagte fest, dass dieser kein Recht auf Einreise und Aufenthalt nach dem FreizügG/EU habe. Außerdem wurden von A.A. gestellte Anträge auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte nach § 5 Abs. 2 FreizügG/EU, Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis und Erteilung einer Niederlassungserlaubnis abgelehnt und ihm wurde die Abschiebung angedroht. Über den dagegen eingelegten Widerspruch von A.A. ist noch nicht entschieden worden.

In der mündlichen Verhandlung vom 19.09.2012 ist die Klägerin unter anderem zu ihren Arbeitsbedingungen ausführlich angehört worden, nach Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung mit Beschluss des Senats vom 19.09.2012 ist im Termin am 29.10.2012 ihre Arbeitgeberin, Frau C. Sch., zur Frage des Bestehens und der Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses mit der Klägerin - uneidlich - als Zeugin vernommen worden. Diesbezüglich wird auf die Sitzungsniederschriften verwiesen.

Dem Senat liegen die ausländerrechtlichen Akten der Beklagten (2 Hefte), die Widerspruchsakten des Regierungspräsidiums Stuttgart (1 Heft) und die Gerichtsakten des Verwaltungsgerichts Stuttgart über das Klageverfahren - 11 K 2142/11 - vor. Der Inhalt dieser Akten ist ebenso wie der Inhalt der Akten des Senats bezüglich der Berufungen - 11 S 24/12 - und bezüglich Beschwerden der Kläger gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe durch das Verwaltungsgericht im Klageverfahren - 11 S 2984/11 - Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen; hierauf wird ergänzend Bezug genommen.

Gründe

Die nach Zulassung durch das Verwaltungsgericht statthaften und auch im Übrigen zulässigen Berufungen der Kläger sind begründet. Das Verwaltungsgericht hätte auf die Anfechtungsklagen der Kläger hin die Bescheide der Beklagten vom 07.03.2011 und den Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 25.05.2011 aufheben müssen. Denn diese sind rechtswidrig und verletzen dadurch die Kläger in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist - wie in allen Fällen ausländerbehördlicher Verfügungen, mit denen die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts beendet wird (vgl. nur VGH Bad.-Württ., Urteil vom 15.03.2009 - 13 S 2372/08 - NVwZ 2009, 1380; zum Verlust der Freizügigkeitsberechtigung: EuGH, Urteil vom 29.04.2004 - Rs. C-482/01 und 493/0, Orfanopoulos und Oliveri - Slg. 2004, I-5257 = juris) - der der letzten mündlichen Verhandlung, hier der 29.10.2012. Zu diesem Zeitpunkt sind sowohl die Klägerin als auch ihr Sohn, der Kläger, freizügigkeitsberechtigt, so dass die Feststellung des Nichtbestehens des Rechts auf Einreise und Aufenthalt (vgl. zur Frage der Rechtsgrundlage Epe in: GK-AufenthG, Stand: Juni 2012, § 5 FreizügG/EU, Rn. 52 m.w.N.) durch die Beklagte in den Bescheiden vom 07.03.2011 ebenso rechtswidrig ist (I.) wie die darin erfolgte Abschiebungsandrohung (II.).

I.

Die Klägerin und ihr Sohn genießen Freizügigkeit.

1. Der Klägerin steht nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. Abs. 1 FreizügG/EU ein Recht auf Aufenthalt im Bundesgebiet zu. Nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU haben freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe dieses Gesetzes. Absatz 2 dieser Vorschrift bestimmt, welche Personen gemeinschaftsrechtlich freizügigkeitsberechtigt sind. Dazu zählen nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer, zur Arbeitssuche oder zur Berufsausbildung aufhalten wollen (vgl. dazu Art. 7 Abs. 1 Richtlinie 2004/38/EG vom 29.04.2004). Die Klägerin ist Arbeitnehmerin in diesem Sinne.

