VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.10.1999 - 11 S 1419/99
Fundstelle
openJur 2013, 11172
  • Rkr:

1. Der Tatbestand des § 5 Nr 9 AAV (iVm § 1 AAV), wonach "Künstlern" eine Aufenthaltserlaubnis für die Aufnahme und Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet erteilt werden kann, kommt im Fall einer Betätigung als Show-Tänzerin in Nachtlokalen in Betracht.

2. Zur Ermessensausübung in einem solchen Fall, wenn die Ausländerin die Verlängerung einer - ihr zu diesem Zweck wiederholt erteilten - Aufenthaltserlaubnis begehrt.

Gründe

Die - vom Senat zugelassene - Beschwerde der Antragstellerin ist zulässig und begründet. Anders als das Verwaltungsgericht ist der Senat der Auffassung, daß der Antragstellerin der erstrebte vorläufige gerichtliche Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen die Wirkungen der Verfügung der Ausländerbehörde der Antragsgegnerin vom 5.2.1998 zu gewähren ist, die in der Gestalt des Widerspruchsbescheids des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 1.9.1998 Gegenstand der beim Verwaltungsgericht anhängigen Klage ist (§ 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Mit dieser Verfügung wurde der Antrag der Antragstellerin auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis - kraft Gesetzes sofort vollziehbar - abgelehnt und der Antragstellerin die Abschiebung angedroht. Der Antragstellerin - einer am 8.7.1972 geborenen rumänischen Staatsangehörigen - ist der erstrebte vorläufige Rechtsschutz zu gewähren, da ihrem Interesse an einer Aussetzung der sofortigen Vollziehbarkeit dieser ausländerrechtlichen Maßnahmen Vorrang vor dem öffentlichen Vollzugsinteresse zukommt.

Für das Antragsbegehren, das die Antragstellerin im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes weiter verfolgt, ist das Rechtsschutzinteresse nicht entfallen. Die Antragstellerin macht zu Recht geltend, daß sie (noch immer) ein schutzwürdiges Interesse an der erstrebten gerichtlichen Entscheidung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes hat, da sie durch die sofortige Vollziehbarkeit der angefochtenen Verfügung an der Fortführung ihrer unselbständigen Erwerbstätigkeit als Show-Tänzerin - die ihr durch eine deutsche Agentur bis Ende des Jahres 1999 in Aussicht gestellt wurde - gehindert ist und ihr wegen der - durch diese sofortige Vollziehbarkeit eingetretenen - vollziehbaren Ausreisepflicht eine Abschiebung droht (vgl. §§ 49 Abs. 1, 42 Abs. 2 Satz 2 AuslG). Dem Rechtsschutzinteresse steht auch nicht entgegen, daß die Antragstellerin nicht (mehr) im Besitz einer Arbeitsgenehmigung ist, da sich diese Situation - soweit ersichtlich - als Folge der hier angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts ergeben hat.

Anders als das Verwaltungsgericht gelangt der Senat zu der Ansicht, daß der Ausgang des Verfahrens in der Hauptsache als offen zu beurteilen ist.

Die Entscheidung über die von der Antragstellerin beantragte weitere Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit als Show-Tänzerin im Rahmen eines Betreuungs- und Vermittlungsverhältnisses durch eine - mit Erlaubnis der Bundesanstalt für Arbeit betriebene - Künstlervermittlung erfolgte auf der rechtlichen Grundlage des § 10 Abs. 1 und 2 AuslG in Verbindung mit § 1 und § 5 Nr. 9 der Arbeitsaufenthalteverordnung (AAV). Nach diesen Bestimmungen kann "Künstlern" eine Aufenthaltserlaubnis für die Aufnahme und Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet erteilt - und verlängert (s. § 13 Abs. 1 AuslG) - werden, wenn eine erforderliche Genehmigung zur Beschäftigung als Arbeitnehmer und eine sonstige erforderliche Berufsausübungserlaubnis in Aussicht gestellt oder erteilt sind. Der Senat legt in dem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes angesichts der erwähnten Situation zugrunde, daß der Antragstellerin nicht entgegengehalten werden kann, ihr sei keine Arbeitsgenehmigung in Aussicht gestellt (§ 1 AAV).

