LSG Hamburg, Beschluss vom 16.04.2012 - L 3 R 19/12 B ER
Fundstelle
openJur 2013, 1983
  • Rkr:
Tenor

Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 30. Januar 2012 aufgehoben.

Der auf die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gerichtete Antrag wird abgelehnt.

Die Antragstellerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Der Wert des Streitgegenstandes wird – auch unter Abänderung der insoweit durch das Sozialgericht ergangenen Entscheidung – für beide Rechtszüge auf jeweils 80.322,97 € festgesetzt.

Gründe

Die statthafte und zulässige, insbesondere fristgerecht eingelegte Beschwerde (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz <SGG>) hat auch in der Sache Erfolg. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die aufschiebende Wirkung des Widerspruches der Antragstellerin gegen den nach § 28p Abs. 1 Satz 5 Sozialgesetzbuch Viertes Buch – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung – (SGB IV) ergangenen Prüfbescheid der Antragsgegnerin vom 15. Dezember 2011, durch welchen eine Nachforderung auf den Gesamtsozialversicherungsbeitrag sowie auf Umlagen in Höhe von 321.291,86 € festgesetzt wurde, in entsprechender Anwendung von § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG festgestellt. Dem Rechtsbehelf kommt aufschiebende Wirkung nicht zu.

Nach § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG haben Widerspruch und Anfechtungsklage bei der Entscheidung über Versicherungs-, Beitrags- und Umlagepflichten sowie der Anforderung von Beiträgen, Umlagen und sonstigen öffentlichen Abgaben – einschließlich der darauf entfallenden Nebenkosten – keine aufschiebende Wirkung. Diese durch das 6. SGG-Änderungsgesetz vom 17. August 2001 mit Wirkung vom 2. Januar 2002 eingeführte Regelung entspricht § 80 Abs. 2 Nr. 1 Verwaltungsgerichtsordnung und soll wie dort die Funktionsfähigkeit der Leistungsträger sichern, die – zumal bei einer Umlagefinanzierung ihrer Ausgaben – auf die rechtzeitige und vollständige Erhebung der Abgaben angewiesen sind. Die Vorschrift dokumentiert die durch den Gesetzgeber in Fällen von Abgabenbescheiden getroffene Grundentscheidung, dass dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit der Vorrang gebührt vor dem durch Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz aus Gründen effektiven Rechtsschutzes prinzipiell geschützten Interesse des Adressaten, von der Vollziehung des angefochtenen Bescheides bis zu dessen Bestandskraft verschont zu bleiben. Bescheide nach § 28p Abs. 1 Satz 5 SGB IV, mit denen die Träger der Rentenversicherung nach Durchführung einer Betriebsprüfung Nachforderungen auf den Gesamtsozialversicherungsbeitrag für Beschäftigte sowie auf Umlagen erheben, gehören zu den von § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG erfassten, sofort vollziehbaren Anforderungsbescheiden.