Eine genaue Grenze in Bezug auf Einkommen und Arbeitszeit, unterhalb derer die Arbeitnehmereigenschaft zu verneinen ist, lässt sich nicht bestimmen. Ältere Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs zu geringfügigen Beschäftigungen bzw. Teilzeitarbeit betrafen Arbeitsverhältnisse mit einer Arbeitszeit von 10 bis zu 25 Stunden (Urteile vom 03.06.1986 - Rs. C-139/85, Kempf -a.a.O., vom 14.12.1995 - C-444/93, Megner und Scheffel - a.a.O. und vom 24.01.2008 - C-294/06, Payir u.a. - Slg. 2008, I-203 = juris; vgl. auch Urteil vom 03.07.1986 - Rs. C-66/85, Lawrie-Blum - a.a.O.). Dem Urteil in der Rechtssache Genc vom 04.02.2010 (a.a.O., zu Art. 6 ARB 1/80), in dem es ebenfalls um einen "Minijob" als Reinigungskraft mit einer Wochenarbeitszeit von 5,5 Stunden bei einem monatlichen Durchschnittslohn von 175,-- EUR ging, lässt sich aber entnehmen, dass auch ein Beschäftigter mit entsprechend geringen Wochenarbeitszeiten als Arbeitnehmer anzusehen sein kann. Der Europäische Gerichtshof hat in dieser Vorabentscheidung erneut betont, dass auch bei „geringfügig Beschäftigten“ zu prüfen sei, ob die Tätigkeit aufgrund einer Gesamtbewertung - trotz der geringen Arbeitszeiten - als “tatsächlich und echt“ angesehen werden könne. Dabei seien nicht nur Gesichtspunkte wie die Arbeitszeit und die Höhe der Vergütung zu berücksichtigen, sondern auch solche wie der Anspruch auf bezahlten Urlaub, die Geltung von Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Anwendung des Tarifvertrags in der jeweils gültigen Fassung auf den Arbeitsvertrag sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses. In der Folge dieser Vorabentscheidung haben die nationalen Gerichte, zuletzt das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 10.04.2012 (- 1 C 10.11 - a.a.O.), die Arbeitnehmereigenschaft der betreffenden Klägerin bejaht (vgl. auch das vorangegangene Urteil des OVG Berlin-Brandenburg vom 30.03.2011 - 12 B 15/10 -juris mit weiteren Nachw. zur Rechtspr. bei geringfügig bzw. Teilzeit-Beschäftigen). Allerdings hatte diese inzwischen ihre wöchentliche Arbeitszeit von 5,5 auf 10 Wochenarbeitsstunden erhöht. Das Bundesverwaltungsgericht hat aber dargelegt (a.a.O., RN 20), dass auch bei einer auf den früheren Zeitpunkt bezogenen Beurteilung - als die wöchentliche Arbeitszeit noch bei nur 5,5 Stunden lag - das Beschäftigungsverhältnis nach Umfang, Dauer und seiner konkreten Ausgestaltung nicht von so geringem Umfang sei, dass es sich bei wertender Betrachtung im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellte.

Die danach erforderliche Gesamtwürdigung des Beschäftigungsverhältnisses der Klägerin anhand der vom Europäischen Gerichtshof genannten Kriterien ergibt, dass diese in der Rückschau mit der Aufnahme ihrer Tätigkeit als Reinigungskraft im Bistro der Zeugin zur Arbeitnehmerin im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU wurde und es im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Senat weiterhin ist. Dabei ist zunächst die Dauer und vor allem die Regelmäßigkeit der Tätigkeit der Klägerin zu berücksichtigen. Sie arbeitet seit August 2011 nahezu täglich für die Zeugin. Es gibt neben ihr keine weitere angestellte Reinigungskraft. Wenn sie ausfällt, muss ihre Arbeit von der Arbeitgeberin oder den Bedienungen übernommen werden. Ihre Tätigkeit ist daher von einigem Gewicht für den Betriebsablauf in der Gaststätte. Zudem gilt für die Klägerin der - mit Wirkung vom 01.01.2002 für allgemeinverbindlich erklärte - Manteltarifvertrag für das Hotel- und Gaststättengewerbe Baden-Württemberg vom 18.03.2002 (im Folgenden: Mantel-TV). Alle mündlichen und schriftlichen Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, mit welchen die darin getroffenen Vereinbarungen zuungunsten der Arbeitnehmer um- bzw. abgeändert werden, sind ungültig (vgl. § 22 des Mantel-TV). Die Klägerin hat nicht nur nach gesetzlichen Vorschriften (Urlaubsgesetz, Entgeltfortzahlungsgesetz), sondern auch nach dem Manteltarifvertrag unter anderem Anspruch auf Urlaub (vgl. § 10 Mantel-TV) und auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall (§ 13 Mantel-TV), außerdem gelten - neben dem gesetzlichen Kündigungsschutz - die in § 4 des Tarifvertrags bestimmten Kündigungsfristen. Unter diesen Umständen bestehen keine Zweifel daran, dass ihr Arbeitsverhältnis als "tatsächliches und echtes" anzusehen ist.

