VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 07.03.1991 - 10 S 440/91
Fundstelle
openJur 2013, 7663
  • Rkr:

1. Zum Umfang der Sachverhaltsermittlung beim Vorliegen einer die Kraftfahreignung in Frage stellenden Zuckerkrankheit.

Gründe

Die zulässige Beschwerde des Antragstellers hat überwiegend Erfolg. Zu Unrecht hat es das Verwaltungsgericht abgelehnt, gem. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs wiederherzustellen, den der Antragsteller gegen die Verfügung des Landratsamts ... vom 27.8.1990 erhoben hat, durch die dem Antragsteller unter Anordnung des Sofortvollzugs die Fahrerlaubnis entzogen worden ist. Dem Antrag konnte allerdings nicht bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren, sondern lediglich bis zur Entscheidung über den Widerspruch entsprochen werden. Bis dahin überwiegt nach dem gegenwärtigen Sach- und Streitstand das private Interesse des Antragstellers, vorläufig weiterhin Kraftfahrzeuge führen zu dürfen, das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Fahrerlaubnisentzugs. Denn der auf Tatsachen gegründete dringende Verdacht, daß der Antragsteller zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht geeignet ist, ist nicht ausreichend belegt.

Gemäß § 4 Abs. 1 StVG muß die Verwaltungsbehörde einem Kraftfahrer, der sich zum Führen von Kraftfahrzeugen als ungeeignet erweist, die Fahrerlaubnis entziehen. Diese Vorschrift ist in § 15 b Abs. 1 StVZO dahin konkretisiert, daß u.a. ungeeignet ist, wer wegen körperlicher oder geistiger Mängel ein Kraftfahrzeug nicht sicher führen kann. Die Frage der Eignung ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Gesamtpersönlichkeit des Kraftfahrers zu beurteilen. Den Maßstab bildet die durch Tatsachen begründete Gefährlichkeit des Erlaubnisinhabers für den Straßenverkehr (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.3.1982, BVerwGE 65, 157; Urt. v. 20.2.1987, BVerwGE 77, 40).

Die in § 4 StVG vorausgesetzte Ungeeignetheit kann, wie auch ein Vergleich mit § 2 Abs. 1 Satz 1 StVG zeigt, nur angenommen werden, wenn erwiesene Tatsachen vorliegen, die mit ausreichender Sicherheit zu dieser Schlußfolgerung führen. Es ist Sache der Verwaltungsbehörde, den Nachweis der Tatsachen zu führen (vgl. § 24 Abs. 2 LVwVfG); der Betroffene ist allerdings verpflichtet, an diesem Nachweis persönlich -- insbesondere durch Vorlage eines Gutachtens nach § 15 b Abs. 2 StVZO -- mitzuwirken. In dem Ausmaß, in dem die Behörde eine Ermittlungspflicht hat, geht etwaige Beweislosigkeit auch zu ihren Lasten (vgl. die Beschlüsse des Senats vom 17.11.1987 -- 10 S 2363/87 -- und vom 21.2.1991 -- 10 S 335/91 --).