Aus dem bereits mit Wirkung vom 1. Januar 1999 durch das Gesetz zur Förderung der Selbständigkeit vom 20. Dezember 1999 (BGBl I 2000) in das SGB IV eingefügten § 7a Abs. 7 Satz 1 SGB IV ergibt sich nichts anderes. Nach dieser Vorschrift haben Widerspruch und Klage gegen eine Entscheidung, dass Beschäftigung vorliegt, aufschiebende Wirkung. Ihre Anwendbarkeit ist von ihrem Wortlaut und ihrem systematischen Zusammenhang her auf das Anfrageverfahren nach § 7a Abs. 1 SGB IV beschränkt, innerhalb dessen die Deutsche Rentenversicherung Bund auf Antrag der an einem Auftragsverhältnis beteiligten Personen oder der zuständigen Einzugsstelle entscheidet, ob eine Beschäftigung vorliegt. Um eine Entscheidung im Anfrageverfahren handelt es sich aber bei dem betroffenen Bescheid ersichtlich nicht. Unter Hinweis auf die Begründung zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der Selbständigkeit (BT-Drucks. 14/1855, Seite 8: "Die Vorschrift gilt nicht nur für Statusentscheidungen der <damaligen> Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, sondern auch für Statusentscheidungen der übrigen Sozialversicherungsträger außerhalb des Antragsverfahrens") wird allerdings vertreten, dass die Vorschrift auch außerhalb des Anfrageverfahrens und hier namentlich auf Statusentscheidungen der Rentenversicherungsträger im Rahmen von Betriebsprüfungen nach § 28p Abs. 1 Satz 5 SGB IV Anwendung findet (vgl. Senatsbeschl. vom 25. Oktober 2000 – L 3 B 80/00 ER; Hessisches Landessozialgericht, Beschl. vom 12. Januar 2005 – L 8 /14 KR 110/04 ER; SG Landshut, Beschl. vom 25. Mai 2010 – S 7 R 5024/10 ER; Keller in: Meyer-Ladewig, Keller, Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 86a Rn. 5, 13b). Diese Auslegung des § 7a Abs. 7 Satz 1 SGB IV verkennt zunächst Sinn und Zweck dieser Norm. Anfrageverfahren nach § 7a Abs. 1 SGB IV sind von einem vorausschauenden Charakter geprägt und deshalb in der Regel zu Beginn einer Tätigkeit eröffnet. Sie sollen nach der Gesetzesbegründung den gutgläubigen Beteiligten schützen (BT-Drucks 14/1855, Seite 6), der mit der Einleitung des Statusfeststellungsverfahrens bestehende Unsicherheiten beseitigen und Rechtssicherheit herbeiführen will. Die Bedeutung der von den Beteiligten ausgehenden Initiative zur Klärung des Status wird durch den Umstand bestätigt, dass § 7a Abs. 1 Satz 1, letzter Halbsatz SGB IV ein Anfrageverfahren ausschließt, wenn bereits eine Einzugsstelle oder ein anderer Versicherungsträger ein Verfahren zur Feststellung des Status, wie zum Beispiel im Rahmen einer Betriebsprüfung nach § 28p Abs. 1 SGB IV, eingeleitet hat. In solchen Fällen fehlt es an der eine beitragsrechtliche Honorierung rechtfertigenden Gutgläubigkeit des Beteiligten. Bei einem im Rahmen einer Betriebsprüfung nach § 28p Abs. 1 SGB IV durch den Rentenversicherungsträger festgestellten Verdacht auf Verletzung der Meldepflichten nach § 28a SGB IV ist für eine derartige beitragsrechtliche Honorierung des in der Regel zumindest fahrlässig handelnden Arbeitgebers daher schlechterdings kein Raum (wie hier: LSG Nordrhein-Westfalen, Beschl. vom 5. November 2008 – L 16 B 7/08 R ER; Bayerisches LSG, Beschl. vom 16. März 2010 – L 5 R 21/10 B ER sowie in Abweichung zur Vorauflage Keller in: Meyer-Ladewig, Keller, Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, § 86a Rn. 13b). Darüber hinaus hat der Gesetzgeber durch den § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG die Entscheidung für eine ausnahmslose sofortige Vollziehbarkeit von Entscheidungen über Versicherungs-, Beitrags- und Umlagepflichten sowie über die Anforderung von Beiträgen, Umlagen und sonstigen öffentlichen Abgaben in Kenntnis der zu § 7a Abs. 7 Satz 1 SGB IV vertretenen Auffassung getroffen und so die aus dem Gesetzeswortlaut des § 7a Abs. 7 Satz 1 SGB IV sich ergebende – enge – Auslegung der Vorschrift bestätigt. Soweit der beschließende Senat (vgl. Beschl. vom 25. Oktober 2000 – L 3 B 80/00 ER) hierzu in der Vergangenheit eine abweichende Auffassung vertreten hat, hält er hieran nach erneuter Überprüfung mit Blick auf Wortlaut und Systematik des Gesetzes nicht mehr fest.

Mit ihrem bereits beim Sozialgericht angebrachten Hilfsantrag, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Prüfbescheid anzuordnen, kann die Antragstellerin eben so wenig durchdringen. Nach § 86 a Abs. 3 Satz 1 SGG kann die Behörde die sofortige Vollziehung ganz oder teilweise aussetzen. Bei der Entscheidung über Versicherungs-, Beitrags- und Umlagepflichten sowie bei der Anforderung von Beiträgen, Umlagen und sonstigen öffentlichen Abgaben soll dies nach § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG nur dann geschehen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Diese Maßstäbe gelten in gleicher Weise für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage durch das Gericht nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG.

Nach dem Erkenntnisstand des vorliegenden Eilverfahrens und bei der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes regelmäßig und so auch hier nur gebotenen summarischen Überprüfung begegnet der angegriffene Bescheid keinen ernstlichen Zweifeln hinsichtlich seiner Rechtmäßigkeit. Dass die im Verfahren der Betriebsprüfung getroffenen Feststellungen rechnerisch unzutreffend sind, behauptet die Antragstellerin nicht. Hierfür ist nach Aktenlage auch nichts erkennbar. Zu Recht hat die Antragsgegnerin die Tätigkeit der betroffenen Reiseleiter und Busfahrer auch als abhängige Beschäftigung eingeordnet.

Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IV ist Beschäftigung im Sinne des § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB IV die nichtselbständige Arbeit insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB IV sind Anhaltspunkte für eine Beschäftigung eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, siehe etwa Urt. vom 28.05.2008 – B 12 KR 13/07 R) setzt danach eine Beschäftigung voraus, dass der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber persönlich abhängig ist. Bei einer Beschäftigung in einem fremden Betrieb ist dies der Fall, wenn der Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert ist und er dabei einem Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegt. Demgegenüber ist eine selbstständige Tätigkeit vornehmlich durch das eigene Unternehmerrisiko, das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet. Ob jemand abhängig Beschäftigter oder selbstständig tätig ist, hängt davon ab, welche Merkmale überwiegen. Maßgebend ist stets das gesamte Bild der Arbeitsleistung. Weichen die Vereinbarungen von den tatsächlichen Verhältnissen ab, geben letztere den Ausschlag. Dieser Rechtsprechung folgt der beschließende Senat in ebenfalls ständiger Rechtsprechung. Sie stimmt überein mit der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (vgl. Urt. v. 09.03.2005 – 5 AZR 493/04), wonach Arbeitnehmer ist, wer auf Grund eines privatrechtlichen Vertrages im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet ist und wonach sich die Eingliederung in die fremde Arbeitsorganisation insbesondere darin zeigt, dass der Beschäftigte einem Weisungsrecht seines Vertragspartners unterliegt, welches Inhalt, Durchführung, Zeit, Dauer und Ort der Tätigkeit betrifft und wonach für die Abgrenzung in erster Linie die tatsächlichen Umstände, unter denen die Dienstleistung zu erbringen ist, von Bedeutung sind und wonach schließlich eine Gesamtwürdigung aller maßgeblichen Umstände des Einzelfalles zu erfolgen hat.

Diese Gesamtwürdigung ergibt ein Überwiegen der auf eine abhängige Tätigkeit hindeutenden Umstände. Zwar spricht für eine selbständige Tätigkeit, dass Reiseleiter wie Busfahrer von Fall zu Fall geordert und dann kraft einzelvertraglicher Regelung beschäftigt wurden, dass sie ihre Leistungen wie Selbständige abrechneten und es ihnen freistand, auch für andere Auftraggeber tätig zu sein. Waren sie aber im Einzelfall für die Antragstellerin tätig, dann zeigte ihr Tätigwerden im Hinblick auf das völlige Fehlen eigener Betriebsmittel, vor allem aber im Hinblick auf die zeitliche Bindung ihrer Person durch feste Taktung der Fahrten nach einem Haltestellenplan sowie im Hinblick auf die Vorgaben zur inhaltlichen Ausgestaltung alle für eine vollständige Eingliederung in einen fremden Betrieb erforderlichen Merkmale. Ihre Tätigkeit unterschied sich nicht von derjenigen festangestellter Fahrer und Reiseleiter, nur dass sie eben nicht ständig beschäftigt wurden. Verbleibenden Zweifeln und Unklarheiten wäre im Verfahren der Hauptsache nachzugehen.

Die Vollstreckung aus dem angegriffenen Bescheid hätte für die Antragstellerin auch keine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge. Allein der Umstand, dass ein Beitragsschuldner der Vollstreckung ausgesetzt ist, erfüllt nicht die Voraussetzungen des § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG. Vielmehr hat der Gesetzgeber Härten, die sich aus der Vollstreckung von Abgabenbescheiden vor Eintritt der Bestandskraft ergeben, bewusst in Kauf genommen, indem er der vollständigen Abgabeerhebung den Vorrang einräumt und einstweiligen Rechtsschutz insoweit regelmäßig nur eingeschränkt zur Verfügung stellt. Es sind vorliegend auch weder Gründe dafür vorgetragen noch sonst ersichtlich, die ein Abweichen von dieser Regel geboten erscheinen lassen. Soweit die Antragstellerin eine wirtschaftliche Gefährdung ihres Betriebes geltend macht, ist sie gehalten, bei der Antragsgegnerin Stundung nach § 76 Abs. 2 Nr. 1 SGB IV beantragen. Die von der Antragsgegnerin zu treffende Entscheidung hätte auf etwaige Härten Rücksicht zu nehmen. Sie wäre ihrerseits gerichtlich überprüfbar.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197 a SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung.

Die Festsetzung des Streitwerts, die der Senat von Amts wegen auch auf die erstinstanzliche Festsetzung erstreckt (§ 63 Abs. 3 Gerichtskostengesetz <GKG>), beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 52 Abs. 1, 3 und § 53 Abs. 3 Nr. 4 GKG. Dabei war der mit dem Bescheid geforderte Betrag zur Grundlage der Wertfestsetzung zu machen und der Betrag war im Hinblick auf den vorläufigen Charakter der Entscheidung angemessen – auf ein Viertel – zu reduzieren.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).

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