Eine andere Beurteilung folgt nicht daraus, dass die Zahl der Urlaubstage in den Arbeitsverträgen vom 01.08. und vom 01.11.2011 nicht angegeben, der Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall darin zwar nicht ausgeschlossen, aber nicht explizit geregelt ist, und dass unter § 9 "Kündigungsfristen" bestimmt ist, dass das Arbeitsverhältnis jederzeit ohne Einhaltung von Fristen beidseitig gekündigt werden könne, wenn es nicht mit einem bestimmten Datum ende. Wie ihre Angaben bei der Vernehmung als Zeugin gezeigt haben, scheint zwar auch der Arbeitgeberin nicht bewusst zu sein, dass die Klägerin Anspruch auf Urlaub und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall hat. Es ist aber davon auszugehen, dass offensichtlich viele Arbeitgeber bei geringfügigen Beschäftigungen einem entsprechenden Irrtum unterliegen, auch mag es Arbeitgeber geben, die den Arbeitnehmer sogar bewusst nicht über die diesbezüglichen Rechte aufklären. Entsprechende Arbeitsverhältnisse dürften daher nicht als unüblich und damit auch nicht als "unecht" zu qualifizieren sein. Jedenfalls kann bei einem Arbeitnehmer in der Regel nicht mit der Begründung die Arbeitnehmereigenschaft im unionsrechtlichen Sinne verneint werden, dass sein Arbeitgeber von ihm - unzulässigerweise - mehr Leistungen verlangt als er nach dem Arbeitsvertrag, den tarifvertraglichen Regelungen und/oder dem Gesetz zu erbringen verpflichtet ist, bzw. diesem weniger Leistungen gewährt, als ihm rechtlich zustehen. Etwas anderes mag gelten, wenn dieser Umstand als Indiz dafür zu werten ist, dass es sich nur um eine Art "Scheinarbeitsverhältnis" handelt. Davon kann hier aber nicht die Rede sein.

Die Klägerin ist damit freizügigkeitsberechtigt. Dieses Recht kann ihr hier entgegen der Auffassung der Beklagten auch nicht wegen der ergänzend erforderlichen Sozialleistungen oder wegen Rechtsmissbrauchs versagt werden. Die Beklagte verkennt, dass die Voraussetzung des Vorhandenseins ausreichender Existenzmittel und ausreichenden Krankenversicherungsschutzes nach § 4 Satz 1 FreizügG/EU nur für nicht erwerbstätige Unionsbürger und deren Familienangehörige bzw. Lebenspartner gilt und gerade nicht für nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und deren Familienangehörige. Es kann daher nicht verlangt werden, dass der überwiegende Teil oder ein bestimmter Prozentsatz des Bedarfs vom jeweiligen Einkommen gedeckt ist. Der Klägerin kann auch nicht vorgehalten werden, sie wäre allein zum Bezug von staatlichen Unterstützungsleistungen nach Deutschland gekommen. Als sie - bereits schwanger - im Mai 2009 zu ihrem Lebensgefährten A.A. nach Deutschland zog, hatte dieser noch eine Arbeitsstelle. Zwar sind die Erklärungen der Klägerin und ihres Lebensgefährten dazu, warum sie hier und nicht in Schweden leben wollen, tatsächlich nicht in jeder Hinsicht überzeugend gewesen. So hat sich z.B. herausgestellt, dass A.A. - entgegen früheren Darstellungen - schon lange im Besitz eines gültigen irakischen Passes ist. Dass die beiden sich nicht entschieden haben, nach Schweden umzuziehen und dort gegebenenfalls Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen, kann aber - vor dem Hintergrund der unionsrechtlich gewährleisteten Arbeitnehmerfreizügigkeit -nicht als rechtsmissbräuchlich angesehen werden.

Soweit von Seiten der Beklagten gerügt wird, dass die Klägerin und ihr Lebensgefährte nicht umfangreicheren Beschäftigungen nachgehen, weist der Senat ergänzend auf Folgendes hin: Tatsächlich stellt sich die Frage, ob es der Klägerin und/oder ihrem Lebensgefährten nicht - trotz der schlechten Deutschkenntnisse der Klägerin und des seit Frühsommer 2008 ungesicherten aufenthaltsrechtlichen Status des A.A. - möglich sein müsste, weitere bzw. umfangreichere Beschäftigungen zu finden. Darauf kommt es aber hier nicht an. Denn unabhängig davon genießt die Klägerin aufgrund des bestehenden Arbeitsverhältnisses Freizügigkeit. Es ist Aufgabe des zuständigen Jobcenters, gegebenenfalls eine Arbeitsstelle zu vermitteln oder bei unzureichenden Arbeitsbemühungen entsprechende Konsequenzen zu ziehen (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 19.04.2012 - 1 C 10.11 - a.a.O.).

2. Ist danach die Klägerin als freizügigkeitsberechtigte Unionsbürgerin anzusehen, hat der Kläger als ihr Sohn ebenfalls ein Recht auf Aufenthalt in Deutschland (§§ 2 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 6 i.V.m. 3 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU).

II.

Unter diesen Umständen sind auch die in den Bescheiden vom 07.03.2011 verfügten Abschiebungsandrohungen rechtswidrig und aufzuheben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

Beschluss vom 29. Oktober 2012

Der Streitwert für das Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof wird auf 10.000,-- EUR festgesetzt (§§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 2, entspr. 39 Abs. 1 GKG).

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).