Die ausländerbehördliche Entscheidung, der Antragstellerin eine weitere Aufenthaltserlaubnis zu versagen, erscheint rechtlich bedenklich, soweit dabei davon ausgegangen wird, die Antragstellerin sei keine Künstlerin im Sinn von § 5 Nr. 9 AAV.

Es bedarf im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes keiner abschließenden Entscheidung darüber, wie der - durch die Arbeitsaufenthalteverordnung nicht näher bestimmte - Begriff des Künstlers (bzw. der Künstlerin), der eine arbeitsgenehmigungspflichtige unselbständige Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet ausüben will, allgemein auszulegen ist. In jedem Fall ist dabei der weite Kunstbegriff des Grundgesetzes (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) maßgeblich zu beachten, der sich wohl einer generellen Definition entzieht und keiner wertenden Einengung unterliegt (vgl. dazu BVerfG, Beschlüsse vom 24.2.1971, BVerfGE 30, 173, 188 = NJW 1971, 1645, vom 17.7.1984, BVerfGE 67, 213, 225 = NJW 1985, 261, und vom 7.3.1990, BVerfGE 81, 278, 291, sowie BVerfGE 81, 298, 305; auch BVerwG, Urteil vom 26.11.1992, BVerwGE 91, 211 = NJW 1993, 1491; s. auch BSG, Urteile vom 25.10.1995, NJW 1997, 1185, und vom 20.3.1997, NJW 1998, 1430; BFH, Urteile vom 11.4.1990, NJW 1991, 1503, und vom 11.7.1991, NJW 1992, 1343). Im Fall der Antragstellerin, die bereits seit Jahren im Bundesgebiet als Show-Tänzerin (arbeitserlaubnis- und aufenthaltsrechtlich) erlaubt tätig ist, dürfte es insoweit nicht - wie dies im Widerspruchsbescheid zum Ausdruck kommt - entscheidend auf den Nachweis einer bestimmten fachlichen Qualifikation durch entsprechende Zeugnisse ankommen. So hat der Präsident des Landesarbeitsamts Baden-Württemberg auf eine entsprechende Anfrage des Regierungspräsidiums Karlsruhe (mit einem am 31.8.1998 beim Regierungspräsidium eingegangenen Schreiben) mitgeteilt, nach den ihm vorliegenden Unterlagen werde die Antragstellerin "als Tänzerin, d.h. als Künstlerin, tätig". Dementsprechend wurden der Antragstellerin vom Landesarbeitsamt Baden-Württemberg weitere Arbeitsgenehmigungen für eine Tätigkeit als Show-Tänzerin für den Zeitraum vom 3.9.1998 bis zum 30.9.1998 und für den Zeitraum vom 14.10.1998 bis zum 31.10.1998 erteilt.

Eine Eingrenzung des Begriffs des Künstlers (bzw. der Künstlerin) im Sinne von § 5 Nr. 9 AAV für den hier fraglichen Tätigkeitsbereich dahingehend, daß - so die Ansicht der Antragsgegnerin - darunter "nur Künstler im Bereich Show und Unterhaltung fallen, die im Rahmen sogenannter Tagesdarbietungen konzertmäßig und entsprechend eines Gastspielvertrages berufsmäßig auftreten", wobei es sich um eine "Tagesdarbietung" nur dann handeln könne, "wenn dafür Gagen gezahlt werden, die wesentlich über der Bezahlung eines künstlerischen Festengagements liegen", dürfte dem in der Arbeitsaufenthalteverordnung gewählten weiten, dort nicht näher umschriebenen Begriff nicht gerecht werden. Zwar können sich aus den konkreten Verhältnissen bei der Ausübung der unselbständigen Erwerbstätigkeit Gesichtspunkte ergeben, die einer Zuordnung der Tätigkeit zum Bereich der Kunst aufenthaltsrechtlich entgegenstehen können, wie dies beispielsweise bei der Tätigkeit einer Tänzerin auch als Animier- oder Bardame in Betracht zu ziehen ist. Solche Umstände sind im Fall der Antragstellerin bei der vorhandenen Sachlage, die im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes keiner weiteren Klärung zugänglich ist, jedoch nicht mit der erforderlichen hinreichenden Wahrscheinlichkeit erkennbar.

