VG Stuttgart, Beschluss vom 02.04.2012 - A 11 K 1039/12
Fundstelle
openJur 2013, 15107
  • Rkr:

1. Gegenwärtig ist davon auszugehen, dass systemische Mängel des Asylverfahrens für Asylbewerber in Ungarn vorliegen.

2. Ergeht gegenüber einem Asylbewerber nach einer Überstellung nach Ungarn ein Ausweisungsbescheid und wird er infolge dessen in Haft genommen, so drohen ihm in der Haft der Einsatz von Beruhigungsmitteln sowie Misshandlungen. Diese Maßnahmen stellen eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung dar (im Anschluss an VG Stuttgart, Beschluss vom 01.03.2012 - A 11 K 299/12-juris).

Tenor

Der Beschluss vom 01.03.2012 - A 11 K 299/12 - wird geändert.

Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Ausländerbehörde mitzuteilen, dass vorläufig die Überstellung des Antragstellers nach Ungarn auszusetzen ist.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Gründe

Der Antragsteller begehrt die Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 01.03.2012 (Az.: A 11 K 299/12).

§ 34 a Abs. 2 AsylVfG steht der Statthaftigkeit des vorliegenden Antrags nicht entgegen; auf die Ausführungen im Beschluss vom 01.03.2012 - A 11 K 299/12 - wird verwiesen.

Der Zulässigkeit des Antrags steht nicht entgegen, dass das Gericht im Beschluss vom 01.03.2012 einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt hat. Denn Beschlüsse nach § 123 Abs. 1 VwGO können in Analogie zu und unter der Voraussetzung des § 80 Abs. 7 VwGO geändert werden (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 17. Aufl., § 123 RdNr. 35).

Der somit in entsprechender Anwendung des § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO statthafte Antrag ist auch sonst zulässig. Der Antragsteller macht geltend, er habe von dem aktuellen Bericht von „Pro Asyl“ vom 15.03.2012 am Tag darauf Kenntnis erlangt. Diesem Bericht sei zu entnehmen, dass gravierende systemische Mängel im ungarischen Aufnahme- und Asylsystem vorhanden seien. Im Falle einer Überstellung nach Ungarn drohe ihm eine Unterbringung in einer Haftanstalt für die Dauer von einem Jahr. Dort würden die Betroffenen von ungarischen Polizeikräften regelmäßig misshandelt.

Dieses Vorbringen reicht für die Zulässigkeit eines Antrags entsprechend § 80 Abs. 7 VwGO aus.

Der Antrag ist auch begründet. Nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO entsprechend kann jeder Beteiligte die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen. Hierzu gehören eine Änderung der Sach- und Rechtslage sowie der Prozesslage oder das Bekanntwerden neuer Gesichtspunkte, die objektiv geeignet sind, die Erfolgsaussichten anders zu beurteilen, oder die eine neue Interessenabwägung erfordern.

Ein Anordnungsgrund liegt vor. Die Überstellung des Antragstellers nach Ungarn ist für den 03.04.2012 geplant.

Der Antragsteller hat nunmehr auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Die vom Antragsteller vorgetragenen Gründe rechtfertigen die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes.

Nach dem aktuellen Bericht von „Pro Asyl“ vom 15.03.2012 liegen systemische Mängel des Asylverfahrens für Asylbewerber in Ungarn vor. Nach diesem Bericht wird die Mehrheit der Asylsuchenden in Ungarn und der auf der Grundlage der Dublin II-Verordnung Überstellten in besonderen Haftzentren inhaftiert. De facto gebe es keine Möglichkeit, gegen die Inhaftierung ein effektives Rechtsmittel einzulegen. Nach dokumentierten Aussagen von inhaftierten Schutzsuchenden würden den Asylsuchenden in den Haftanstalten systematisch Medikamente oder Beruhigungsmittel verabreicht. Außerdem sei bei Befragungen der Inhaftierten durch den UNHCR festgestellt worden, dass Misshandlungen durch Polizeikräfte in den Hafteinrichtungen an der Tagesordnung seien.

Bei dieser dargelegten Sachlage besteht auch im Fall des Antragstellers die tatsächliche Gefahr, im Falle einer Überstellung nach Ungarn einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt zu werden. Denn gegen den Antragsteller wird - wie bereits im Beschluss vom 01.03.2012 ausgeführt - nach einer Überstellung nach Ungarn ein Ausweisungsbescheid ergehen und er wird infolge dessen in Haft genommen werden. In der Haft drohen ihm aber der Einsatz von Beruhigungsmitteln sowie Misshandlungen. Diese Maßnahmen stellen eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung dar.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylVfG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).