An den danach gebotenen umfassenden tatsächlichen Feststellungen des Landratsamts fehlt es bisher. Zwar konnte das Landratsamt auf der Grundlage der von ihm eingeholten amtsärztlichen Gutachten des Staatlichen Gesundheitsamts ... vom 1.6., 8.6., 30.7. u. 4.12.1990, die unter Zuhilfenahme eines Berichtes des Kreiskrankenhauses N vom 17.4.1990 erstellt wurden, davon ausgehen, daß der Antragsteller an einer insulinpflichtigen Zuckerkrankheit mit Neigung zu Unterzuckerung (Hypoglykämie) leidet. Aus dieser Feststellung kann aber entgegen der Ansicht des Antragsgegners bisher noch nicht mit hinreichender Sicherheit auf das Fehlen der Kraftfahreignung geschlossen werden. Wie aus dem in der verwaltungsgerichtlichen Praxis allgemein als Entscheidungshilfe anerkannten Gutachten "Krankheit und Kraftverkehr" des Gemeinsamen Beirats für Verkehrsmedizin beim Bundesminister für Verkehr und beim Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit (Heft 67 der Schriftenreihe des Bundesministers für Verkehr, Seite 26, 27) hervorgeht, gehört der Antragsteller nach der Eigenart seiner Erkrankung, die einer Behandlung durch Insulin bedarf, zur "Gefahrengruppe III" (vgl. S. 27, Spalte 1). Diabetiker dieser Gruppe sind zum Führen von Kraftfahrzeugen der Klassen 1, 3, 4 u. 5 geeignet, wenn sie die geforderten Bedingungen der Gruppe III, nämlich Diät, Insulinbehandlung, regelmäßige ärztliche Stoffwechselkontrollen und Selbstkontrollen, erfüllen und wenn bei ihnen davon auszugehen ist, daß sie sich den empfohlenen ärztlichen Behandlungsmaßnahmen gewissenhaft unterziehen (vgl. "Krankheit und Kraftverkehr", Seite 27 Spalte 1). Aus den vorliegenden Gutachten des Staatlichen Gesundheitsamts, die allein die Tatsache einer mit Insulin zu behandelnden Zuckerkrankheit belegen, ergeben sich dazu keine Feststellungen. Das Landratsamt hat sich vielmehr mit der bloßen Vermutung der Ungeeignetheit begnügt.

Die Ungeeignetheit des Antragstellers ergibt sich auch nicht aus den zusätzlichen Befunden, auf die das Gesundheitsamt sein abschließendes Gutachten vom 4.12.1990 gestützt hat, nämlich einem erhöhten Blutdruck, einem Fingerzittern, einem unsicheren Strichgang und einer allgemeinen Verlangsamung des Antragstellers. Diese Feststellungen mögen zwar auf ein schwerwiegendes Krankheitsbild hindeuten; sie tragen aber nichts zur Beantwortung der Frage bei, ob der Antragsteller den Anforderungen des Gutachtens "Krankheit und Kraftverkehr", die es an Personen, die der dort benannten Gefahrengruppe III zuzurechnen sind, zur Bejahung der Kraftfahreignung stellt, noch gerecht wird.

Der Sachverhalt erweist sich folglich als noch nicht hinreichend aufgeklärt, um von einem durch Tatsachen begründeten dringenden Verdacht der Ungeeignetheit ausgehen zu können. Bei der gegebenen Sachlage ist die Behörde gehalten, gemäß § 15 b Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StVZO wegen der vorhandenen berechtigten Zweifel an der Fahreignung vom Antragsteller die Beibringung eines fachärztlichen Gutachtens zu verlangen, das sich mit den wesentlichen Fragen im einzelnen auseinandersetzt. Insbesondere wird dieses Gutachten beantworten müssen, ob die Gefahr der Hypoglykämie durch eine ärztliche Behandlung zuverlässig beherrscht werden kann, ob einer der -- selteneren -- Fälle gegeben ist, bei denen sich die Bewußtseinsveränderungen so plötzlich und ohne wesentliche Vorzeichen einstellen, daß der Antragsteller keine Gegenmaßnahmen mehr ergreifen kann und ob gegebenenfalls davon ausgegangen werden kann, daß der Antragsteller sich den gebotenen ärztlichen Behandlungsmaßnahmen gewissenhaft unterzieht (vgl. S. 27 Spalte 1 des Gutachtens "Krankheit und Kraftverkehr").

Angesichts der offenen Sach- und Rechtslage überwiegt damit das Interesse des Antragstellers, bis zur vollständigen Aufklärung des Sachverhalts im Widerspruchsverfahren weiterhin ein Kraftfahrzeug führen zu dürfen, ein entgegenstehendes öffentliches Interesse.