Umstände, die eine Zuordnung der Tätigkeit der Antragstellerin als Show-Tänzerin zum Begriff des Künstlers (bzw. der Künstlerin) im Sinn von § 5 Nr. 9 AAV ausschließen könnten, sind insbesondere nicht bereits maßgeblich darin zu sehen, daß die Antragstellerin in Nachtlokalen auftritt. Es braucht hier nicht erörtert zu werden, ob - wie das Verwaltungsgericht angenommen hat - schon der Ort der Tätigkeit - ein "Theater, sei es auch ein Kleinkunsttheater, oder eine sonstige Stätte, an die man sich vorrangig aus Gründen des Kunstgenusses begibt" - ein wesentliches Indiz für eine künstlerische Betätigung ist und es daher "eher gegen eine Tätigkeit als Künstler" spricht, "wenn die Darbietung in einem Etablissement stattfindet, in das man sich vorrangig aus anderen Motiven begibt, wie es bei den Nachtclubs, in denen die Antragstellerin bisher tätig war, der Fall ist". Denn es kann - entgegen der Ansicht auch der Antragsgegnerin - im vorliegenden Zusammenhang nicht entscheidend darauf ankommen, ob "tatsächlich eine künstlerische Leistung bei einer Veranstaltung erbracht wird, die von einem kunstaufnahmebereiten Publikum besucht wird". Ein allgemeiner Grundsatz, Kunst werde "in aller Regel (nur) an Orten erbracht, wo der darstellende Künstler berechtigterweise erwarten kann, daß das anwesende Publikum tatsächlich für einen Kunstgenuß aufnahmebereit ist", besteht jedenfalls nicht.

Daß die Antragstellerin ihre Tätigkeit als Show-Tänzerin - mit einer entsprechend erteilten Arbeitserlaubnis - in einem Nachtlokal ("Cabaret Red Rose") ausgeübt hat, dessen Betreiber über eine Erlaubnis nach § 33a GewO - wonach einer Erlaubnis bedarf, wer gewerbsmäßig Schaustellungen von Personen ohne überwiegend künstlerischen, sportlichen, akrobatischen oder ähnlichen Charakter veranstalten will - verfügte, erscheint im vorliegenden Zusammenhang rechtlich nicht ausschlaggebend, zumal da kein hinreichender Anhalt dafür besteht, daß die Antragstellerin - was sie bestreitet - gerade in diesem erlaubnispflichtigen Bereich tätig geworden ist. Allein "der Auftritt in einem solchen Nachtlokal" spricht nach dem Gesagten - entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts - nicht "bereits in erheblichem Maße dagegen, daß bei der konkreten Darbietung der Antragstellerin tatsächlich eine künstlerische Leistung im Vordergrund steht". Soweit in einer - von einem Steuerbüro gefertigten - Arbeitsbescheinigung (vom 4.8.1998), die der Antragstellerin für ihre Tätigkeit in dem erwähnten Nachtlokal ("Cabaret Red Rose") erteilt wurde, als Beschäftigungsverhältnis "Tänzerin/Animierdame" eingetragen und ihr - wie sich wie sich aus einer Lohn/Gehaltsabrechnung für Juli 1998 ergibt - eine Umsatzprovision gezahlt wurde, lassen auch diese Umstände jedenfalls nicht ohne weiteres darauf schließen, daß die Antragstellerin nicht als Tänzerin unter den Begriff der Künstlerin im Sinne von § 5 Nr. 9 AAV fiele; die Inhaberin des Nachtlokals hat durch eine Bescheinigung vom 5.2.1999 das Vorbringen der Antragstellerin bestätigt, die Antragstellerin sei "als Showtänzerin engagiert" gewesen und habe "nicht animieren" dürfen.

Schließlich ergeben sich insgesamt nicht etwa daraus, daß die Antragstellerin - nach ihrem Vorbringen - "erotische Tänze" aufführt und "über mehrere Choreographien für ihre tänzerischen Darbietungen" verfügt, Anhaltspunkte für die Annahme, es fehle an einer Betätigung als Künstlerin nach § 5 Nr. 9 AAV.

Die Ermessenserwägungen, die im Widerspruchsbescheid hilfsweise angestellt worden sind, begegnen ebenfalls rechtlichen Bedenken. Die Widerspruchsbehörde hat zwar in diesem Bescheid zutreffend ausgeführt, bei der - im Fall einer unterstellten künstlerischen Tätigkeit der Antragstellerin - vorzunehmenden Ermessensausübung seien die individuellen Interessen der Antragstellerin an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet den öffentlichen Interessen gegenüberzustellen. Es ist jedoch fraglich, ob die Widerspruchsbehörde die angesprochenen öffentlichen und privaten Interessen mit dem ihnen zukommenden Gewicht in ihre Abwägung eingestellt hat. Soweit die Behörde als wesentliches öffentliches Interesse die ausländerpolitischen Grundsatzentscheidungen angeführt hat, "wonach die Integration der auf Dauer im Bundesgebiet lebenden Ausländer gefördert und die weitere Zuwanderung von Ausländern aus Nicht-EU-Staaten begrenzt werden soll", hat sie möglicherweise nicht hinreichend berücksichtigt, daß der Verordnungsgeber bei den in § 5 AAV geregelten Fällen nicht nur eine Ausnahme von der Beschränkung des Zugangs, sondern auch vom Ausschluß der Verfestigung der aufenthaltsrechtlichen Position des Ausländers gemacht hat (s. dazu VGH Bad.-Württ., Beschluß vom 13.10.1992 - 11 S 2147/92 -, VBlBW 1993, 232). Denn für die in § 5 AAV zusammengefaßten Beschäftigungen soll den betreffenden Ausländern die Möglichkeit der Aufenthaltsverfestigung nach den §§ 24 und 27 AuslG eröffnet werden (s. die Amtliche Begründung zu § 5 AAV, BR-Drs. 797/90). Zugunsten der Antragstellerin spricht, daß sie sich seit dem Jahr 1992 (mit einer Unterbrechung durch eine kurzzeitige Ausreise im Jahr 1995) bis zum 31.12.1997 rechtmäßig - jeweils im Besitz der erforderlichen Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen - im Bundesgebiet zu demselben Aufenthaltszweck aufgehalten hat, den sie weiterhin verfolgen möchte. Im Hinblick auf den von der Antragstellerin erstrebten Aufenthaltszweck der unselbständigen Erwerbstätigkeit als Show-Tänzerin mit wechselnden Engagements erscheint es rechtlich nicht ohne weiteres tragfähig, wenn in dem Widerspruchsbescheid darauf abgestellt wird, die Antragstellerin verfüge in Deutschland "jedoch über keinerlei verwandtschaftliche Beziehungen" , ihre - an häufig wechselnden Arbeitsstellen ausgeübte - Tätigkeit unterliege "keiner örtlichen Bindung", es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, daß sie "im Bundesgebiet über schutzwürdige persönliche wirtschaftliche oder sonstige Bindungen verfügt, die einer Heimkehr in ihr Heimatland entgegenstehen", und sie könne "ihre tänzerischen Darbietungen auch im Heimatland aufführen und dort gemäß ihrer Auffassung künstlerisch tätig sein".

Vor dem Hintergrund des zur Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis Ausgeführten hält der Senat es bei der Interessenabwägung in dem Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO in Anbetracht der Belange der langjährig hier tätigen Antragstellerin für angezeigt, diesbezüglich die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen. Es ist nicht ersichtlich, daß durch einen vorläufigen weiteren Aufenthalt der Antragstellerin im Bundesgebiet öffentliche Belange beeinträchtigt werden.

Der Antragstellerin ist demnach auch gegenüber der - sofort vollziehbaren - Abschiebungsandrohung in der angefochtenen Verfügung - in der Gestalt des Widerspruchsbescheids - der erstrebte vorläufige gerichtliche Rechtsschutz zu gewähren. Denn durch die Aussetzung der Vollziehbarkeit der Versagung der Aufenthaltserlaubnis (vgl. §§ 72 Abs. 1, 42 Abs. 2 Satz 2 AuslG) entfällt die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht; damit ist die rechtliche Grundlage der Abschiebungsandrohung ebenfalls vorläufig entfallen (vgl. auch § 50 Abs. 4 Satz 1 AuslG).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf den §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 Satz 2, 14 Abs. 1 und 2 sowie 25 Abs. 2 Satz 1 GKG.

Dieser Beschluß ist unanfechtbar.